Wenn die Polizei in die Unter­kunft kommt

Alle paar Wochen durch­sucht die Polizei im Rück­kehr­zen­trum Urdorf Bewohner bis auf die Unter­hose. Viele erhalten danach Straf­be­fehle wegen rechts­wid­rigen Aufent­halts und bis zu einem Jahr Haft. Unsere Recherche zeigt: Das Vorgehen hat Methode – funk­tio­niert aber nur, solange niemand hinsieht. 
Polizei-Razzien in Rückkehrzentren sind keine Seltenheit. (Illustration: Iris Weidmann)

Es ist halb acht Uhr morgens, als Youcef Messaoudi von der Polizei geweckt wird. Er liegt in seinem Bett im Rück­kehr­zen­trum für abge­wie­sene Asyl­su­chende in Urdorf. Um ihn herum stehen zehn Beamte. Er soll aufstehen und sich in den Gemein­schafts­raum begeben. Danach durch­sucht die Polizei alles. «Sie haben Schränke und Zimmer geöffnet und durch­sucht, auch uns – bis auf die Unter­hose.» Ob die Beamten bei der Durch­su­chung etwas straf­recht­lich Rele­vantes finden, ist nicht bekannt.

Die Polizei nimmt Youcef Messaoudi, der in Wirk­lich­keit anders heisst, und vier weitere Bewohner auf den Posten mit. Dort verbringt er eine Nacht und kommt am näch­sten Tag zurück ins Zentrum. Mit dabei: ein Straf­be­fehl wegen rechts­wid­rigen Aufent­halts. Die Strafe: 90 Tage unbe­dingter Freiheitsentzug.

Schuldig durch rechts­wid­rigen Aufenthalt

Das soge­nannte Rück­kehr­zen­trum (RKZ) Urdorf, wo Youcef Messaoudi unter­ge­bracht ist, gehört zu einem der fünf Rück­kehr­zen­tren im Kanton Zürich. Es handelt sich dabei um einen alten Zivil­schutz­bunker am Wald­rand von Urdorf, umgeben von einem Poli­zei­stütz­punkt, einer Auto­bahn, einem Schiess­platz und einer Weih­nachts­baum-Plan­tage. Die Wände des Bunkers sind aus Beton, gestri­chen in grellem Grün und Orange. Zehn bis 30 allein­ste­hende Männer, deren Asyl­ge­such abge­wiesen oder deren Aufent­halts­be­wil­li­gung entzogen wurde, sind hier auf unbe­stimmte Zeit untergebracht. 

Unsere Recherche zeigt: Solche Polizei-Razzien in Rück­kehr­zen­tren sind keine Seltenheit.

Viele Bewohner haben schwer­wie­gende Gründe, nicht frei­willig in ihr Herkunfts­land zurück­zu­kehren und die Schweiz kann sie durch fehlende Rück­über­nah­me­ab­kommen nicht gegen ihren Willen ausschaffen. Brum­mende Lüftungs­an­lagen rauben den Menschen im Bunker nachts den Schlaf, frische Luft bringen sie aber nicht. Je sechs Männer teilen sich ein kleines Zimmer. Privat­sphäre gibt es keine. 

Was alle Bewohner des RKZ Urdorf gemeinsam haben: Sie machen sich mit ihrer reinen Existenz in der Schweiz des rechts­wid­rigen Aufent­halts gemäss des Ausländer- und Inte­gra­ti­ons­ge­setz (AIG) schuldig. 

Doch um ihre Nothilfe von knapp elf Franken pro Tag zu erhalten, müssen sie zweimal pro Tag im Zentrum unter­schreiben – sind also gezwungen, sich perma­nent dort aufzuhalten. 

Wenn die Polizei für eine Perso­nen­kon­trolle oder eine Razzia das RKZ betritt, müsste ihnen also schon im Vorhinein klar sein, dass alle Anwe­senden gegen das AIG verstossen.

Mit dem Vorwurf konfron­tiert, antwortet die Kantons­po­lizei: Zu konkreten Fällen könnten sie keine Angaben machen. «Es kommt jedoch immer wieder vor, dass sich Personen in Rück­füh­rungs­zen­tren aufhalten, die dort nicht gemeldet sind und sich illegal in der Schweiz aufhalten.»

