Christine Furaha humpelt zu der kleinen Holzbank in ihrer Hütte. Mit der linken Hand stützt sie sich auf einen farbig geblümten Besenstiel, ihr rechter Arm fehlt. Als sie sich hinsetzt, zeigt sich unter ihrem Hüfttuch eine Wunde, die sich über die rechte Wade zieht. Sie ist mit einer braun-weissen Paste bedeckt. “Als ich das siedende Wasser vom Feuer nehmen wollte, ist mir der Topf entglitten”, sagt Furaha. Sie hatte kein Geld, um zu einem Gesundheitszentrum zu gelangen und besorgte sich stattdessen eine Heilkräutersalbe. “Das Leben ist hart geworden”, sagt sie. “Ich will nur zurück in den Kongo.”
Furaha lebt in Kyangwali, einem Lager für Geflüchtete im Westen Ugandas. Wie die meisten Menschen hier ist sie aus der benachbarten Demokratischen Republik Kongo geflohen, weil sie sich in Uganda ein besseres Leben erhoffte. Aber ihr Leben hier ist entbehrungsreich. Vor allem, seit sie monatlich nur noch fünf anstatt elf Dollar als Nahrungsmittelhilfe bekommt. “Das ist nicht genug für einen Monat”, sagt sie.
Dabei wird Furaha wegen ihrem fehlenden Arm von den humanitären Organisationen im Lager stärker unterstützt als andere Geflüchtete und bekommt etwa mehr Lebensmittelhilfe. Doch die Essensrationen werden für alle immer weniger, auch für Furaha. Seit einiger Zeit verteilt das Welternährungsprogramm, kurz WFP, kleinere Rationen. Denn für mehr fehlt das Geld.
Als weltweit grösste humanitäre Organisation leistet das WFP im Auftrag der United Nations (UN) überall dort Nahrungsmittelhilfe, wo Hunger und Mangelernährung herrschen; entweder in Form von Lebensmitteln oder Bargeld. Wegen noch nie da gewesener Finanzierungsdefiziten hat das WFP aber in bereits 38 der 86 Länder, in denen es aktiv ist, die monatliche Nahrungsmittelhilfe gekürzt – etwa in Syrien, Bangladesch und Tschad. Oder eben in Uganda.
Die Entscheidungen, die im WFP-Hauptquartier in Rom, abertausende von Kilometern nördlich von Kyangwali, sowie in der ugandischen Hauptstadt Kampala getroffen wurden, haben gravierende Folgen. Vor allem für Menschen wie Furaha.
Nur noch zwei Mahlzeiten am Tag
Das Lager, in dem Christine Furaha lebt, unterscheidet sich kaum von der Gegend rundherum. Hütten aus Lehm und Ästen stehen inmitten von Ackerland, manche deckt eine weisse Plane mit dem blauen Logo der UN-Agentur für Geflüchtete, UNHCR. Lehmstrassen verbinden die Dutzenden von Dörfern im Camp, die Leute sind zu Fuss oder mit Motor- und Fahrrädern unterwegs.
Furaha lebt bereits seit 15 Jahren in Kyangwali. Als sich im Jahr 2008 die kongolesische Armee und die bewaffnete Gruppe Congrès national pour la défense du peuple (CNDP) im Osten des Landes bekämpften, überquerte sie mit ihrem Mann und Sohn die Grenze nach Uganda. Ihren rechten Arm verlor sie bereits zehn Jahre zuvor, als sie mit einer Gruppe Händler*innen von bewaffneten Männern überfallen und in ein Haus gesteckt wurde, das die Männer in Brand setzen. Ihr Arm wurde in einem Krankenhaus amputiert, nachdem sie aus der Hütte gerettet wurde. Die Brandnarben im Gesicht und am linken Arm sind heute noch sichtbar.
Uganda nimmt mehr Geflüchtete auf als jedes andere afrikanische Land und ist mit über 1.5 Millionen Geflüchteten gar eines der wichtigsten Aufnahmeländer der Welt – nach der Türkei, Iran, Deutschland und Pakistan. Geflüchtete geniessen in Uganda nicht nur das Recht auf Arbeit, Bewegungsfreiheit oder Bildung, sondern erhalten – schon seit der Unabhängigkeit de Landes in den 60er Jahren – auch ein Stück Land in einem Siedlungsgebiet. Darauf sollen sie Getreide, Mais oder Bohnen anbauen, um möglichst unabhängig von Hilfsgütern zu leben. Diese Politik Ugandas gilt im internationalen Vergleich als besonders fortschrittlich.
