470 Tage Genozid aber wir sind noch hier

Serena Awad hat alle bishe­rigen Angriffe auf Gaza über­lebt. In diesem Essay schil­dert sie ihre unver­hoffte Rück­kehr in ihre zerstörte Heimat nach dem vermeint­li­chen Waffen­still­stand und fragt sich, wie sie ihr Leben aus dem Nichts wieder­auf­bauen kann. 
Serena Awad inmitten von Trümmern im Viertel al Sheikh Radwan im Norden von Gaza. (Bild: zVg)

10. Februar, 2025:

Ich hätte nie gedacht, dass ich eines Tages über mein eigenes Über­leben schreiben würde.

Die Bomben sind verstummt. Der Himmel, einst erfüllt von Feuer und Rauch, liegt nun in gespen­sti­scher Stille. Das Heulen der Sirenen, die ratternden Ambu­lanzen, die Schreie – alles verblasst. Die mit Blut getränkten Strassen sind nur noch Trümmer.

Aus Erfah­rung wusste ich: Wenn ein Krieg endet, eska­liert das Töten. Die Israelis versu­chen verzwei­felt, noch mehr Leben zu fordern, bevor die Welt sie zum Aufhören zwingt.

Der Waffen­still­stand wurde erklärt, doch seine Zerbrech­lich­keit lastet wie ein drohender Schatten über uns. Jeder­zeit könnten die Verhand­lungen schei­tern und das Grauen zurück­kehren. Aber für den Moment atme ich. Ich existiere. Ich habe überlebt.

470 Tage Genozid. 470 Tage, in denen ich dem Tod nur knapp entkommen bin. In denen ich Panzer­gra­naten ausge­wi­chen, in einer ausge­hun­gerten Land­schaft nach Nahrung gesucht, verseuchtes Wasser getrunken und unzäh­lige Nächte in notdürf­tigen Zelten gezit­tert habe. Der Verlust, der Schmerz, die Angst – ich habe alles über­lebt. Doch das Über­leben hat seinen Preis, und die schwerste Last ist die Schuld.

Warum lebe ich noch, während Hundert­tau­sende nicht mehr da sind? Die Schuld des Über­le­bens haftet wie eine zweite Haut an mir.

Serena Awad schreibt über ihre eigene Geschichte – und die Millionen anderer Palästinenser*innen. (Bild: zVg)

Meine Cousinen und Cousins, meine besten Freund*innen, meine Nachbar*innen, meine Professor*innen – ausge­löscht. Ihr Lachen, ihre Träume, ihre Präsenz sind nur noch Erin­ne­rungen und Staub. Wie kann ich weiter­gehen, wenn sie es nicht mehr können? Ich flüstere ihre Namen, ein stilles Verspre­chen: Wir schulden euch etwas. Wir werden euch nicht vergessen.

Der Genozid mag zum Still­stand gekommen sein, doch das Leiden hält an.

Am 15. Januar 2025 wurde bekannt gegeben, dass der Waffen­still­stand am 19. beginnen würde. Eigent­lich hätte mich diese Nach­richt erleich­tern sollen, doch statt­dessen erfüllte mich nur Furcht vor den verblei­benden Tagen. Aus Erfah­rung wusste ich: Wenn ein Krieg endet, eska­liert das Töten. Die Israelis versu­chen verzwei­felt, noch mehr Leben zu fordern, bevor die Welt sie zum Aufhören zwingt. Schlaf fand ich keinen. Statt­dessen lag ich wach, zählte die Stunden, betete darum, bis Sonntag durchzuhalten.

Und dann kam er.

Wir rannten auf unsere Heimat und Erin­ne­rungen zu, die nicht mehr existierten. Auf Leichen, die noch unter den Trüm­mern begraben waren. Auf eine Stadt, die von der Land­karte getilgt worden war.

Der Klang von Jubel, Applaus und Tränen erfüllte die Luft. In den Lagern um uns herum tanzten die Menschen, hielten sich in den Armen. Auch wir – meine Familie und ich – klam­merten uns anein­ander, unsere Körper bebten vor Freude und Unglauben zugleich. Wir lebten noch.

