Wenig im Aarauer Grossratssaal deutet darauf hin, dass wir das Jahr 2071 schreiben: nur die weiss-glänzenden, etwas futuristisch wirkenden Westen des Personals und die geretteten Pflanzen, die in Terrarien auf die verschärfte Klimakrise hindeuten, vielleicht.
Und doch befinden wir uns in einer neuen Welt, in der nicht mehr das städtische Parlament, sondern Aktionär:innen der AarauAG im Grossratssaal tagen.
Denn die AarauAG befindet sich in einer akuten Krise, weil ein anarchistisches Hacker:innen-Team gravierende Missstände hinter dem Vorzeigeprojekt „Atlantis“ aufdeckte: Der geplante Insel-Archipel zwischen Nordamerika und Europa, das von der Klimaerwärmung betroffene Lebensräume ersetzen sollte, wird nie zu Stande kommen. Das korrupte Management ist abgetaucht und nun soll die GV eine neue Führung wählen.
Pre-enactment
Bei der von Proberaum Zukunft umgesetzten Performance handelt es sich um ein Pre-enactment: Die Entscheidungsträger:innen von heute sollen zukünftige politische Ereignisse in einem real-fiktiven Setting mitgestalten.
So weit hergeholt ist das Szenario nicht. Wie das Lamm berichtete, sind in Honduras sogenannte Liberty Cities schon im Aufbau: extreme Versionen von Sonderwirtschaftszonen, die mit eigenen Gesetzen und Gerichten von privaten Firmen verwaltet werden. In afrikanischen Ländern sind weitere geplant. Ärmere Staaten öffnen sich für solch weitgehende Deregularisierungen und Privatisierungen, um Geld aus dem Ausland anzulocken.
In der Welt des Theaters ist dieser Prozess schon weit fortgeschritten: Im Jahr 2045 wurde mit den United Corporations eine libertäre Konzernwelt gegründet, nachdem hochverschuldete Staaten um die Gunst von Unternehmen gerangelt hatten.
Gelingt es den Theatermacher:innen, dass sich die Teilnehmenden ernsthaft mit dieser möglichen Zukunft auseinandersetzen?
Sowohl durch raffinierte Abläufe und den schlichten Einsatz von Bühnenbildelementen versteht sich das Publikum schnell als Teil der Performance. Schon beim Ticketkauf werden sie zu Akteur:innen, wenn sie über den Preis und somit über ihren Aktienanteil und das Gewicht ihrer Stimme entscheiden müssen. Bevor sie das Gebäude betreten, leuchten Logos der AarauAG, in der Garderobe macht ein Imagefilm auf die Dienstleistungen des Konzerns aufmerksam: Verwaltungs- und Regierungsdienstleistungen, Umstrukturierungs- und Transformationsprozesse.
Wie an jeder gewöhnlichen GV erhalten die Zuschauer:innen eine Mappe mit den Traktanden, der Geschäftsordnung sowie Infos zu den Präsidentschaftskandidat:innen. Auch die trockene Sitzungsatmosphäre trägt dazu bei, dass sich das Publikum leicht einlassen kann auf das eigentlich absurde Szenario, in welchem mit „Bruttokonzernprodukt“ oder „Leistungsglückskoeffizient“ argumentiert wird.
Was aber genauso wichtig ist: Anstelle von Schauspieler:innen stehen bekannte Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Politik auf der Bühne.
Drei Visionen
Damit das Publikum weiss, welche Fakten für sie heute als real gelten, erklärt die Interimsleitung zu Beginn der Sitzung die aktuelle Lage des Konzerns: Die meisten globalen Investor:innen haben ihr Geld abgezogen, der Aktienkurs ist um 80 Prozent eingebrochen. Die Aktionär:innen – viele von ihnen Aarauer:innen, die sich 2027 in einer Volksabstimmung für die Umwandlung der Gemeinde Aarau in die erste „Charter City“ Westeuropas entschieden hatte – müssen nun das neue Verwaltungsratspräsidium wählen.
