Zürcher Tages­schulen: Kinder werden verwaltet, statt betreut

Die Stadt Zürich versprach mit der Einfüh­rung der Ganz­tags­schulen bessere Bildung, mehr Chan­cen­ge­rech­tig­keit und profes­sio­nelle Betreuung. Die Umset­zung konzen­triert sich jedoch haupt­säch­lich auf wirt­schaft­liche Aspekte, worunter die Qualität der Bildung und Betreuung leidet. 
Bis 2030 sollen alle städtischen Schulen in Zürich zu Tagesschulen werden. (Foto: Kira Kynd)

Die Idee klingt schön: An Ganz­tags­schulen verbringen die Schüler*innen den Gross­teil ihres Tages an der Schule, die wie ein zweites Zuhause ist. Der Unter­richt verbindet verschie­dene Lern­formen – sei es im Klas­sen­zimmer oder beim Ausflug in den Wald –, und inte­griert diese in den Alltag der Kinder.

So könnte beispiels­weise eine Halb­klasse den Morgen damit verbringen, das Mittag­essen zu planen, Mengen zu berechnen, einzu­kaufen und zu kochen, während sich die andere Hälfte im Klas­sen­zimmer formal mit Mathe­matik beschäf­tigt. Solche Lern­formen erleich­tern den Transfer zwischen theo­re­ti­schem Wissen und prak­ti­schen Einsatzmöglichkeiten.

Das Lernen erscheint sinn­haft, Mitar­bei­tende aus verschie­denen Berufs­zweigen finden ihre Rolle und tragen ihren Teil zu den Lern­erfah­rungen der Kinder bei. Haus­auf­gaben gibt es keine mehr, denn sie schaffen Ungleich­heit in puncto Chan­cen­ge­rech­tig­keit. Alles Schu­li­sche bleibt in der Schule. Alle haben eine gute Zeit.

Das klingt zu schön, um wahr zu sein? Nein, denn beispiels­weise in Schweden sind solche Schul­sy­steme längst Realität. Doch an den Zürcher Tages­schulen bleiben diese schönen Ideen nur Theorie, denn ausrei­chend zahlen, will die Politik dafür nicht.

Zu wenig Ressourcen

Von 2015 bis 2022 wurden in einem Pilot­pro­jekt dreissig Schulen in der Stadt Zürich in den Tages­schul­be­trieb umfunk­tio­niert. Im September 2022 entschied die Zürcher Stimm­be­völ­ke­rung, dass bis 2030 alle Schulen der Stadt in dieses Modell über­führt werden sollen. Das Verspre­chen der Stadt lautet dabei, die „Verein­bar­keit von Familie und Beruf“ zu erleich­tern sowie den Unter­richt und die Betreuung „pädago­gisch und orga­ni­sa­to­risch zusammenführen“.

„Um Perso­nal­ko­sten zu sparen, wurden die Arbeits­pensen des Betreu­ungs­per­so­nals regel­recht zerstückelt. Übrig bleibt eine Anstel­lung, deren Lohn nicht zum Leben reicht.“

Till Zurbu­chen, Betreuer an einer Schule der Stadt Zürich

In der Praxis bedeutet dieses neue Modell zum Beispiel, dass der Mittags­tisch in ein soge­nanntes Open-Restau­rant mit zwei Schichten umge­wan­delt wird. So kann jeder Platz am Zmit­tags­tisch von doppelt so vielen Kindern belegt werden als zuvor, um die Schüler*innen möglichst kosten­ef­fi­zient zu verpflegen. Auch der Lärm­pegel verdop­pelt sich in den ohnehin schon engen Räum­lich­keiten und bietet keinem*keiner der Anwe­senden eine ange­mes­sene Ruhephase.

Koor­di­niert werden diese Mittage von gut ausge­bil­detem Betreu­ungs­per­sonal, das nun während der gesamten Zeit damit beschäf­tigt ist, zu kontrol­lieren, ob alle Kinder anwe­send sind. Als Erken­nungs­merkmal in den Massen von Kindern tragen sie orange Leucht­we­sten. Neuer­dings über­nehmen auch Lehr­per­sonen diese Aufgaben, um das Betreu­ungs­per­sonal zu entla­sten – und Hort­mit­ar­bei­tende helfen im Unter­richt. Welche Rolle und Aufgaben die jewei­ligen Berufs­gruppen im anderen Bereich über­nehmen, bleibt weit­ge­hend ungeklärt.

Um Perso­nal­ko­sten zu sparen, wurden die Arbeits­pensen des Betreu­ungs­per­so­nals regel­recht zerstückelt. Es ist nun kaum mehr möglich, ein Voll­zeit­pensum in der Betreuung zu arbeiten. Typisch sind jetzt 50 Prozent verteilt auf fünf Tage die Woche – oftmals mit Zimmer­stunden. Übrig bleibt eine Anstel­lung, deren Lohn nicht zum Leben reicht, und die viele Arbeiter*innen wie Allein­er­zie­hende ausschliesst. Von der Verein­bar­keit von Beruf und Familie, wie die Stadt sie propa­giert, bleibt keine Spur.

„Während die nied­rigen Einkom­mens­klassen nur wenig entla­stet werden, profi­tieren vor allem Top-Verdiener*innen-Haushalte.“

Till Zurbu­chen, Betreuer an einer Schule der Stadt Zürich

Bisher folgte die Berech­nung der Kosten der Fami­lien für die Betreuung ihrer Kinder einem Stufen­mo­dell, ähnlich dem der Steuern. Je höher das Haus­halts­ein­kommen, desto höher fallen die Kosten für Betreuung aus. Neu gilt für alle ein Einheits­tarif von sechs Franken pro Mittag­essen und Mittagsbetreuung.