Da die Geflüchteten Land zum Bebauen erhalten, reduzierte das WFP seine Essensrationen schrittweise über die Jahre hinweg. Aber Menschen, die wie Christine Furaha als besonders verletzlich gelten, weil sie ihre Felder nicht bewirtschaften können, bekamen auch nach etlichen Jahren im Camp 100 Prozent der Essensrationen.
Bis im April 2020: Das WFP Uganda kürzte die Essensrationen um rund einen Drittel, weil das Landesbudget nicht einmal zur Hälfte finanziert war. Trotz Aufrufen an die internationale Gemeinschaft erhielt das WFP Uganda nicht genügend Spenden und kürzte die Rationen im folgenden Jahr zunächst auf 60 Prozent der Standardration, dann in einigen ugandischen Lagern sogar auf 40 Prozent – so auch in Kyangwali.
Für Furaha heisst das: Sie bekommt heute nur noch fünf anstatt elf Dollar Lebensmittelhilfe pro Monat. “Damit kaufe ich mir erst Maniokmehl und Holzkohle, damit ich überhaupt kochen kann”, sagt sie, während ihr dreijähriger Enkel auf ihrem gesunden Bein herumklettert. “Wenn dann noch etwas übrigbleibt, kaufe ich mir Maniokblätter, um eine Sauce daraus zu machen.”
Auch Pierre Karemera bekommt die Kürzungen der Lebensmittelhilfe zu spüren. Er parkiert sein Tricycle, ein dreirädriges Gefährt mit einer Handkurbel, so vor seiner Hütte, dass er auf das kleine Holzbänklein davor gelangt. Mit der Kraft seines Oberkörpers hievt er sich auf die Bank und zieht seine Beine hinterher. Sein Gesicht ist eingefallen, die Augen milchig. Der über 80 Jahre alte Mann aus Burundi sagt: “Als wir die normale Ration erhielten, assen wir noch drei Mal am Tag. Aber seit sie die Rationen gekürzt haben, gibt es nur noch zwei Mahlzeiten am Tag.”
Kürzungen während Covid
Die ersten Kürzungen im April 2020 trafen die Geflüchteten zum denkbar schlimmsten Zeitpunkt. Denn im selben Monat verhängte der ugandische Präsident Yoweri Museveni einen landesweiten Lockdown: Alle Geschäfte mussten schliessen, das Reisen in öffentlichen und privaten Verkehrsmitteln wurde verboten. Das bedeutete, dass die Geflüchteten die Essensrationen eigentlich noch dringender benötigten, um ihr Überleben zu sichern.
Während der Covid-Pandemie hat das WFP in Kyangwali fast komplett auf Bargeldhilfe umgestellt, um die Zahl der Menschenansammlungen zu reduzieren. Bis dahin konnten die Geflüchteten wählen, ob sie die Hilfe in Form von Bargeld oder als Ration aus Maiskörnern, Bohnen, einer Mais-Soja-Mischung für Brei, sowie Öl und Salz beziehen wollen. Heute erhalten sie das Geld einmal im Monat aus einem Bankbus, der durch das Camp fährt, oder direkt auf ein Konto bei einer anderen ugandischen Bank, von der es inzwischen in jedem Dorf in mindestens einem der kleinen Läden ein mobiles ATM-Gerät gibt.
Im Gegensatz zu den Camps in Norduganda hat Kyangwali fruchtbares Land und gut funktionierende Märkte, die es den Empfänger*innen von Bargeldhilfe ermöglichen, die Lebensmittel ihrer Wahl zu kaufen. Gleichzeitig kann das WFP sparen, da die Kosten für Transport und Logistik bei der Verteilung der Lebensmittel entfallen.
“Ich finde Geld besser”, sagt auch Christine Furaha. Als sie vor Jahren noch kein Geld beziehen konnte, bat sie jeweils die Kinder einer Freundin, ihr am Tag der Verteilung zu helfen, die Säcke und Schüsseln mit den Lebensmittelration nach Hause zu tragen. Ihr Mann arbeitete und lebte damals als Fussballtrainer in einer Stadt ausserhalb des Camps, ihr Sohn wohnte an einem nahe gelegenen See, wo er als Fischer etwas Geld verdiente.
“Mit dieser Behinderung hat sich vieles geändert”, sagte Furaha bei einem früheren Gespräch, als es in Kyangwali noch kein Bargeld gab. “Früher habe ich alles selbst gemacht, aber jetzt muss ich andere anflehen, mir zu helfen.” Wenn sie keine Hilfe für den Transport bekam, verkaufte sie ihre Lebensmittelration direkt vor Ort, um an einem anderen Tag mit dem Geld Lebensmittel zu kaufen.
