„Es wär es Buebli gsi“, sagte die Hebamme nach der Geburt zu meinen Grosseltern Lydia und Hans Frauchiger: „Wollt ihr eine Nottaufe?“ Mein Onkel Christian ist im Februar 1961 im Spital Langenthal als Frühchen zur Welt gekommen, drei Monate vor dem erwarteten Geburtstermin. Sein Gewicht betrug nur gerade 1’200 Gramm – was damals einem Todesurteil gleichkam.
Doch meine Grosseltern gaben so schnell nicht auf. Sie liessen sich von ihrer Vermieterin – sie selbst besassen kein Auto – ins Kinderspital Elfenau in Bern fahren. Weil der Brutkasten nicht in das Auto passte, wickelte eine Kinderpflegerin das Neugeborene ein und legte es in einen Korb. Christian verbrachte die nächsten drei Monate am Sauerstoffschlauch hinter Glasscheiben. Er überlebte.
Im Gespräch erzählte mir mein Grossvater Hans, dass sie in diesen ersten Monaten von Christians Leben nicht nur Angst hatten um ihr frühgeborenes Kind, sondern auch finanzielle Sorgen. „Das Kinderspital schickte uns monatliche Rechnungen, die meinen Monatslohn weit überstiegen“, erzählt er. Hans arbeitete als Stationsvorstand bei der Emmental-Burgdorf-Thun Bahn (EBT), Grossmutter passte zu Hause bereits auf zwei Kinder auf. Die Spitalkosten waren für die Arbeiter*innenfamilie nicht tragbar.
Hans erkundigte sich bei einem Schulkollegen, der bei der Ersparniskasse Langenthal arbeitete, über eine Kreditaufnahme. Als jedoch der Direktor der EBT von der Sache erfuhr, bot er an, die Spitalkosten zu übernehmen. Mein Grossvater sollte die Schulden später in Form von Lohnabzügen à monatlich 50 Franken zurückzahlen. Er erinnert sich: „Mir war unwohl bei der Vorstellung, mich verschulden zu müssen“.
Doch plötzlich wendete sich das Blatt: Bei einem Spitalbesuch informierte eine Pflegerin Hans und Lydia, sie habe Christian bei der neuen Invalidenversicherung angemeldet. Und tatsächlich: Aufgrund des derart tiefen Geburtsgewichts übernahm die IV die gesamten Spitalkosten für das frühgeborene Kind. Meine Grosseltern waren erleichtert.
Der steinige Weg zur IV
Das Gesetz über die Invalidenversicherung (IVG) war 1960 in Kraft getreten. 1961 war erst das zweite Jahr, in dem die Pflegefachpersonen im Spital Elfenau überhaupt die Möglichkeit hatten, Menschen wie meinen frühgeborenen Onkel bei der neuen Sozialversicherung anzumelden.
Dass die Invalidenversicherung überhaupt zustande kam, war alles andere als selbstverständlich. Nach dem Generalstreik von 1918 versprachen die Bürgerlichen zwar die Schaffung einer Alters‑, Hinterbliebenen- und Invaliditätsversicherung – sie schienen damals durch den Druck der Strasse zu Zugeständnissen an die arbeitende Bevölkerung gezwungen. Doch der Bundesrat beschloss, die AHV zu priorisieren und eine IV erst zu einem späteren Zeitpunkt einzurichten.
Dreissig Jahre später, nachdem die AHV im Jahr 1947 eingeführt wurde, kam das Thema wieder aufs politische Parkett. Doch auch die parlamentarischen Vorstösse aus dem linken Lager Anfang der 1950er-Jahre konnten den Bundesrat nicht zum Ausarbeiten der IV bewegen. Erst als die Partei der Arbeit (PdA) und parallel dazu auch die SP ihre Initiativen für eine IV lancierten, sah sich der Bundesrat zum Handeln gezwungen: Im Herbst 1955 setzte er eine Expert*innenkommission ein, die ein Invalidenversicherungsgesetz ausarbeitete. Er wollte den linken Initiativen zuvorkommen und ihnen ein Projekt mit tieferen Leistungen entgegenstellen. Drei Jahre später verabschiedete der Bundesrat die Botschaft über das IVG. SP und PdA zogen ihre Initiativen zurück.