Während die nied­rigen Einkom­mens­klassen nur wenig entla­stet werden, profi­tieren vor allem Top-Verdiener*innen-Haushalte. Wer bisher den höch­sten Satz bezahlt hat, kann nun mit vier Betreu­ungs­tagen rund 10’000 Schweizer Franken jähr­lich einsparen – Gering­ver­die­nende maximal ein Zehntel davon. Somit stellen diese sechs Franken für Fami­lien mit nied­rigem Einkommen eine Hürde dar, die sie mögli­cher­weise ausschliesst, während Wohl­ha­bende weiter profi­tieren können.

Nach einem pädago­gi­schen Mehr­wert sucht man bei alldem verge­bens. Der einzige Vorteil: Die Stadt Zürich spart Geld – auf Kosten der Kinder und Angestellten.

Es fehlt der poli­ti­sche Wille

Ich arbeite selbst seit vielen Jahren bei der Stadt Zürich in der Betreuung. Mitt­ler­weile habe ich mich für eine Kündi­gung entschieden, da ich mit dieser Entwick­lung nicht mitgehen möchte. 

Der VPOD hat bereits während der Pilot­phase der Tages­schulen Bedin­gungen aufge­stellt, die erfüllt sein müssten, damit alle davon profi­tieren. Dazu gehören unter anderem: vorbild­liche Anstel­lungs­be­din­gungen für das Lehr‑, Betreu­ungs- und Reini­gungs­per­sonal, klare Rege­lung der Zustän­dig­keit und Kompe­tenzen und ausrei­chend perso­nelle Ressourcen für die pädago­gi­sche Arbeit über Mittag.

Das „Kollektiv kriti­scher Lehr­per­sonen“ fordert in ihrem Posi­ti­ons­pa­pier haupt­säch­lich den Ausbau der Räum­lich­keiten, einen Stopp der Ressour­cen­kür­zungen in der Betreuung und eine ernst­hafte Ausein­an­der­set­zung mit dem Begriff Chancengerechtigkeit.

„Ich würde erwarten, dass bei grossen Umwäl­zungen im Bildungs­be­reich die Bedürf­nisse der Kinder im Mittel­punkt stehen.“

Till Zurbu­chen, Betreuer an einer Schule der Stadt Zürich

Das Leben von Schul­kin­dern ist anfor­de­rungs­reich: Da ist der schu­li­sche Stoff, Prüfungen, das soziale Gefüge in der Klasse, aber auch Lärm und Reiz­über­flu­tung. Fällt der Kontakt zu den Eltern tags­über weg, ist der Bedarf der Kinder nach anderen Bezugs­per­sonen, denen es sich anver­trauen kann, umso grösser.

Meiner Meinung nach brau­chen Kinder im schu­li­schen Umfeld in erster Linie vertrau­ens­volle Bezie­hungen zu ihren Bezugs­per­sonen. Dies bestä­tigen auch diverse Studien, die sich mit dem Lern­erfolg von Schul­kin­dern befassen. 

Als Mitar­beiter ist es für mich wichtig, die Kinder zu kennen – ihre Persön­lich­keit, aber auch ihre schu­li­schen und privaten Umstände. Nur so kann ich sie adäquat begleiten. Es bräuchte Betreu­ungs­per­sonen, die indi­vi­duell struk­tu­rieren und begleiten – doch dafür bleibt keine Zeit. Statt viel­fäl­tiger Lern­erfah­rungen konzen­trieren sich die Zürcher Tages­schulen auf die Verwal­tung möglichst vieler Kinder in möglichst kurzer Zeit zu möglichst tiefen Preisen.

„Die Stadt Zürich spart Geld – auf Kosten der Kinder und Angestellten.“

Till Zurbu­chen, Betreuer an einer Schule der Stadt Zürich

Ich würde erwarten, dass bei grossen Umwäl­zungen im Bildungs­be­reich die Bedürf­nisse der Kinder im Mittel­punkt stehen. Was das Tages­schul­mo­dell bis jetzt bedeutet, ist die doppelte Menge an Kindern in zu kleinen Räum­lich­keiten mit über­la­stetem Personal. Notwendig wären aller­dings den neuen Bedürf­nissen ange­passte Schul­häuser, den Einbezug der Kinder und Mitar­bei­tenden bei Entschei­dungen und der Wille, die Schule als einen Ort des ganz­heit­li­chen Lernens zu betrachten.

Dazu müsste allen Berufs­gruppen im schu­li­schen Bereich die gleiche Wert­schät­zung entge­gen­ge­bracht werden und faire Anstel­lungs­be­din­gungen für alle geschaffen werden. Wenn eine Tages­schule für die Kinder ein tempo­räres Daheim, ein Lern­feld, ein Ort der Begeg­nung sein soll, darf es in diesen Punkten keine Kompro­misse geben.


Jour­na­lismus kostet

Die Produk­tion dieses Arti­kels nahm 25 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 1560 einnehmen.

Als Leser*in von das Lamm konsu­mierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demo­kratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produk­tion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rech­nung sieht so aus:

Soli­da­ri­sches Abo

Nur durch Abos erhalten wir finan­zi­elle Sicher­heit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unter­stützt du uns nach­haltig und machst Jour­na­lismus demo­kra­tisch zugäng­lich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.

Ihr unter­stützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorg­fältig recher­chierte Infor­ma­tionen, kritisch aufbe­reitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unab­hängig von ihren finan­zi­ellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Jour­na­lismus abseits von schnellen News und Click­bait erhalten.

In der kriselnden Medi­en­welt ist es ohnehin fast unmög­lich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkom­mer­ziell ausge­richtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugäng­lich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure soli­da­ri­schen Abos ange­wiesen. Unser Lohn ist unmit­telbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kriti­schen Jour­na­lismus für alle.

Ähnliche Artikel