Der Wahlkampf ist bald vorbei – und mit ihm die Zeit der grinsenden Allwetterplakate, der lauwarmen Politskandale und der generösen Porträts in Überlänge. Der Wahlzirkus in der Schweiz hat seinen Zenit bereits überschritten. Die Wahlmaschinerie wird hierzulande selten bis zum Abstimmungssonntag betrieben. Längst diskutiert man darüber, was man von der anstehenden Legislatur erwarten kann.
Das ist typisch schweizerisch; genauso typisch, wie die Artikel und Politiker*innen, die die Wähler*innen jetzt daran erinnern, dass selbst das Frauen*- und Klimawahljahr nicht gross etwas ändern wird. Klar, die grünen Parteien werden zulegen – die Grünen könnten gar die CVP überflügeln. Und ja, das Parlament wird nominell linker und weiblicher, wobei auch das wenig am soliden bürgerlichen Männerblock ändern wird.
Das kann man in dem Jahr, in dem gerade junge Frauen* die Klima- und Frauen*bewegung wiederbelebt haben und sie mit ungeahntem Erfolg anführen, ernüchternd finden. Oder man kann ein Loblied auf die pragmatische Kompromisskultur der Schweiz singen. „Das Bemerkenswerteste an eidgenössischen Wahlen ist, wie wenig sie unter dem Strich verändern”, schrieb etwa Tages-Anzeiger-Chefredakteurin Judith Wittwer in einem Leitartikel vergangenen Samstag. Unser politisches System sei zwar langweilig, aber gut. „Es lässt kein Durchmarschieren zu.” Der abtretende Ständerat Konrad Graber (CVP) warnte unlängst vor einer zunehmenden Polarisierung und warb für noch mehr Miteinander: „Die Polparteien werden für ihre Extrempositionen belohnt.”
In der Schweiz gibt es halt keine grossen Veränderungen, sondern kleine, hart erkämpfte Kompromisse. So sieht die Schweizer Politik sich gerne. Doch die letzten Wochen und Monate haben wieder einmal deutlich gezeigt, dass die vermeintlich unaufgeregte und gemässigte Konsenspolitik nur ein Trugbild ist. Denn die Schweiz ist nicht pragmatisch – vorauseilender Gehorsam vor dem rechtsbürgerlichen Status quo führt viel eher dazu, dass sie im europäischen Vergleich oft Extrempositionen einnimmt.
Wie viele Kompromisse verträgt ein Kompromiss?
Ein Beispiel gefällig? Als die Initiative für einen Vaterschaftsurlaub im Mai 2016 lanciert wurde, war der Tenor der Initiant*innen klar: Das Volksbegehren sei bereits ein „gutschweizerischer, vernünftiger Kompromiss“. Mit vier Wochen wäre die Schweiz immer noch fernab vom OECD-Durchschnitt. Aber immerhin, ein erster Schritt.
Doch dann beschloss das Parlament einen bezahlten, zweiwöchigen Vaterschaftsurlaub als indirekten Gegenvorschlag. Ein Witz, oder wie viele Kompromisse verträgt ein gutschweizerischer Kompromiss, bis er zur Makulatur wird? Scheinbar viel, denn die Initiant*innen zogen das äusserst beliebte Begehren zurück – und klopften sich für den „realpolitischen Erfolg“ auf die Schulter. Dass sich die Schweiz so weiterhin am Tabellenende in der Familienfreundlichkeit in Europa befindet, wird zur Nebensache.
Ähnlich unrühmlich wird mit der Konzernverantwortungsinitiative (KOVI) umgegangen. Das Anliegen ist selbst bereits ein Kompromiss, international fährt die Schweiz mit ihrem Artenschutz für Konzerne, die systematisch Menschenrechte verletzen, seit Jahren ein Alleingang. Die Konzernverantwortungsinitiative will das ändern, ist aber selber eigentlich bereits ein vorauseilender Kompromiss: Für die Unternehmen stünde mit deren Annahme weniger die Pflicht zum Schutz der Menschenrechte und der Umwelt im Mittelpunkt, sondern die Pflicht zur Sorgfaltsprüfung.
Ein Kompromiss, der sich auszahlt – vermeintlich. Die KOVI erhält zwar in allen Umfragen konsequent hohe Zustimmung. Trotzdem arbeitete der Nationalrat einen Gegenvorschlag aus, der laut einigen Expert*innen gar ein Rückschritt zu heute geltendem Recht sei. Als wäre das nicht bereits genug, vertagte der Ständerat dank eines Ordnungsantrags von Ruedi Noser (FDP) die Behandlung des Gegenvorschlags auf nach den Wahlen. Noch ist unklar, ob der Ständerat den Gegenvorschlag weiter verwässert.
Und selbst mit der STAF, der scheinbar grossen Errungenschaft der linken Mitte in der vergangenen Legislatur, verhält es sich ähnlich. In der AHV-Debatte hat man das bürgerliche Schreckgespenst einer ominösen Finanzierungslücke geschluckt, beim Steuerteil – mit wenigen Ausnahmen – die Rahmenbedingungen für den internationalen Steuerwettbewerb erneuert. Dass einige SP-Exponent*innen weiterhin behaupten, so würde der internationale Steuerwettbewerb eingedämmt, kann wohlwollend als pragmatische Rechtfertigung für einen wenig schmeichelhaften Kompromiss gedeutet werden. Oder weniger gnädig als Resignation und Akzeptanz einer ruinösen Steuerpolitik, die den internationalen Wettbewerb weiter anheizt.