Dass der Gesetzgebungsprozess für die Invalidenversicherung letzten Endes so rasch ablief, war ein grosses Glück für all diejenigen Menschen mit Behinderung, die sich ab 1960 bei der Sozialversicherung anmelden konnten. Auch für meine Grosseltern. „Über den Segen der IV“ schrieb mein Grossvater in den Betreff der E‑Mail, in der er mir nach unserem Gespräch weitere Details über Onkel Christians Geburt schickte.
Oberstes Ziel: „Eingliederung vor Rente“
Das zentrale Element der neuen Sozialversicherung war, dass die Expert*innenkommission die Rentenleistungen mit beruflichen Eingliederungsmassnahmen kombinierte. So konnten die bürgerlichen Kräfte, die zu hohe Kosten fürchteten, überzeugt werden. Die Arbeitsintegration wurde zum Kernstück der IV und die Devise „Eingliederung vor Rente“ zum obersten Leitsatz: Nur wer nach einer Berufsberatung nicht ins Erwerbsleben findet, hat Anrecht auf eine IV-Rente.
Invalidität ist noch heute im Schweizer Gesetz wirtschaftlich definiert – als die „durch einen körperlichen oder geistigen Gesundheitsschaden als Folge von Geburtsgebrechen, Krankheit oder Unfall verursachte Erwerbsunfähigkeit“. Der Invaliditätsbegriff ist eng verknüpft mit der Erwerbsarbeit: Als Mensch mit Behinderung gilt, wer nicht arbeiten kann – die Diagnose und das Leiden der Einzelnen ist zweitrangig. In der Erwerbswelt sind diese Menschen „wertlos“ – dies die wörtliche Bedeutung von „invalid“ im Lateinischen.
Wir suchen neue Beiträge für Geschichte Heute
In dieser monatlich erscheinenden Artikelserie beleuchten Expert*innen vergangene Ereignisse und wie sie unsere Gesellschaft bis heute prägen.
Befasst auch du dich intensiv mit einem geschichtlichen Thema, das für das Lamm interessant sein könnte? Und möchtest du dieses einem breiten Publikum zugänglich machen und damit zu einem besseren Verständnis des aktuellen Zeitgeschehens beitragen?
Dann melde dich mit einem Artikelvorschlag bei: geschichte.heute@daslamm.ch.
Dass sich die Gesetzgeber*innen nach dem langen Ringen um eine IV schliesslich rasch einigten, war nur möglich, weil die Politik in der wirtschaftlichen Hochkonjunktur der Nachkriegszeit nach Lösungen für den Arbeitskräftemangel suchte: Für kurze Zeit kam es zu einem „Eingliederungsboom“, während dem besonders Industrieunternehmen aktiv Menschen mit Behinderung anwarben. In dieser Zeit lag es fern, Menschen mit Behinderung des Missbrauchs von Sozialleistungen zu beschuldigen.
In den Wirtschaftskrisen der 1970er- und 1990er-Jahre zeigte sich allerdings, dass die Unternehmen und die IV-Stellen dem Grundsatz „Eingliederung vor Rente“ nicht mehr gerecht werden konnten. In dieser Zeit stieg die Zahl der Neurentner*innen stark an und die IV wurde zum finanziellen Sorgenkind unter den schweizerischen Sozialversicherungen. Die Wirtschaftskrise selbst war ausschlaggebend: Es wurden Stellen abgebaut und der zunehmende Leistungsdruck trieb Arbeitnehmende in die Krankheit. Ohnehin entliessen Unternehmen im Zuge der Entlassungspolitik zuerst marginalisierte Arbeitskräfte, also auch Menschen mit Behinderung, die in der Folge IV-Renten beantragten.
SVP-Kampagne gegen „Scheininvalide“
Die Wirtschaftskrise bot allerdings auch eine Gelegenheit für politische Taktiken: Die SVP nutze sie, um sich für einen Leistungsabbau in den Sozialwerken stark zu machen. Denkt man heute an IV-Bezüger*innen, dann kaum an Frühgeborene, sondern eher an „Scheininvalide“ – ein Begriff, den die SVP 2003 erstmals verwendete.
Missbrauchsvorwürfe hatte es schon zuvor gegeben, allerdings an andere Adressat*innen. In der Wirtschaftskrise der 1990er-Jahre wurde das Argument auch von politischen Kräften der Mitte übernommen. Medien wie der Tages-Anzeiger und die NZZ warfen den Unternehmen vor, sie würden schwächere und ältere Arbeitnehmende in die IV „abschieben“, statt ihnen zu kündigen. Den behandelnden Ärzt*innen der Betroffenen warfen die SVP, aber auch die CVP, schon seit den 1970er-Jahren vor, willentlich „Gefälligkeitsgutachten“ auszustellen.
