10. Februar, 2025:
Ich hätte nie gedacht, dass ich eines Tages über mein eigenes Überleben schreiben würde.
Die Bomben sind verstummt. Der Himmel, einst erfüllt von Feuer und Rauch, liegt nun in gespenstischer Stille. Das Heulen der Sirenen, die ratternden Ambulanzen, die Schreie – alles verblasst. Die mit Blut getränkten Strassen sind nur noch Trümmer.
Aus Erfahrung wusste ich: Wenn ein Krieg endet, eskaliert das Töten. Die Israelis versuchen verzweifelt, noch mehr Leben zu fordern, bevor die Welt sie zum Aufhören zwingt.
Der Waffenstillstand wurde erklärt, doch seine Zerbrechlichkeit lastet wie ein drohender Schatten über uns. Jederzeit könnten die Verhandlungen scheitern und das Grauen zurückkehren. Aber für den Moment atme ich. Ich existiere. Ich habe überlebt.
470 Tage Genozid. 470 Tage, in denen ich dem Tod nur knapp entkommen bin. In denen ich Panzergranaten ausgewichen, in einer ausgehungerten Landschaft nach Nahrung gesucht, verseuchtes Wasser getrunken und unzählige Nächte in notdürftigen Zelten gezittert habe. Der Verlust, der Schmerz, die Angst – ich habe alles überlebt. Doch das Überleben hat seinen Preis, und die schwerste Last ist die Schuld.
Warum lebe ich noch, während Hunderttausende nicht mehr da sind? Die Schuld des Überlebens haftet wie eine zweite Haut an mir.

Meine Cousinen und Cousins, meine besten Freund*innen, meine Nachbar*innen, meine Professor*innen – ausgelöscht. Ihr Lachen, ihre Träume, ihre Präsenz sind nur noch Erinnerungen und Staub. Wie kann ich weitergehen, wenn sie es nicht mehr können? Ich flüstere ihre Namen, ein stilles Versprechen: Wir schulden euch etwas. Wir werden euch nicht vergessen.
Der Genozid mag zum Stillstand gekommen sein, doch das Leiden hält an.
Am 15. Januar 2025 wurde bekannt gegeben, dass der Waffenstillstand am 19. beginnen würde. Eigentlich hätte mich diese Nachricht erleichtern sollen, doch stattdessen erfüllte mich nur Furcht vor den verbleibenden Tagen. Aus Erfahrung wusste ich: Wenn ein Krieg endet, eskaliert das Töten. Die Israelis versuchen verzweifelt, noch mehr Leben zu fordern, bevor die Welt sie zum Aufhören zwingt. Schlaf fand ich keinen. Stattdessen lag ich wach, zählte die Stunden, betete darum, bis Sonntag durchzuhalten.
Und dann kam er.
Wir rannten auf unsere Heimat und Erinnerungen zu, die nicht mehr existierten. Auf Leichen, die noch unter den Trümmern begraben waren. Auf eine Stadt, die von der Landkarte getilgt worden war.
Der Klang von Jubel, Applaus und Tränen erfüllte die Luft. In den Lagern um uns herum tanzten die Menschen, hielten sich in den Armen. Auch wir – meine Familie und ich – klammerten uns aneinander, unsere Körper bebten vor Freude und Unglauben zugleich. Wir lebten noch.
Sieben endlose Tage vergingen, bis wir endlich nach Hause zurückkehren durften – sieben Tage voller Unruhe, Sehnsucht und der quälenden Frage, was von unserem früheren Leben noch übrig war. Es fühlte sich an wie das Warten auf meine eigene Befreiung, auf meine Freiheit, auf mein Zuhause.
Nach 15 Monaten der Vertreibung, in denen ich von Lager zu Lager zog, immer wieder evakuiert wurde und dem Überleben wie einer Fata Morgana hinterherjagte, trat ich endlich den Weg nach Hause an.
Ich rannte.
Ich rannte, als könnte mich die Zeit verraten, als könnte sich der Grenzübergang jeden Moment wieder schliessen, bevor ich die andere Seite erreichte. Meine Beine schmerzten, meine Lunge brannte, aber ich hielt nicht an. Ich war nicht allein – 300’000 von uns rannten gemeinsam. Einige zu Fuss, andere in Autos, gefangen in endlosen Staus. Doch die meisten warteten nicht und liessen ihre Fahrzeuge zurück. Unter Tränen liefen wir weiter, getrieben von der verzweifelten Hoffnung, noch einen Blick auf das zu erhaschen, was von unserer Welt geblieben war.
Wir rannten auf unsere Heimat und Erinnerungen zu, die nicht mehr existierten. Auf Leichen, die noch unter den Trümmern begraben waren. Auf eine Stadt, die von der Landkarte getilgt worden war.
Aber wie baut man wieder auf, was einem genommen wurde? Wie erobert man ein Haus zurück, das sich nicht mehr wie das eigene anfühlt?
Während des Genozids hatten mir meine Nachbar*innen Bilder geschickt – von meiner Strasse, meiner Nachbarschaft, meinem Haus. Doch nichts hätte mich auf den Anblick vorbereiten können, der mich erwartete. Die Stadt war nicht wiederzuerkennen. Strassen waren verschwunden, Orientierungspunkte ausradiert. Wir irrten umher in einem Ort, den wir ein Leben lang unser Zuhause genannt hatten.
Ich fragte Fremde, ob wir hier richtig waren, ob dies wirklich unsere Nachbarschaft war. Sie nickten. Ich starrte fassungslos.
Dann sah ich mein Zuhause.