Sieben endlose Tage vergingen, bis wir endlich nach Hause zurück­kehren durften – sieben Tage voller Unruhe, Sehn­sucht und der quälenden Frage, was von unserem früheren Leben noch übrig war. Es fühlte sich an wie das Warten auf meine eigene Befreiung, auf meine Frei­heit, auf mein Zuhause.

Nach 15 Monaten der Vertrei­bung, in denen ich von Lager zu Lager zog, immer wieder evaku­iert wurde und dem Über­leben wie einer Fata Morgana hinter­her­jagte, trat ich endlich den Weg nach Hause an.

Ich rannte.

Ich rannte, als könnte mich die Zeit verraten, als könnte sich der Grenz­über­gang jeden Moment wieder schliessen, bevor ich die andere Seite erreichte. Meine Beine schmerzten, meine Lunge brannte, aber ich hielt nicht an. Ich war nicht allein – 300’000 von uns rannten gemeinsam. Einige zu Fuss, andere in Autos, gefangen in endlosen Staus. Doch die meisten warteten nicht und liessen ihre Fahr­zeuge zurück. Unter Tränen liefen wir weiter, getrieben von der verzwei­felten Hoff­nung, noch einen Blick auf das zu erha­schen, was von unserer Welt geblieben war.

Wir rannten auf unsere Heimat und Erin­ne­rungen zu, die nicht mehr existierten. Auf Leichen, die noch unter den Trüm­mern begraben waren. Auf eine Stadt, die von der Land­karte getilgt worden war.

 Aber wie baut man wieder auf, was einem genommen wurde? Wie erobert man ein Haus zurück, das sich nicht mehr wie das eigene anfühlt?

Während des Geno­zids hatten mir meine Nachbar*innen Bilder geschickt – von meiner Strasse, meiner Nach­bar­schaft, meinem Haus. Doch nichts hätte mich auf den Anblick vorbe­reiten können, der mich erwar­tete. Die Stadt war nicht wieder­zu­er­kennen. Strassen waren verschwunden, Orien­tie­rungs­punkte ausra­diert. Wir irrten umher in einem Ort, den wir ein Leben lang unser Zuhause genannt hatten.

Ich fragte Fremde, ob wir hier richtig waren, ob dies wirk­lich unsere Nach­bar­schaft war. Sie nickten. Ich starrte fassungslos.

Dann sah ich mein Zuhause.

Das zerstörte Zuhause von Serena, in dem sie 20 Jahre lang gelebt hat. (Bild: Serena Awad)

Es stand noch – aber kaum. Zerbro­chene Fenster, fehlende Türen, Einschuss­lö­cher in den Wänden. Als ich eintrat, fühlte es sich an, als würde mir ein Messer ins Herz gerammt. Die Stille war erdrückend. Der Staub, die Zerstö­rung, die Leere – das hier war nicht mehr mein Zuhause. Es war ein Friedhof der Erinnerungen.

Vor meinem inneren Auge sah ich die Fotos unserer Kind­heit, hörte das Echo unseres Lachens. Ich stellte mir vor, wie meine Schwe­ster Dalia und mein Bruder Hisham bei uns waren – auch wenn sie meilen­weit entfernt sind, glück­li­cher­weise evaku­iert, sicher, aber uner­reichbar. Und dann brach ich unter der Last von all dem zusammen.

Unser Haus ist nicht bewohnbar. Es muss repa­riert, gerei­nigt und wieder aufge­baut werden. Bis dahin wohnen wir woan­ders. Aber wie baut man wieder auf, was einem genommen wurde? Wie erobert man ein Haus zurück, das sich nicht mehr wie das eigene anfühlt?

Gaza braucht die Welt jetzt mehr denn je. Sprecht weiter über uns. Nur weil die Bomben verstummt sind, heisst das nicht, dass das Leiden vorbei ist.

Und dann sah ich die Menschen, die im Norden geblieben waren. Sie waren nicht wieder­zu­er­kennen. Blass, dünn, älter als ihre Jahre. Meine Freund*innen hatten einge­fal­lene Gesichter, meine Nachbar*innen hatten hohle Augen. Der Völker­mord hat nicht nur Menschen­leben ausge­löscht, er hat auch die Seelen der Lebenden ausgesaugt.