„Gefährlich für den Wirtschaftsstandort” und „zu extrem“?
Egal ob Gleichstellung, internationale Gerechtigkeit oder Steuerpolitik: Das politische System der Schweiz, mit seiner Behäbigkeit und seinem Bedacht auf Kompromisse, garantiert keine pragmatischen Lösungen. Im Gegenteil: Die vorauseilende Kompromissbereitschaft und die bürgerliche Angstmacherei vor zu grossen Veränderungen führen paradoxerweise dazu, dass die Schweiz oft in Extrempositionen stecken bleibt.
Natürlich hat das Schweizer System mit seiner Verlässlichkeit und Stabilität auch viele Vorteile. Ständige Regierungswechsel und grosse Verschiebungen in den Parlamenten können zu Chaos führen; oft werden die Erfolge der vorhergehenden Regierung sofort wieder rückgängig gemacht. Das droht der Schweiz nicht. Vernehmlassungen und Referendumsfristen, Initiativen und Mitwirkungsverfahren auf Bundes‑, Kantons- und Gemeindeebene sorgen zudem dafür, dass sich möglichst verschiedene Interessensvertreter*innen zu fast allen politischen Themen äussern können. Und auch wenn beeinträchtigte Menschen, Sexarbeiter*innen und Migrant*innen weit weniger starke Lobbys an ihrer Seite wissen als Konzerne, Bäuer*innen, Militär- und Polizeiinteressen: Kaum irgendwo sonst kann ein derart grosser Anteil der Bevölkerung am Gesetzgebungsprozess teilnehmen.
Wenn aber Volksinitiativen bereits als Kompromisse ausgestaltet werden, nur damit sie in einer monatelangen medialen und politischen Diskussion dann trotzdem als „zu extrem” und „gefährlich für den Wirtschaftsstandort” abgestempelt werden, ist das bedenklich, aber die logische Konsequenz daraus, dass beinahe alle Volksinitiativen in der Vergangenheit abgelehnt wurden. Dass diese Kompromisse dann aber im Parlament weiter verwässert werden und manchmal gar nicht mehr zur Abstimmung kommen, ist ein Skandal.
Eigentlich ist es also an der Zeit, dass die Schweiz sich von einigen Kompromissen verabschiedet. In einem Land, in dem die politische Mitte des Parlaments so weit rechts liegt, dass schon eine Sorgfaltspflicht für Grosskonzerne mit Blut an den Händen als linker Erfolg gewertet wird, sind Kompromisse nicht mehr „pragmatisch”. Sondern oftmals vor allem ein Einknicken vor stramm bürgerlicher Politik.
Im europäischen Vergleich sind „gutschweizerische“ Kompromisse meist weder pragmatisch noch vernünftig, sondern extrem rückständig. Doch stattdessen freut man sich kurz vor dem 20. Oktober lieber darüber, dass auch diese Wahlen wieder nichts verändern werden – und ignoriert, wie weit rechts der politische Diskurs hierzulande stattfindet. Schliesslich verträgt diese Schweiz keine grossen Veränderungen. Das hat auch der Demos verinnerlicht und sorgt so – wohl oder übel – für die selbsterfüllende Prophezeiung.
Transparenz: Der Autor sitzt für eine regionale Jungpartei im Gemeindeparlament von Olten in einer Fraktion mit der SP. Er ist aber weder Mitglied der SP Schweiz noch der SP Olten.
Journalismus kostet
Die Produktion dieses Artikels nahm 11 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 832 einnehmen.
Als Leser*in von das Lamm konsumierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demokratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produktion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rechnung sieht so aus:
Wir haben einen Lohndeckel bei CHF 22. Die gewerkschaftliche Empfehlung wäre CHF 35 pro Stunde.
CHF 385 → 35 CHF/h für Lohn der Schreibenden, Redigat, Korrektorat (Produktion)
CHF 187 → 17 CHF/h für Fixkosten (Raum- & Servermiete, Programme usw.)
CHF 260 pro Artikel → Backoffice, Kommunikation, IT, Bildredaktion, Marketing usw.
Weitere Informationen zu unseren Finanzen findest du hier.
Solidarisches Abo
Nur durch Abos erhalten wir finanzielle Sicherheit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unterstützt du uns nachhaltig und machst Journalismus demokratisch zugänglich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.
Ihr unterstützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorgfältig recherchierte Informationen, kritisch aufbereitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unabhängig von ihren finanziellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Journalismus abseits von schnellen News und Clickbait erhalten.
In der kriselnden Medienwelt ist es ohnehin fast unmöglich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkommerziell ausgerichtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugänglich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure solidarischen Abos angewiesen. Unser Lohn ist unmittelbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kritischen Journalismus für alle.
Einzelspende
Ihr wollt uns lieber einmalig unterstützen?