Syste­ma­ti­sche Polizei-Razzien?

Unsere Recherche zeigt: Solche Polizei-Razzien in Rück­kehr­zen­tren sind keine Selten­heit. Das Online­ma­gazin das Lamm und CORRECTIV.Schweiz sich­teten zahl­reiche Straf­be­fehle des letzten Jahres, die Zürcher Staats­an­walt­schaften den Bewoh­nern des Zentrums in Urdorf ausge­stellt hatten. Bei einem Gross­teil davon handelt es sich um Geld­strafen wegen rechts­wid­rigen Aufent­halts – ein Dauer­de­likt, mit einer Strafe bis zu einem Jahr Haft. 

Abge­wie­sene Asyl­su­chende werden in der Schweiz in Nothil­fe­un­ter­künften oder soge­nannten Rück­kehr­zen­tren unter­ge­bracht. Abge­legen und isoliert in Contai­nern, Zivil­schutz­bun­kern oder ehema­ligen Psych­ia­trien leben sie von acht bis elf Franken am Tag.

Laut Artikel 12 der Bundes­ver­fas­sung hat jede Person in Not Anspruch auf «Hilfe, Betreuung und die Mittel, die für ein menschen­wür­diges Dasein uner­läss­lich sind». Dieses Recht erhielt seine Bedeu­tung über­haupt erst, als man abge­wie­sene Asyl­su­chende 2008 von der regu­lären Sozi­al­hilfe ausschloss, die allen anderen Personen in der Schweiz eine Existenz­si­che­rung gewährleistet.

Was ein «menschen­wür­diges Dasein» beinhaltet, wurde somit anhand abge­wie­sener Asyl­su­chenden disku­tiert und umge­setzt. Da die Migra­ti­ons­be­hörden abge­wie­sene Asyl­su­chende zur Ausreise bewegen möchten, gewähren sie ihnen nur das abso­lute Minimum. So dient eine Verfas­sungs­regel, die geschaffen wurde, um Menschen vor einer abso­luten Notlage zu bewahren, gleich­zeitig der Durch­set­zung asyl­po­li­ti­scher Ziele.

Aus den vorlie­genden Straf­be­fehlen, Proto­kollen von frei­wil­ligen Besuchs­gruppen und Erzäh­lungen der Bewohner lässt sich eine Chro­no­logie der Razzien in den ersten sechs Monaten von 2025 ableiten: 

11. März 2025, ca. 7:30 Uhr

Zehn Polizist*innen betreten früh­mor­gens das RKZ Urdorf und durch­su­chen alle Zimmer. Youcef Messaoudi wird vom Einsatz geweckt. Die fesselt Polizei fünf Personen mit Hand­schellen und nimmt sie mit auf den Posten. Ein Bewohner erzählt, dass er aus Angst vor weiteren Über­fällen durch die Polizei unter schlaf­losen Nächten leidet.

Die fest­ge­nom­menen Bewohner bleiben einen Tag in Haft. Nach der Rück­kehr erhalten minde­stens zwei von ihnen einen Strafbefehl. 

Tatbe­stand: rechts­wid­riger Aufenthalt. 

Die Strafe: einmal 90 und einmal 30 Tage unbe­dingter Gefäng­nis­auf­ent­halt. Ein Tag wurde schon bei der Verhaf­tung abgesessen.

9. Mai 2025, 6:15 Uhr

Zwölf Polizist*innen betreten morgens um viertel nach sechs das Zentrum. Einige tragen Uniform, andere sind zivil gekleidet. Sie durch­su­chen alle Zimmer und Schränke, während die Bewohner im Aufent­halts­raum das Ende der Durch­su­chung abwarten müssen.

3. Juli 2025, 7:40 Uhr

Am Donnerstag Morgen kommt die Polizei in das RKZ Urdorf und nimmt acht Bewohner mit. Zwei der Bewohner kommen am Tag darauf zurück, der Rest bleibt länger in Haft.

Minde­stens zwei der fest­ge­nom­menen Bewohner erhalten kurz darauf einen Straf­be­fehl. Tatbe­stand: rechts­wid­riger Aufent­halt.

Strafe: 30 Tages­sätze zu je 30 Franken auf zwei Jahre Probe­zeit und 60 Tages­sätze zu je 30 Franken auf zwei Jahre Probe­zeit.