Kritik übten Politiker*innen und Medien auch an der Arbeitslosenversicherung sowie der Sozialhilfe: Den beiden Versicherungszweigen wurde vorgehalten, sie wollten Betroffene der IV übergeben, um die eigenen Kosten zu senken. FDP-Nationalrat Marc Suter warnte 1998: „Die Invalidenversicherung darf nicht zu einem Auffangbecken für ausgesteuerte Langzeitarbeitslose werden“.
Der mediale Ton wurde nur selten leicht vorwurfsvoll gegen IV-Rentner*innen. „Die Leute fragen bei Beratungsstellen immer wieder an, wie viel sie noch verdienen dürfen“, berichtete der Tages-Anzeiger etwa – weil eine Lohnerhöhung dazu führen kann, dass die IV-Rente gekürzt wird.
Erst der Juni 2003 markierte eine Zäsur in der Berichterstattung und der Missbrauchsdiskussion um die IV: Die SVP lancierte den „wachsenden Missbrauch“ in der IV als Hauptthema für den nationalen Wahlkampf. Ziel der Volkspartei war daher ein drastischer Kampf gegen Missbräuche, um Kosten zu senken. Bereits am 13. Juni sagte Christoph Blocher in einem Interview im Tages-Anzeiger: „[W]enn Sie einmal einen Beinbruch hatten und ein paar Wochen an Krücken gingen, wird das arbeitsfreie Leben plötzlich interessant“, und sprach von „Simulanten“ und „Scheininvaliden“. In der Direktheit, in der die SVP die Beteiligten am IV-Verfahren des Missbrauchs beschuldigte, brach die Partei ein Tabu. Die SVP forderte, Betrüger*innen müssten strafrechtlich geahndet werden.
Dass die steigenden Kosten vor allem durch die Zunahme an psychischen Krankheiten verursacht wurden, spielte der SVP in die Hand: Unsichtbare Krankheiten konnten sie einfacher anzweifeln. SVP-Nationalrat Toni Bortoluzzi etwa machte psychisch Kranke zur Zielscheibe des Missbrauchsvorwurfs: Eine „Palette frischer Krankheitsbilder“ schaffe eine Unmenge neuer Patient*innen, die sich invalid schreiben liessen, sagte er in der NZZ.
Ausserdem säten Vertreter der SVP den Gedanken, Invalidität sei reversibel: Sie forderte mehr Eigenverantwortung und bemängelte eine wachsende „Anspruchsmentalität“ gegenüber der IV. Mit Erfolg: BSV-Vizedirektorin Béatrice Breitenmoser kündigte Anfang Juni 2003 an, man wolle arbeitsfähige IV-Rentner*innen künftig verpflichten, angebotene Arbeit anzunehmen: „Die IV wird unbequemer werden“. Die Revisionen der 2000er-Jahre fokussierten auf regelmässige Kontrollen und die „Aktivierung“ von IV-Rentner*innen.
Es gelang der Volkspartei, den „Scheininvaliden“ – einen Begriff, den sie von der konservativen österreichischen Volkspartei entlehnt hatte – im öffentlichen Diskurs festzusetzen: Medienleute und Politiker*innen anderer Parteien waren gleichsam gezwungen, den Begriff zu verwenden. Durch Behaupten und Unterstellen wurde so ein Wertewandel herbeigeführt. Denn sollte der IV je die Idee des bedingungslosen Rechts von Menschen mit Beeinträchtigung zugrunde gelegen haben, verschwand dieser Gedanke nun immer mehr. Zunehmend mussten Bezüger*innen sich rechtfertigen und sich ihren Anspruch „verdienen“.
Missbrauch ist ein Scheinproblem
Die IV schrieb Ende der 1990er tatsächlich rote Zahlen: Das Defizit stieg bis 1997 auf knapp 2.2 Milliarden, 2003 auf rund 4.5 Milliarden. Die Ausgaben wuchsen von 1993 bis 2003 von knapp 6 auf 10.6 Milliarden. Doch während die NZZ von „explodierenden Ausgaben“ und einer „finanziellen Talfahrt“ der IV sprach, mahnte SP-Bundesrätin Ruth Dreifuss, die finanziellen Schwierigkeiten der IV seien kein Grund, Leistungen abzubauen. Es ging um vergleichsweise geringe Beträge, denn im Verhältnis zu denjenigen der AHV betrugen die IV-Ausgaben von 1996 bis 2003 nur rund 30 Prozent.