Beispiellose Finanzierungsdefizite
Dass das WFP ihre Nahrungsmittelhilfe reduzieren muss, ist in Uganda nichts Neues – zumindest vorübergehend. Das war etwa 2017 der Fall, als fast eine Million Menschen aus dem Südsudan nach Uganda floh und die Spendengelder zu spät eintrafen. Doch die Lücken hielten früher nur wenige Monate an. Dass das WFP die Essensrationen über Jahre hinweg stetig weiter reduziert, kam noch nie vor.
Doch Uganda ist kein Einzelfall. In Afghanistan, Somalia, Syrien oder Haiti sehen die Finanzierungslücken ähnlich aus. Wie konnte das geschehen?
Erst war da Covid-19, das die bereits bestehenden Krisen verschärfte. Dann kam zwei Jahre später der Ukraine-Krieg, der die Kosten für Nahrungsmittel wie Weizen und Mais, aber auch für Treibstoff und Düngemittel, noch weiter in die Höhe trieb. Das hat nicht nur den Hunger, sondern auch die Betriebskosten des WFP erhöht.
Dabei hat das WFP mit insgesamt 14 Milliarden Dollar noch nie so viel Geld erhalten wie 2022. Das historische Finanzierungsdefizit deutet daher darauf hin, dass dieser Betrag nicht mit dem Bedarf mithalten kann. Denn die Zahl der Menschen, die aufgrund von Konflikten, Dürren und wirtschaftlichen Krisen von akutem Hunger betroffen sind, hat drastisch zugenommen. In diesem Jahr ist die Zahl zum vierten Mal in Folge gestiegen. Seit 2020 hat sie sich mehr als verdoppelt: Weltweit waren 2022 laut dem Global Report on Food Crises 258 Millionen Menschen von akutem Hunger betroffen.
Das Problem liegt aber woanders – denn niemand ist dazu verpflichtet, diese Situation finanziell zu bekämpfen.
Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg waren so viele Menschen auf der Flucht wie heute. Davon finden 74 Prozent Zufucht in Ländern des Globalen Südens – also in Ländern, die deutlich weniger Ressourcen haben als etwa die Schweiz.
Uganda nimmt mit 1.5 Millionen die meisten Geflüchteten unter afrikanischen Ländern auf; weltweit liegt das Land an fünfter Stelle. Gleichzeitig haben humanitäre Organisationen zu wenig Geld, um Menschen auf der Flucht zu unterstützen.
Was bedeutet diese Situation für Menschen, die aufgrund einer Polioerkrankung im Rollstuhl sitzen oder die wegen Kriegshandlungen Gliedmassen verloren haben?
In einer dreiteiligen Serie geht das Lamm der Frage nach, wie Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen – besonders verletzliche Personen unter den Geflüchteten – die aktuelle Situation im Kyangwali Refugee Camp* in Uganda erleben, wo die Zahl der Geflüchteten stetig steigt, während die Hilfsgelder schwinden.
Die Recherche wurde finanziell durch den Medienfonds „real21 — die Welt verstehen“ unterstützt. Sie fand im Januar 2023 statt, die Autorin bezieht sich aber auch auf die Jahre 2015 und 2016, als sie zu diesem Thema im Kyangwali Refugee Camp forschte.
* In Uganda wird zwischen Lagern (Camps) und Siedlungen für Geflüchtete unterschieden: Erstere bieten keinen Zugang zu landwirtschaftlichen Flächen und in der Regel weniger Bewegungsfreiheit. Da aber beide Strukturen in der Art und Weise, wie sie Menschen organisieren und kontrollieren, sehr ähnlich sind, verwenden wir in diesen Artikeln beide Begriffe.
Politisch-mediale Relevanz statt Bedarf
Das WFP wird ebenso wie der UNHCR, UNICEF oder die WHO nicht über Pflichtbeiträge der UN-Mitgliedsländer finanziert, wie das bei den UN-Friedensmissionen und dem regulären Haushalt der Vereinten Nationen der Fall ist. Die Agentur ist hauptsächlich auf freiwillige Beiträge angewiesen – in erster Linie von Regierungen der Mitgliedsländer.
Die Mitgliedstaaten orientieren sich dabei oft nicht am Bedarf, sondern an der politisch-medialen Relevanz einzelner Krisen. Deshalb betont das WFP immer wieder die Vorteile von flexiblen Beiträgen. Das sind Beiträge, die nicht an ein bestimmtes Land oder Projekt gekoppelt sind und die das WFP einsetzen kann, wo und wann der Bedarf am grössten ist. Trotz der grossen Vorteile der flexiblen Beiträge machten diese im Jahr 2022 nur 9 Prozent der gesamten Spenden des WFP aus.