Wie oft und auf welcher Grund­lage die Polizei solche Razzien durch­führt, bleibt unge­wiss. Die Kantons­po­lizei Zürich schreibt auf Anfrage: «Wir führen keine Stati­stik darüber, wie oft solche Haus­durch­su­chungen und Kontrollen durch­ge­führt werden.» Über den detail­lierten Ablauf und die dafür einge­setzten Mitarbeiter*innen würden sie sich – wie üblich – aus poli­zei­tak­ti­schen Gründen nicht äussern.

Vor weiterem Aufent­halt abschrecken

Bewohner des RKZ Urdorfs hingegen berichten von regel­mäs­sigen Poli­zei­kon­trollen, so auch Haile Tekle: «Die Polizei ist eines der grössten Probleme, die wir haben. Manchmal kommen sie jeden Tag, manchmal nur jeden zweiten. Alle drei bis sechs Monate etwa kommt die Polizei mit einem grossen Aufgebot ins RKZ und durch­sucht alles. Selbst Poli­zei­hunde haben sie dabei. Ich weiss nicht, wieso sie das alles machen.»

Die Recher­chen von CORRECTIV.Schweiz und das Lamm doku­men­tieren im ersten Halb­jahr von 2025 insge­samt drei grös­sere Poli­zei­raz­zien und sieben Straf­be­fehle wegen rechts­wid­rigen Aufent­halts, die den Bewoh­nern des RKZ Urdorf ausge­stellt wurden. Die Geld­strafen dieser sieben Straf­be­fehle betragen zusam­men­ge­rechnet 4’600 Franken, wobei 2’700 Franken Geld­strafe auf Probe­zeit von zwei Jahren ausge­stellt wurden. Dazu kommen 120 Tage unbe­dingte Frei­heits­strafe und Verfah­rens­ko­sten allein für die Vorver­fahren in der Höhe von 5’800 Franken.

CORRECTIV.Schweiz ist ein gemein­nüt­ziges Recher­che­zen­trum mit Sitz in Bern. Es recher­chiert gemeinsam mit der Bevöl­ke­rung und deckt alleine oder gemeinsam mit Partner*innen gesell­schaft­liche Miss­stände auf. Dabei werden inno­va­tive Wege und Methoden genutzt, wie etwa der selbst entwickelte Crowd Newsroom.

Aus den Straf­be­fehlen einiger Bewohner lässt sich auch heraus­lesen, dass es sich beim Vorgehen der Polizei explizit um eine Abschreckungs­stra­tegie vor einem weiteren Aufent­halt in der Schweiz handelt. So schreibt die Staats­an­walt­schaft Zürich-Sihl im Straf­be­fehl von Youcef Messaoudi: «Anstatt auf eine Geld­strafe könne auf eine Frei­heits­strafe erkannt werden, wenn eine solche geboten erscheint, um den Täter von der Bege­hung weiterer Verbre­chen oder Vergehen abzuhalten.»

Weiter heisst es von der Staats­an­walt­schaft: «Aufgrund des Verschul­dens von Youcef Messaoudi, seines Vorle­bens und seiner persön­li­chen Verhält­nisse muss davon ausge­gangen werden, dass das Ausspre­chen einer Geld­strafe keine ausrei­chende abschreckende Wirkung zeitigen würde, um Youcef Messaoudi von der Bege­hung weiterer Delikte abzu­halten. Im Sinne von Art. 41 Abs. 1 lit. a StGB ist deshalb eine Frei­heits­strafe von 90 Tagen auszusprechen.»

Diese Straf­be­fehle sind von Seiten der Polizei und Staats­an­walt­schaft schnell ausge­stellt. Das ist ihnen auch anzu­merken: Mal wird das Rück­kehr­zen­trum in Urdorf als «Pfle­ge­heim Urdorf» bezeichnet, mal als «Durch­gangs­zen­trum Hammer­mühle», mal als «Unter­kunfts­heim», mal als «Flücht­lings­heim», mal wird es «Bundes­asyl­zen­trum Embrach» genannt. Nur die Adresse ist immer die gleiche: Werk­hof­strasse 337, 8902 Urdorf.