Es stand noch – aber kaum. Zerbrochene Fenster, fehlende Türen, Einschusslöcher in den Wänden. Als ich eintrat, fühlte es sich an, als würde mir ein Messer ins Herz gerammt. Die Stille war erdrückend. Der Staub, die Zerstörung, die Leere – das hier war nicht mehr mein Zuhause. Es war ein Friedhof der Erinnerungen.
Vor meinem inneren Auge sah ich die Fotos unserer Kindheit, hörte das Echo unseres Lachens. Ich stellte mir vor, wie meine Schwester Dalia und mein Bruder Hisham bei uns waren – auch wenn sie meilenweit entfernt sind, glücklicherweise evakuiert, sicher, aber unerreichbar. Und dann brach ich unter der Last von all dem zusammen.
Unser Haus ist nicht bewohnbar. Es muss repariert, gereinigt und wieder aufgebaut werden. Bis dahin wohnen wir woanders. Aber wie baut man wieder auf, was einem genommen wurde? Wie erobert man ein Haus zurück, das sich nicht mehr wie das eigene anfühlt?
Gaza braucht die Welt jetzt mehr denn je. Sprecht weiter über uns. Nur weil die Bomben verstummt sind, heisst das nicht, dass das Leiden vorbei ist.
Und dann sah ich die Menschen, die im Norden geblieben waren. Sie waren nicht wiederzuerkennen. Blass, dünn, älter als ihre Jahre. Meine Freund*innen hatten eingefallene Gesichter, meine Nachbar*innen hatten hohle Augen. Der Völkermord hat nicht nur Menschenleben ausgelöscht, er hat auch die Seelen der Lebenden ausgesaugt.
Gaza ist nicht mehr dasselbe.
Wir sind nicht mehr dieselben.
Dies ist nicht das Ende. Dies ist der Anfang. Der Anfang der Trauer, des Heilens, des Versuchs, das Unfassbare zu begreifen.
Für eine lange Zeit haben wir unsere Emotionen zurückgehalten, zu sehr damit beschäftigt zu überleben, um zu fühlen. Doch nun gibt es Raum für die Flut.

Ich muss in meinem Zimmer sitzen und um alles weinen, was ich verloren habe. Ich muss um alles schreien, was mir geblieben ist. Ich muss trauern, loslassen, die Last von 470 Tagen Genozid und Vertreibung verarbeiten.
Überleben heisst aber nicht nur atmen, sondern auch lernen, wieder zu leben.
Wie lässt sich ein Leben aus dem Nichts aufbauen? Wie kann man ohne ein Zuhause, ohne eine Stadt, ohne die vertrauten Strassen der Kindheit existieren? Der Genozid hat aufgehört, aber der Kampf geht in einer anderen Form weiter.
Die Tötungsmaschine ist zum Stillstand gekommen, aber der Schaden verbleibt. Er bleibt in den Ruinen meines Hauses, in der Leere der Strassen, in den gequälten Augen meiner Leute. Er haftet in mir.
Gaza braucht die Welt jetzt mehr denn je. Sprecht weiter über uns. Nur weil die Bomben verstummt sind, heisst das nicht, dass das Leiden vorbei ist. Wir brauchen mehr Hilfe – mehr medizinische Evakuierungen, mehr Unterkünfte für die Tausenden, die auf den Strassen schlafen. Lasst nicht zu, dass die Welt sich abwendet.
Gaza, der Phönix – so wird es genannt und so wird es immer sein.
Israel erklärte sich bereit, mehr Hilfe, Lebensmittel und Baumaterialien zuzulassen. Sie versprachen, die Grenzen zu öffnen, unterzeichneten Abkommen und machten Zusicherungen. Doch nichts hat sich geändert. Keine dieser Versprechungen wurde erfüllt. Die Lieferungen stocken, die Menschen hungern weiter, die Krankenhäuser bleiben überlastet, und der Wiederaufbau des Gazastreifens ist nichts als ein leeres Versprechen.
Und während wir versuchen, alles wieder aufzubauen, leben wir mit der Angst,
dass sich das alles wiederholen könnte. Dass die Welt eines Tages schweigend zusehen wird, wie Gaza erneut brennt.
Und jetzt ist die Rede davon, Gaza in eine US-Kolonie zu verwandeln. Als ob wir keine Menschen wären, als ob wir nicht existierten, als ob sie über unser Schicksal ohne uns entscheiden könnten. Das ist Wahnsinn. Es ist ein Verbrechen. Und wir werden es nicht zulassen.
Wir träumen vom Wiederaufbau, davon, das Verlorene wiederherzustellen. Aber wir wissen nicht, wann oder ob das jemals möglich sein wird. Alles, was wir haben, ist Hoffnung, eine zerbrechliche, brennende Glut in der Dunkelheit. Die Hoffnung, dass Gaza eines Tages wieder auferstehen wird.
Gaza, der Phönix – so wird es genannt und so wird es immer sein.
Sie haben versucht, uns auszulöschen, aber wir sind noch da.
Ich bin noch immer hier.
Jetzt muss ich wieder lernen, zu leben.
Es ist zu viel.
Die Gefühle strömen aus mir heraus wie eine Explosion.
Und doch bin ich hier.
Ich habe überlebt.
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