Abgesehen von der Art der Beiträge ist das Problem, dass sie freiwillig sind: Das macht das WFP stark von einzelnen Geber*innenländern und deren nationalen Budgetplanung abhängig – ob sie etwa sparen oder in ihre Wirtschaft investieren, und was dann für die humanitäre Hilfe übrig bleibt.
„Es gibt eigentlich genügend Ideen, diese Finanzierung zu reformieren“, sagt Ulrich Post, der mehr als 20 Jahre lang für die Welthungerhilfe in Deutschland gearbeitet hat. So könnten die freiwilligen Zahlungen durch Pflichtbeiträge ersetzt werden oder man könnte eine neue globale UN-Steuer für Entwicklungsprojekte und humanitäre Hilfe einführen.
Doch Bemühungen in diese Richtung stossen auf Ablehnung. “Die Geber*innenländer und die UN haben unterschiedliche Interessen. Manche Regierungen wollen auch die Kontrolle darüber behalten, in welche Krisen investiert wird”, sagt Post. “Sie wollen nicht den Spielraum verlieren, ihre Mittel entsprechend aussenpolitischer Interessen anstatt streng bedarfsgerecht einzusetzen.” Manchmal, so Ulrich Post, haben Geldgeber*innen unter den Staaten schlicht andere Prioritäten als die Staaten, die auf die Gelder angewiesen sind – was etwa im Falle Syriens oder Afghanistans auch nachvollziehbar sei.
Schweizer Profite statt Schweizer Unterstützung
Die Schweizer Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) unterstützte das WFP in den letzten drei Jahren mit jeweils um die 100 Millionen Franken – rund 80 Prozent davon länder- und projektgebunden. Das WFP Uganda wurde dabei nicht unterstützt.
“Die Schweiz führt keinen direkten Austausch mit dem WFP in Uganda und wurde nicht über die Finanzierungsdefizite informiert”, sagt die DEZA auf Anfrage von das Lamm. Die Schweiz habe aber direkte Unterstützung an andere regionale Krisen geleistet, etwa in Südsudan oder Äthiopien, und beabsichtige, ab 2025 den Anteil der flexiblen Beiträge ans WFP zu erhöhen.
Der finanzielle Beitrag der Schweiz reicht nicht aus, findet Jakob Kern, stellvertretender Stabschef des WFP in Rom. In einem Interview mit dem Tages-Anzeiger sagte er Anfang Jahr: “Von einem so reichen Land wie der Schweiz könnte man tatsächlich mehr erwarten.” Die Schweiz gebe für Entwicklungszusammenarbeit nur 0.3 Prozent ihres Bruttoinlandprodukts aus, während der Mindeststandard in den meisten Ländern 0.5 Prozent ist.
Hinzu kommt: Während die Nahrungsmittelpreise weltweit massiv anstiegen, machten Schweizer Rohstofffirmen historisch hohe Gewinne. Denn mindestens die Hälfte des weltweit gehandelten Getreides läuft über in der Schweiz ansässige Handelsfirmen.
So etwa über Cargill mit seinem globalen Handelssitz in Genf: Der weltgrösste Agrarhändler machte 2021 einen Rekordgewinn von knapp 6.7 Milliarden Dollar. Cargill bemüht sich gemäss seinem Jahresbericht darum, “das weltweite Lebensmittelsystem nachhaltiger, widerstandsfähiger und für alle zugänglich zu machen”. Der Konzern spendete 2021 mit 10 Millionen Dollar 0.1 Prozent seines Gewinns an das WFP. Gleichzeitig ist das Vermögen der Gründerfamilie seit 2020 um 20 Millionen Dollar gewachsen – pro Tag.
Nicht nur zum Überleben wichtig
Währenddessen bekommen Menschen wie Furaha und Karemera die Finanzierungsdefizite des WFP und den Anstieg der Nahrungsmittelpreise gleich doppelt zu spüren: Sie erhalten weniger Hilfe, während die Lebensmittel teurer werden, die sie sich mit dem erhaltenen Geld kaufen müssen.
Laut dem WFP müsste die monatliche Nahrungsmittelhilfe 2’100 Kilokalorien pro Tag und damit die zum Überleben nötigen Fette, Proteine und Kohlenhydrate liefern – so ist eine 100-prozentige Ration berechnet. Bei einer Kürzung komme es gerade für diejenigen, die auf keine andere Weise an Essen gelangen können, zu Unterernährung und Blutarmut, schreibt Marcus Prior, stellvertretender Direktor des WFP Uganda.