Während Straf­be­fehle für die Justiz vor allem einen admi­ni­stra­tiven Aufwand bedeuten, wirken sie sich stark auf den Alltag der Bewohner des RKZ Urdorf aus. Entweder pendeln sie zwischen dem RKZ Urdorf und dem Gefängnis, oder sie müssen mit den knapp elf Franken Nothilfe am Tag die verord­nete Geld­strafe abzahlen. Zum Leben bleibt fast nichts.

Zehn Tage Beschwerdefrist

Nur eine Rechts­ver­tre­tung könnte eine Strafe abwenden, doch dafür muss eine frist­ge­rechte Einsprache erhoben werden. Gegen die Straf­be­fehle gilt eine Einspra­che­frist von zehn Tagen. Anrecht auf eine amtliche Rechts­ver­tre­tung haben die Betrof­fenen aber erst, wenn sie mittellos sind und die zu erwar­tende Strafe mehr als vier Monate beträgt. In den meisten vorlie­genden Straf­be­fehlen fallen die Strafen knapp darunter aus. Es können auch Ausnahmen gewährt werden, doch dazu kommt es in den meisten Fällen erst gar nicht.

Bewoh­nende von Rück­kehr­zen­tren haben oft wenig Kontakt zu Leuten, die sie um Rat fragen könnten – oder die sie eben recht­lich vertreten. 

So verstrei­chen die zehn Tage Beschwer­de­frist in den meisten Fällen und die Strafe tritt ein, ohne dass vorher nochmal geprüft werden konnte, ob diese rech­tens ist. Weil die Betrof­fenen kein Geld haben, um die Geld­strafe zu bezahlen, wird diese meist in eine Ersatz­frei­heits­strafe umge­wan­delt. Auch wenn die Staats­an­walt­schaften den abge­wie­senen Asyl­su­chenden nur Geld­strafen erteilen, folgt für die Betrof­fenen nichts­de­sto­trotz ein Gefängnisaufenthalt.

In der Schweiz werden 91 Prozent der Verbre­chen und Vergehen durch Straf­be­fehle verur­teilt. Nur neun Prozent werden somit an einem Gericht verhan­delt. Das Straf­be­fehls­ver­fahren sollte gesetz­lich gere­gelt nur in Fällen leich­terer Krimi­na­lität zur Anwen­dung kommen. Doch quan­ti­tativ betrachtet ist das Straf­be­fehls­ver­fahren in der Schweiz die Regel, das Normal­ver­fahren stellt die Ausnahme dar.

Das Straf­be­fehls­ver­fahren, das einge­führt wurde, um die Verfahren zu beschleu­nigen und die Gerichte zu entla­sten, basiert auf dem Konzept eines Straf­vor­schlags. Die Unter­su­chungs- oder Ankla­ge­be­hörde macht mit dem Ausstellen eines Straf­be­fehls eine «Bestra­fungs­of­ferte». Diese Offerte nimmt die beschul­digte Person jedoch auto­ma­tisch an, wenn sie keine Einsprache gegen den Straf­be­fehl einreicht. Nur wenn die beschul­digte Person inner­halb der Frist von zehn Tagen eine Einsprache einreicht, wird das Straf­mass verhan­delt und kann vor Gericht. In der Praxis wird in nur zwölf Prozent der Fällen eine Einsprache gegen einen Straf­be­fehl eingereicht.

Die ausge­stellten Straf­be­fehle sind die Folge der regel­mäs­sigen Kontrollen und Razzien, die die Polizei im Zentrum durch­führt. Unsere Recherche zeigt: Bei einer Prüfung der Straf­be­fehle stellt sich in vielen Fällen heraus, dass die Polizei über keine recht­liche Grund­lage verfügte, eine Razzia im Zentrum durchzuführen. 

Unzu­läs­sige Polizeikontrollen

Der Zürcher Anwalt Adam Arend über­nimmt regel­mässig Vertei­di­gungen bei migra­ti­ons­straf­recht­li­chen Delikten. Er sagt: «Aus meiner Erfah­rung werden viele Verfahren einge­stellt, enden mit einem Frei­spruch oder es kommt wenig­stens zu einer beträcht­li­chen Reduk­tion der Sank­tion, sobald eine Rechts­ver­tre­tung den Fall über­nimmt». In einem seiner aktu­ellen Fälle ist ein Grund für die Frei­spre­chung eines Betrof­fenen ein fehlender Durch­su­chungs­be­fehl von Seiten der Polizei. 

