Am 19. November wird jeweils der Internationale Männertag gefeiert. Die offiziellen Ziele sind es, auf Männer-Gesundheit zu fokussieren, die Gleichberechtigung der Geschlechter zu fördern und männliche Vorbilder hervorzuheben. Der Tag wurde kaum beachtet, weder von Medien noch anderen Organisationen, und das hat mich ins Grübeln gebracht.
Wieso setzen wir uns so wenig mit Männlichkeit auseinander? Wieso stört es uns nicht, dass die allgemein als erstrebenswert geltende Männlichkeit so eng gefasst ist? Wieso sprechen wir nicht mehr über die psychische Gesundheit von Männern? Und wieso sehen wir Männer nur in der Öffentlichkeit weinen, wenn es um Sport geht?
Weinen beschäftigt mich, besonders in Bezug auf Männlichkeit – weil das eigentlich ja nicht sein darf. Für mich ist glasklar: Weinen befreit, ist völlig normal, kann von verschiedenen Emotionen ausgelöst werden und gehört zum Alltag. Doch wie viele Männer können dasselbe sagen?
Eine kurze Umfrage bei den Männern in meinem Umfeld zeigt: Grundsätzlich finden sie auch, dass Weinen normal ist. Doch die innere Hemmung besteht. Wenn mal ein Kumpel weint, macht man sich zwar nicht darüber lustig, aber redet auch nicht darüber. Und sobald es raus aus ihrer bubble geht – zum Beispiel ins Militär – ist Weinen schnell mal verpönt, weiblich, unmännlich.
Lohnungleichheit, unbezahlte Care-Arbeit, sexualisierte Gewalt, aber auch der Kampf gegen toxische Maskulinität, die Abschaffung der Wehrpflicht und homosoziale Gewalt sind feministische Themen – und werden als „Frauensache“ abgestempelt. Dadurch werden diese Themen einerseits abgewertet, andererseits die Verantwortung für die Lösung dieser Probleme auf FINTA (Frauen, inter, non-binäre, trans und agender Personen) übertragen. Das ist nicht nur unlogisch, sondern auch unnütz: Die Ursache des Problems liegt nicht auf der Betroffenen‑, sondern auf der Täterseite. Es sind eben Männersachen. Deshalb müssen Männer als Teil der privilegierten Gruppe Verantwortung übernehmen und diese Probleme angehen.
Dass Jungs nicht weinen sollen, ist ein allgegenwärtiges Stereotyp. Ich habe es schon als Kind bei meinen männlichen Bezugspersonen gemerkt, ich habe es von Freunden erzählt bekommen und ich beobachte es nun bei meinen Neffen.
Einige von euch haben das schon als Kind explizit zu hören bekommen; ein „Muesch nöd brüele“, als ihr euch auf dem Spielplatz das Knie aufgeschürft habt. Anderen wurde mit „Riss di zäme“ zu verstehen gegeben, dass eure Tränen keinen Platz haben. Es kann sogar so subtil sein, dass ihr öfter ein Seufzen als eine mitfühlende Umarmung von euren Eltern bekommen habt, wenn ihr geweint habt. Oder dass ihr eure männlichen Vorbilder einfach nie weinen gesehen habt.
Und schon habt ihr verinnerlicht: Jungs weinen nicht.
Jungs und Männer haben stark zu sein, psychisch wie physisch. Schwach ist ein „richtiger Mann“ nie und falls doch, dann zeigt man das auf keinen Fall. Genau das wird immer öfter als „toxische Männlichkeit“ bezeichnet. Toxisch ist sie sowohl für euer Umfeld als auch für euch selbst. Und nein, Männer sind nicht toxisch. Aber diese Anforderungen, die an euch alle gestellt werden, sind es allemal.
Die Vorstellung davon, was ein Mann zu sein hat, negiert eine ganze Palette von Emotionen – nein, spricht sie Männern sogar ab und weist sie „den Frauen“ zu. Trauer, Verwirrung, Angst, aber auch Begeisterung, Liebe und Optimismus wird uns als inhärent weiblich verkauft. Dem Mann, der diese Emotionen zeigt, wird seine Männlichkeit abgesprochen. Und was könnte schlimmer sein als das?
Ich sag’s euch: Männer, die sich ihre Männlichkeit in diesem patriarchalen System vorschreiben lassen.
Männer profitieren zwar vom Patriarchat, aber werden genauso davon verarscht. Emotionen gehören zu keinem Geschlecht und können nicht frei ein- und ausgeschaltet werden. Wer das trotzdem versucht, schaltet fast alle aus. Was übrig bleibt, sind Wut und Aggression. Und viel Einsamkeit.
Wie schwierig muss es sein, sich selbst so zu kontrollieren, um dem Bild „Mann“ zu entsprechen? Wie schmerzhaft muss es sein, so hart zu werden?
Sehr. Statistisch als Männer erfasste Personen begehen in der Schweiz rund dreimal öfter Suizid als statistisch als Frauen erfasste Personen. Männer trinken mehr und riskanter Alkohol als Frauen. Und Männer gehen seltener in Therapie als Frauen.
Das sind schreckliche Zahlen, die uns aber nicht erstaunen sollten, wenn wir uns mit toxischer Männlichkeit auseinandersetzen. Was wir als Gesellschaft von Männern erwarten, ist weder verhältnismässig noch gesund. Und mit „wir“ meine ich wirklich wir alle – unabhängig vom Geschlecht –, die das nicht reflektiert haben.
Es ist also ein Leichtes, zu sagen: „Wein doch mal, es ist voll befreiend“. Und etwas ganz anderes, das tatsächlich zu tun, wenn man das noch nie schamfrei gemacht hat. Meine Tipps: Lest Bücher wie „Boys Don’t Cry“ von Jack Urwin, fragt eure Freunde, wie es ihnen wirklich geht (und hört dann auch zu), geht in Therapie, seid lieb zu euch selbst und denkt daran, dass auch Weinen Männersache ist.
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