Gaza ist nicht mehr dasselbe.

Wir sind nicht mehr dieselben.

Dies ist nicht das Ende. Dies ist der Anfang. Der Anfang der Trauer, des Heilens, des Versuchs, das Unfass­bare zu begreifen.

Für eine lange Zeit haben wir unsere Emotionen zurück­ge­halten, zu sehr damit beschäf­tigt zu über­leben, um zu fühlen. Doch nun gibt es Raum für die Flut.

Der Blick aus der Wohnung von Serenas Familie in Gaza City, in der sie momentan wohnt. (Bild: Serena Awad)

Ich muss in meinem Zimmer sitzen und um alles weinen, was ich verloren habe. Ich muss um alles schreien, was mir geblieben ist. Ich muss trauern, loslassen, die Last von 470 Tagen Genozid und Vertrei­bung verarbeiten.

Über­leben heisst aber nicht nur atmen, sondern auch lernen, wieder zu leben.

Wie lässt sich ein Leben aus dem Nichts aufbauen? Wie kann man ohne ein Zuhause, ohne eine Stadt, ohne die vertrauten Strassen der Kind­heit existieren? Der Genozid hat aufge­hört, aber der Kampf geht in einer anderen Form weiter. 

Die Tötungs­ma­schine ist zum Still­stand gekommen, aber der Schaden verbleibt. Er bleibt in den Ruinen meines Hauses, in der Leere der Strassen, in den gequälten Augen meiner Leute. Er haftet in mir.

Gaza braucht die Welt jetzt mehr denn je. Sprecht weiter über uns. Nur weil die Bomben verstummt sind, heisst das nicht, dass das Leiden vorbei ist. Wir brau­chen mehr Hilfe – mehr medi­zi­ni­sche Evaku­ie­rungen, mehr Unter­künfte für die Tausenden, die auf den Strassen schlafen. Lasst nicht zu, dass die Welt sich abwendet.

Gaza, der Phönix – so wird es genannt und so wird es immer sein.

Israel erklärte sich bereit, mehr Hilfe, Lebens­mittel und Bauma­te­ria­lien zuzu­lassen. Sie verspra­chen, die Grenzen zu öffnen, unter­zeich­neten Abkommen und machten Zusi­che­rungen. Doch nichts hat sich geän­dert. Keine dieser Verspre­chungen wurde erfüllt. Die Liefe­rungen stocken, die Menschen hungern weiter, die Kran­ken­häuser bleiben über­la­stet, und der Wieder­aufbau des Gaza­strei­fens ist nichts als ein leeres Versprechen.

Und während wir versu­chen, alles wieder aufzu­bauen, leben wir mit der Angst, 

dass sich das alles wieder­holen könnte. Dass die Welt eines Tages schwei­gend zusehen wird, wie Gaza erneut brennt.

Und jetzt ist die Rede davon, Gaza in eine US-Kolonie zu verwan­deln. Als ob wir keine Menschen wären, als ob wir nicht existierten, als ob sie über unser Schicksal ohne uns entscheiden könnten. Das ist Wahn­sinn. Es ist ein Verbre­chen. Und wir werden es nicht zulassen.

Wir träumen vom Wieder­aufbau, davon, das Verlo­rene wieder­her­zu­stellen. Aber wir wissen nicht, wann oder ob das jemals möglich sein wird. Alles, was wir haben, ist Hoff­nung, eine zerbrech­liche, bren­nende Glut in der Dunkel­heit. Die Hoff­nung, dass Gaza eines Tages wieder aufer­stehen wird.

Gaza, der Phönix – so wird es genannt und so wird es immer sein.

Sie haben versucht, uns auszu­lö­schen, aber wir sind noch da.

Ich bin noch immer hier.

Jetzt muss ich wieder lernen, zu leben.

Es ist zu viel.

Die Gefühle strömen aus mir heraus wie eine Explosion.

Und doch bin ich hier.

Ich habe überlebt.


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