Erster Kandidat ist Reiner Eichenberger, Professor für Wirtschaftspolitik, der sich seit der Pandemie mit seinem Vorschlag der „kontrollierten Durchseuchung“ einen Namen gemacht hatte. Kaum überraschend ist er treuer Verteidiger der freien Städte und des Wohlstands ihrer Aktionär:innen. Er plädiert für eine „Gesundschrumpfung“ des Konzerns, damit dieser wieder wachsen kann. Dazu will er die örtliche Kapitalbeteiligung vorantreiben: mittels Vorzugsaktien mit noch höheren Stimmrechten für sogenannte „Residents“ – Kadermitarbeiter:innen, die nicht einmal fünf Prozent der 21 Millionen Personen auf dem Gebiet der AarauAG ausmachen. Denn Bleiberecht innerhalb der United Corporations ist an Verträge mit den verwaltenden Firmen geknüpft: entweder über Vermögen oder ein Anstellungsverhältnis.
Kandidat Daniel Ballmer, der ansonsten für die Grünen politisiert, will die Rahmenbedingungen der AarauAG radikal ändern. Seine Ansätze: Gewinnbeteiligung aller mittels eines Belegschaftsfonds, an welchen die Aktionär:innen die Hälfte ihrer Aktien abzugeben haben. Auch will der selbst-ernannte Anarcho-Demokrat das Stimmrecht vom Aktienvolumen entkoppeln, sodass die ausgelagerte Putzkraft gleichviel mitbestimmen kann wie der Finanzdirektor. Er möchte damit gegen die Ungleichheit ankämpfen, die seit dem Wegfall der nationalstaatlichen Umverteilungsmechanismen enorm gestiegen ist.
Anita Fetz, ehemalige Stadtbasler Ständerätin (SP), will das Monopol der United Corporations mit einer dezentralen Aufstellung brechen: Nach dem Konkurs der AarauAG soll eine Auffanggesellschaft kleine vernetzte Genossenschaften zum Blühen bringen – mittels Autonomie und kooperativen Wettbewerbs. Ihre Absichten sind löblich, aber moderat: Verzicht auf Löhne, der die unteren Schichten verhältnismässig hoch belastet, Aufteilung des Besitzes in Genossenschafts- und frei handelbare Anteile, Einführung einer zehnfachen Lohnobergrenze.
Die Figuren sind überspitzt und vielleicht begrenzt sinnvoll für ein Szenario der Zukunft. Man hätte sich auch ein Aufbrechen des herkömmlichen Rechts-links-Spektrums vorstellen können, in welchem die Figuren weniger leicht in einer politischen Ecke zu verorten sind. Trotzdem ist der Unterhaltungswert gross, der sich zu einem grossen Teil lediglich in den Sitzungsunterlagen liest: Etwa, dass Ballmer der einzig gewerkschaftlich organisierte Resident auf seiner Lohnstufe ist.
Proberaum Zukunft wurde von Marcel Grissmer, Nicolai Eneas Prawdzic und Sarah Verny ins Leben gerufen, um mittels Theater einen Beitrag in Richtung einer wünschenswerteren Zukunft zu leisten.
Die AarauAG ist der zweite von drei Teilen dieses Projektes, das im Rahmen des dreijährigen Residenzprogramms Szenotop durchgeführt wird. Das Stück wurde am 24. und 26. November aufgeführt.
War das geplant?
Der Saal ist bis auf den letzten Platz besetzt, aber nicht alle sind Teil des „Publikums“. In den Reihen befinden sich weitere bekannte Personen, die für Beiträge aufgeboten werden. Etwa die frisch gewählte Aarauer Stadträtin Silvia Dell’Aquila, die sich als Sicherheitsbeauftragte der Firma für die Angestellten einsetzt. Oder Alt-Regierungsrat Baschi Dürr, der sich gegen die Abschaffung der Vererbung von Aktien wehrt, wie sie von Fetz vorgeschlagen wird. Oder Jung-SVP-Politiker Dominik Bachofen, dem es alleine um den Aktienwert und die Investments geht.
Wie die Kandidat:innen spielen auch sie – aber entlang der Linie, die sie auch sonst vertreten. Bis der vorgesehene Sitzungsablauf unterbrochen wird. Einem ausserordentlichen Antrag einer Vertreterin der Kigali Group wird stattgegeben und schon bald steht deren Angebot, die AarauAG aufzukaufen. Der Vorschlag wird als vierte Option aufgenommen.
Das ist alles, was selbst die Theatermacher:innen über ihr Stück wissen: die Personen, die sie für Interventionen eingeladen haben, und die Reihenfolge deren Auftritts. Doch die Inhalte selbst blieben bis zum jetzigen Zeitpunkt auch ihnen verborgen. Was macht dieser experimentelle und offene Charakter des Stücks mit dem Publikum?