Auch im Fall von Youcef Messaoudi begründet der Anwalt das in seiner Eingabe ans Gericht folgen­der­massen: Die Poli­zei­kon­trolle, die zum vorlie­genden Straf­ver­fahren wegen wider­recht­li­chem Aufent­halt führte, sei offen­sicht­lich rechtswidrig.

Es stellt sich die Frage, wie oft die Betrof­fenen eine Strafe hätten absitzen müssen, wenn sie recht­lich vertreten worden wären. 

So könne den Verfah­rens­akten kein straf­pro­zes­sualer oder poli­zei­recht­li­cher Grund für die Kontrolle entnommen werden. «Mein Klient wurde bei seiner Verhaf­tung am 11. März 2025 um 07:40 Uhr in seinem Schlaf­zimmer von der Polizei aus dem Schlaf gerissen und kontrol­liert.» Es habe weder ein konkreter Anfangs­ver­dacht gegen ihn, noch ein Haus­durch­su­chungs­be­fehl vorge­legen. «Auch gibt es keine poli­zei­recht­li­chen Gründe, welche die Kontrolle im Schlaf­zimmer von meinem Klienten recht­fer­tigen könnten.»

Bereits im Oktober 2023 kam das Bezirks­ge­richt Bülach zum Schluss, dass eine Poli­zei­kon­trolle in einem Rück­kehr­zen­trum unzu­lässig war – eine Einschät­zung, die Adam Arend teilt. «Diese recht­li­chen Über­le­gungen müssen auch im vorlie­genden Fall greifen, weshalb die Poli­zei­kon­trolle zu Beginn des vorlie­genden Verfah­rens und sämt­liche daraus abge­lei­teten Folge­be­weise als rechts­widrig erlangt und unver­wertbar anzu­sehen sind.» 

Eine Anfrage zum Fall bei der Ober­staats­an­walt­schaft Zürich ergibt, dass dieser mitt­ler­weile am Bezirks­ge­richt  Dietikon hängig ist. Die Staats­an­walt­schaft kann aus diesem Grund keine Aussage machen.

Doch es gibt auch noch andere Gründe, wieso es nicht geht, abge­wie­sene asyl­su­chende Personen wegen wider­recht­li­chem Aufent­halt zu verhaften, zu verur­teilen oder zu bestrafen. 

Adam Arend schreibt in seiner Eingabe, dass nach stän­diger Recht­spre­chung des Bundes­ge­richts sowie des Zürcher Ober­ge­richts gilt: Eine Verur­tei­lung wegen rechts­wid­rigem Aufent­halt komme nur dann in Betracht, wenn die Migra­ti­ons­be­hörden zuvor alle verfüg­baren Mittel einge­setzt haben, um die Wegwei­sung auf dem verwal­tungs­recht­li­chen Weg durch­zu­setzen – einschliess­lich Zwangs­mass­nahmen wie Durch­set­zungs­haft, die für den Vollzug der Ausschaf­fung ange­ordnet wird. Unter­lassen sie dies, ist ein Straf­ver­fahren einzustellen. 

Weiter verweist er auf ein früheres Urteil, in dem die Migra­ti­ons­be­hörden keine Durch­set­zungs­haft ange­ordnet und damit nicht alle zumut­baren Schritte unter­nommen haben, um die Rück­kehr zu erzwingen. Die Rück­füh­rungs­richt­linie hätte daher eine Anklage wegen rechts­wid­rigen Aufent­halts von Anfang an ausge­schlossen und das Straf­ver­fahren hätte einge­stellt werden müssen.

Aufgrund dieser Präze­denz­fälle stellt sich die Frage, wie oft die Betrof­fenen eine Strafe hätten absitzen müssen, wenn sie recht­lich vertreten worden wären. 