Es ist ein Teufelskreis: Die Kürzung der Rationen führt unmittelbar zu einem tieferen Energieniveau, was es den Geflüchteten erschwert, alltägliche Aufgaben zu erledigen und sich an Aktivitäten zu beteiligen, um sich selbst zu versorgen. Als Reaktion darauf lassen die Betroffenen Mahlzeiten ausfallen und greifen auf günstigere und weniger nahrhafte Lebensmittel zurück. “All das verschlechtert ihre Gesundheit noch weiter”, sagt Prior.
Die fünf Dollar, die Geflüchtete vom WFP erhalten, sind nicht einmal die Hälfte dessen, was das WFP als überlebenswichtig betrachtet. Für viele Menschen mit Behinderungen sind die Essensrationen zudem nicht nur ein Mittel zum Überleben, sondern sie haben auch eine wichtige soziale Bedeutung.
Etwa für Pierre Karemera. Er lebt im Camp mit einer 13-köpfigen Familie aus seinem Heimatland Burundi zusammen. Da er wegen einer Polioerkrankung seit seiner Kindheit nicht mehr laufen kann, ist er bei Arbeiten wie Kochen oder Waschen auf Unterstützung angewiesen. Bereits vor vier Jahren, als er noch elf Dollar pro Monat als Nahrungsmittelhilfe erhielt, kümmerte sich eine Familie im Camp um ihn. “Neun Dollar gab ich monatlich der Familie, die sich um die Lebensmittel kümmerte und für mich kochte”, sagt Karemera. Er trug seinen Teil zum Haushalt bei. Mit den fünf Dollar Lebensmittelhilfe, die er heute erhält, geht das nicht mehr. Damit hat sich seine Position in der neuen Familie stark verändert. “Ich trage der Familie, bei der in nun wohne, viel mehr Verantwortung auf, weil ich selbst fast nichts mehr beitrage”, sagt er.
Die Leute in Kyangwali benötigen das Essensgeld immer wieder für andere Sachen als nur für ihre Ernährung – etwa für Medikamente, wenn sie krank sind, oder um von einem Ort zum anderen zu gelangen. Die Kürzung der Lebensmittelrationen hat also vor allem für diejenigen gravierende Folgen, die wie Karemera und Furaha weder über Ernten von ihren Feldern noch über ein anderes Einkommen verfügen.
Priorisierung der Verletzlichsten: Tropfen auf den heissen Stein
Im Februar 2023 deckt die Nahrungsmittelhilfe in Kyangwali zwischen 26 und 39 Prozent der empfohlenen täglichen Kalorienzufuhr, wie das WFP Uganda auf Anfrage von das Lamm schriftlich mitteilt. Das WFP hat die am allermeisten gefährdeten Haushalte identifiziert – zu denen auch Karemera und Furaha gehören – und gibt ihnen 1.5 Dollar mehr als anderen Personen.
Auch chronisch Kranke, alleinerziehende Mütter oder unbegleitete Minderjährige können in die Kategorie der besonders Verletzlichen fallen – in Uganda macht diese Kategorie 14 Prozent der Geflüchteten aus. Weil die fünf Dollar für diese Gruppe aber noch immer zu wenig ist, hat das WFP weitere Anpassungen gemacht: Seit Juli 2023 erhalten besonders Verletzliche etwas mehr als sechs Dollar, während vier Prozent der Geflüchteten in Uganda gar keine Nahrungsmittelhilfe mehr erhalten.
Diese Priorisierung der Verletzlichsten kann Menschen wie Karemera und Furaha zwar kurzfristig helfen. Aber das Finanzierungsproblem des WFP löst sie nicht.
Denn die Situation in Uganda wird sich nicht so bald ändern. Seit Anfang des Jahres 2023 hat das Land rund 35’000 neue Geflüchtete aus dem Kongo und dem Südsudan aufgenommen. Und die Finanzierungslage des WFP sieht nach wie vor düster aus: Die Agentur würde dieses Jahr für ihre Hilfe auf der ganzen Welt 23 Milliarden Dollar benötigen. Trotzdem strebt sie nur zwischen 10 und 14 Milliarden an – denselben Betrag also, den sie in den letzten Jahren erhalten hat. Bisher hat sie davon erst 6 Millarden Dollar bekommen.
Die Recherche wurde finanziell durch den Medienfonds „real21 — die Welt verstehen“ unterstützt. Wir danken!
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