Neben der Frage, wen man wählen wird, treibt einen ständig die Frage um: Was ist gespielt und was gerade spontan durch das Publikum entstanden? Denn immer mehr Redebeiträge kommen aus den eigenen Reihen: ob die Kigali Group Arbeitsplätze streichen wird, wie Ballmer Investitionen sicherstellen will. Denn in der Mappe findet sich auch ein Anmeldetalon für Redebeiträge, mit denen sich alle im Raum Gehör verschaffen können.
Fast alle.
Denn plötzlich verlässt eine Mitarbeiterin der AarauAG ihren Platz vor der Türe, schnappt sich ein Mikrofon – aber wird augenblicklich abgeführt. Als wäre nichts geschehen geht die Sitzung weiter, bis sich eine Person zu Wort meldet: Sie würde gerne wissen, was diese Frau zu sagen hatte. Nur Leute mit Aktien haben das Recht zu sprechen, heisst es von der Sitzungsleitung. Auch dem Vorschlag von Eichenberger, der Betroffenen eine Aktie zu schenken, wird nicht stattgegeben. Denn nur die 140 vermögendsten Aktionär:innen sind anwesend. Wie kann sich innerhalb dieser vom Konzern festgelegten Regeln überhaupt etwas ändern?
Doch die Proteste aus dem Publikum nehmen nicht ab. Bis eine Person vorschlägt, all ihre Aktien der Mitarbeiter:in zu vermachen. Dem Antrag wird stattgegeben, die Zuschauerin muss jedoch den Saal verlassen. Die Mitarbeiterin macht aufmerksam auf die Effekte der Privatisierung von Bildung auf die junge Generation, die im Konzern gefangen ist, weil sie erst ihre Ausbildungskredite zurückzahlen beziehungsweise abarbeiten müssen.
Diese Szene war nicht geplant. Doch war es beabsichtigt oder gewünscht, dass sich das Publikum an dieser Stelle der Performance in das Geschehen einbringt? Dass ihm noch einmal bewusst wird, dass es den Gang der Dinge selbst beeinflussen soll?
Was wäre, wenn...
Das Theater erinnert in einem ersten Moment an die Theaterstücke von Milo Rau. Etwa an Das Kongo Tribunal, in dem betroffene Opfer oder Politiker:innen zu Wort kommen. Aber der Unterschied ist frappant. Es gibt zumindest innerhalb der Performance wenig Grund zur Ernsthaftigkeit. Und so überwiegen die unterhaltsamen Elemente, wenn etwa Baschi Dürr „Diktatur“ durch den Raum schreit, als seinem Antrag zur Aufhebung der Kandidatur von Fetz nicht stattgegeben wird, oder wenn sich Anwalt Christian Bär die Gemeindeversammlung von Küttigen zurückwünscht.
Ist es den Theatermacher:innen also nicht gelungen, uns die Ernsthaftigkeit der Lage bewusst zu machen? Bleibt das Publikum mit seinen Interventionen eher zurückhaltend, weil es in Wirklichkeit nichts zu verlieren hat?
Der Unterhaltungswert dieses knapp dreistündigen und ins Detail ausgearbeiteten Zukunftsszenarios ist so gross, das fast zu wenig Zeit bleibt, sich seriös mit den Konsequenzen der verschiedenen politischen Modelle der AarauAG auseinanderzusetzen. Denn so leicht ist das gar nicht: Konkrete Probleme und Lösungsansätze werden von den Kandidierenden nicht angesprochen. Die Zuschauer:innen müssen sich selbst ausmalen, welches Modell zukünftige Herausforderungen am ehesten nach ihren Vorstellungen beeinflussen könnte.
Das ist richtig gutes Theater. Denn es regt zum Nachdenken an und macht Lust darauf, die verschiedenen Konzepte in Arbeitsgruppen auseinanderzunehmen und zu diskutieren.
So ist dann auch der Ausgang der Wahl nicht das relevanteste dieses Abends. Jedenfalls wurden die schrecklichsten Szenarien abgewandt: Im ersten Wahlgang scheiden sowohl Prof. Eichenberger sowie der Aufkauf durch die Kigali Group aus. Im zweiten überwiegt Fetz. Auch in der erprobten Zukunft verhalten sich die Schweizer:innen also gemässigt und risikoscheu. Ein Grossteil hat sich enthalten.
Anita Fetz wird ein Blumenstrauss übergeben, die Performance ist zu Ende. Aber die greifbar erfahrbare explizitere Verbindung von Wirtschaft und Politik wird noch lange nachhallen.
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