Und dass die Kosten stiegen, lag an der Zunahme von Neurentner*innen – nicht am Missbrauch: Eine Studie, die das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) 2006 in Auftrag gegeben hatte, schätzte den Missbrauch in der IV auf fünf bis sechs Prozent der Rentenzahlungen, was 2.6 bis 3.5 Prozent der gesamten jährlichen IV-Ausgaben entsprach. Die Autor*innen verwendeten allerdings nicht den Begriff „Missbrauch“, sondern sprachen von „nicht zielkonformen Leistungen“: Dazu zählt beispielsweise auch, wenn die IV-Institutionen die Arbeitsunfähigkeit von Bezüger*innen falsch einschätzen oder Menschen IV bezogen, die nicht invalid waren, aber Anrecht auf andere sozialstaatliche Leistungen gehabt hätten. Vorsätzlicher Betrug hingegen mache davon nur einen Bruchteil aus.
Trotzdem hatte die SVP den Diskurs erfolgreich verschoben: Seit 2010 veröffentlicht das BSV jährliche Missbrauchsstatistiken. Und seit drei Jahrzehnten präsentieren die Medien Geschichten von Menschen, die sich IV-Rentenleistungen erschleichen wollen und erklären sich damit die Krise der IV.
Aus historischer Perspektive hätten die finanziellen Schwierigkeiten der IV in den 1990er-Jahren aber so überraschend nicht sein sollen. Die blühende Wirtschaftslage vor der Gründung der IV konnte kaum den Eindruck langfristiger Stabilität erweckt haben. Die Expert*innenkommission schuf bewusst eine finanziell schwache Invalidenversicherung. Dass Unternehmen in wirtschaftlichen Krisenzeiten keine Menschen mit Behinderung mehr anstellten, war vorhersehbar.
Heute leiden die Bezüger*innen unter der Fehlkonzeption der IV: Sie sind von Hilfsbedürftigen zu Verdächtigen geworden. Mit dem Fokus auf die Eingliederung kam für Menschen mit Behinderung in der Zwischenkriegszeit eine Pflicht, sich am Arbeitsmarkt zu beteiligen. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts mussten sich Bezüger*innen ihren Anspruch auf finanzielle Hilfe zunehmend verdienen. Und spätestens seit Beginn des 21. Jahrhunderts haben Christoph Blocher und Konsorten dafür gesorgt, dass den IV-Bezüger*innen die bedingungslose Hilfsbedürftigkeit in der öffentlichen Debatte abhandengekommen ist.
Anna Luna Frauchiger studiert an der Universität Zürich Zeit- und Wirtschaftsgeschichte im Master. Für ihre Bachelorarbeit hat sie über 200 Zeitungsartikel aus den 1990er-Jahren analysiert, die Missbrauchsvorwürfe in der IV thematisieren – und konnte aufzeigen, wie es der SVP gelang, ihre aus der Luft gegriffene Kampagne gegen „Scheininvalide“ im öffentlichen Diskurs festzusetzen.
Journalismus kostet
Die Produktion dieses Artikels nahm 29 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 1768 einnehmen.
Als Leser*in von das Lamm konsumierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demokratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produktion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rechnung sieht so aus:
Wir haben einen Lohndeckel bei CHF 22. Die gewerkschaftliche Empfehlung wäre CHF 35 pro Stunde.
CHF 1015 → 35 CHF/h für Lohn der Schreibenden, Redigat, Korrektorat (Produktion)
CHF 493 → 17 CHF/h für Fixkosten (Raum- & Servermiete, Programme usw.)
CHF 260 pro Artikel → Backoffice, Kommunikation, IT, Bildredaktion, Marketing usw.
Weitere Informationen zu unseren Finanzen findest du hier.
Solidarisches Abo
Nur durch Abos erhalten wir finanzielle Sicherheit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unterstützt du uns nachhaltig und machst Journalismus demokratisch zugänglich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.
Ihr unterstützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorgfältig recherchierte Informationen, kritisch aufbereitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unabhängig von ihren finanziellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Journalismus abseits von schnellen News und Clickbait erhalten.
In der kriselnden Medienwelt ist es ohnehin fast unmöglich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkommerziell ausgerichtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugänglich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure solidarischen Abos angewiesen. Unser Lohn ist unmittelbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kritischen Journalismus für alle.
Einzelspende
Ihr wollt uns lieber einmalig unterstützen?