Jähr­lich tausende Strafbefehle

Trotzdem stellen Schweizer Justiz­be­hörden jähr­lich tausende Straf­be­fehle wegen rechts­wid­rigen Aufent­halts aus. Die Schweizer Krimi­nal­sta­ti­stik zeigt: Allein im Jahr 2024 gab es 17’393 Verur­tei­lungen aufgrund des Ausländer- und Inte­gra­ti­ons­ge­setzes (AIG), 16’115 betreffen auslän­di­sche Staats­an­ge­hö­rige ohne Ausweis B, C oder Ci, davon sind 10’351 Verur­tei­lungen wegen rechts­wid­rigem Aufent­halt in der Schweiz.

Von allen Vergehen und Verbre­chen von Personen ohne gesi­cherten Aufent­halt machen die Verur­tei­lungen wegen wider­recht­li­chen Aufent­halts fast 28 Prozent aus. 

Dass die betrof­fenen Personen in dieser Recherche in den meisten Fällen keine Rechts­ver­tre­tung erhielten, dafür sorgt auch das Straf­be­fehls­ver­fahren. Marc Thommen leitet den Lehr­stuhl für Straf­recht und Straf­pro­zess­recht der Univer­sität Zürich. Er hat jahre­lang zum Straf­be­fehls­ver­fahren geforscht und 10’000 Straf­be­fehle ausgewertet. 

Eigent­lich gäbe es in Straf­be­fehls­ver­fahren klare Rechte für die beschul­digte Person. Diese, so stellte er in seiner Unter­su­chung fest, würden jedoch oft miss­achtet, wie zum Beispiel das Recht auf eine Einver­nahme. Zwei Drittel der Personen wurden von der Polizei befragt, acht Prozent durch die Staats­an­walt­schaft und bei einem Viertel fand über­haupt keine Einver­nahme statt.

«Ich gehe davon aus, dass in vielen Fällen die Einver­nahme, wenn sie denn über­haupt statt­findet, den Voraus­set­zungen nicht entspricht, indem beispiels­weise keine Über­set­zung vorhanden ist.» So hätten gemäss Thom­mens Studie vier von fünf Personen, die auf eine Über­set­zung ange­wiesen wären, keine erhalten.

Wenn die Betrof­fenen nicht verstehen, wofür sie ange­klagt sind, können sie auch nicht verstehen, was ihre Rechte sind. 

Reine Schi­kane

«Meine persön­liche Meinung ist, dass auf die ganzen migra­ti­ons­po­li­ti­schen Straf­tat­be­stände problemlos verzichtet werden könnte», meint der Jurist Thommen. Die straf­recht­liche Verfol­gung sei eine reine Schi­kane für die Betrof­fenen. «Verwal­tungs­recht­lich machen die Migra­ti­ons­ämter ihnen schon genug Sorgen, es muss nicht auch noch das Straf­recht gegen sie ange­wendet werden.»

Die Staats­an­walt­schaften verhängen Gefängnis- und hohe Geld­strafen, in der Hoff­nung, abge­wie­sene Asyl­su­chende von einem weiteren Aufent­halt in der Schweiz abzu­schrecken. Doch ein drei­mo­na­tiger Gefäng­nis­auf­ent­halt wird Youcef Messaoudi kaum dazu bringen, frei­willig in sein Herkunfts­land zurückzukehren.

Die ausar­tende Repres­sion gegen abge­wie­sene Asyl­su­chende bleibt ohne nach­weis­bare Wirkung, während die staat­li­chen Kosten für die Verfol­gung in die Höhe schnellen.

Dieser Artikel ist Teil einer drei­tei­ligen Serie zum Thema «Zwischen Gefängnis und Nothilfe – Razzien und Straf­be­fehls­flut in Zürcher Rück­kehr­zen­tren» von Correctiv Schweiz und dem Online­ma­gazin das Lamm. Die Serie beschäf­tigt sich mit dem Umgang der Justiz mit abge­wie­senen asyl­su­chenden Personen und den frag­wür­digen und oft auch rechts­wid­rigen Methoden, die sie anwendet, um die Betrof­fenen aus dem Land zu bringen.

Im zweiten Teil unserer Recherche decken wir eine rechts­wid­rige Praxis der Zürcher Staats­an­walt­schaften auf: zu hohe Geld­strafen für Nothil­fe­be­zie­hende. Dahinter stehen obskure interne Weisungen, von denen offi­ziell niemand etwas wissen will – und eine Ober­staats­an­walt­schaft, die die Vorwürfe leugnet.


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