Réduit der Ignoranz

Dass Skige­biete auch während Corona offen haben, ist poli­ti­scher Zynismus. Dahinter zeigt sich das grund­le­gende Problem der wohl­ha­benden Gesell­schaft: die igno­rante Menta­lität. Eine Polemik. 

„Wer fährt während einer Pandemie Ski?”, fragt man sich verwun­dert auf dem Perron des Bahn­hofes einer Schweizer Gross­stadt ob den staksig gehenden Roboter-Menschen in grünen Jacken, gelben Hosen und einem kugel­runden Helm auf dem Kopf. Klar: Im Normal­fall wäre es kein Problem, das Skifahren.

Im Normal­fall will diesen Menschen niemand verübeln, mit ein oder zwei Bret­tern einen eisigen Steil­hang runter­zu­kurven, in einem „Tipi”-Zelt zu schlechter Musik heissen Punsch über die Hände zu verschütten oder vor dem nebligen Alltag in die Erin­ne­rung an sorgen­freie Skilager-Zeiten der fünften Klasse zu fliehen.

Aber jetzt ist bereits seit einem Jahr nicht mehr Normal­fall, und trotzdem:

Die Bilder von Menschen­massen, die ohne Abstand auf ihren Sessel­lift warten, zeigen, dass viele auch während einer tödli­chen Pandemie nicht auf ihren Winter­sport verzichten wollen. Das heisst im gesamt­ge­sell­schaft­li­chen Kontext: nicht so viele. Denn Skifahren in der Schweiz ist verdammt teuer. Wer sich auch ausser­halb von Corona-Zeiten Skifahr-Skills und die Kosten für Abo, Ausrü­stung, Unter­kunft und Reise leisten will, muss tief in die Tasche greifen.

Einer 2019 erschie­nenen Studie der Bank CLER zufolge kostet eine Woche Skifahren für „ein Paar mit geho­benen Ansprü­chen” zwischen 2’369 Franken (Hoch-Ybrig) und 6’153 Franken (Verbier), für eine vier­köp­fige Familie zwischen 2’988 Franken (Hoch-Ybrig) und 5’000 Franken (Zermatt). In Anbe­tracht solcher Preise kann eine Mehr­heit der Bevöl­ke­rung die Möglich­keit auf Skiur­laub gar nicht erst in Betracht ziehen. Skifahren in der Schweiz ist ein Klassenprivileg.

Damit sich die Privi­le­gierten dieses Landes zu Status-Abfahrten auf blauen Pisten treffen können, legt sich der Bundesrat mächtig ins Zeug. Während die ganze Schweiz still­steht – und somit auch die wenigen Frei­zeit­be­schäf­ti­gungen, die für Armuts­be­trof­fene offen­stehen –, werben die Skige­biete mit szeni­schen Bildern von schnee­ver­han­genen Bergen.

Auch während Corona möglich: Skifahren mit Panora­ma­blick (Foto: Xavier von Erlach, Unsplash)

Dass dem Bundesrat die Frei­zeit­be­schäf­ti­gung von Privi­le­gierten wich­tiger ist als der Schutz von Menschen­leben, ist zynisch, doch die öffent­liche Empö­rung darüber ist glei­cher­massen heuch­le­risch: Die Siche­rung von Klas­sen­pri­vi­le­gien ist seit Beginn der Pandemie ein Fokus der bundes­rät­li­chen Coronapolitik.

Anschei­nend haben wir uns aber daran gewöhnt, dass es der grotesken Symbolik skifah­render Tourist:innen im Shut­down bedarf, um Empö­rung in der Schweizer Medi­en­land­schaft hervor­zu­rufen. Während Privi­le­gierte gemüt­lich vom Home­of­fice aus weiter­ar­beiten, den vollen Lohn beziehen oder mit genü­gend Abstand in der ersten Klasse zur Arbeit fahren können, sind Pfle­ge­per­sonal, Sex- und Bauarbeiter:innen, Sans-Papiers oder Verkäufer:innen perma­nent ökono­mi­schen und gesund­heit­li­chen Gefahren ausgesetzt.

Statt über die Situa­tion und mögliche Entschä­di­gung von nicht-privi­le­gierten Menschen zu disku­tieren, dreht sich der öffent­liche Diskurs plötz­lich um die Frage, ob der Winter­sport eine spezi­elle Stel­lung in der Schweiz inne­habe und deshalb keinen Einschrän­kungen unter­liegen dürfe.

Die direkten Auswir­kungen dieser leider erfolg­rei­chen folk­lo­ri­sti­schen Über­hö­hung einer nicht system­re­le­vanten Frei­zeit­be­schäf­ti­gung zeigt sich in den Corona-Ausbrü­chen in Berg­dör­fern wie Wengen oder St. Moritz.

Viel wurde über die Hotel­gäste geschrieben, die jetzt in Luxus­ho­tels fest­sitzen. Dass aber wegen genau diesen Tourist:innen nun auch Hotel­mit­ar­bei­tende in Quaran­täne geschickt werden und womög­lich sogar ange­steckt wurden, wird geflis­sent­lich ausge­klam­mert. Die vor Ort lebenden Menschen müssen Schul- und Kita­schlies­sungen hinnehmen und sich Massen­tests unter­ziehen. Dass das so kommen würde, war schon im Dezember klar. Doch statt über die Gefahren für die Betrof­fenen vor Ort zu spre­chen, drehten sich die Kommen­tare beispiels­weise um mora­li­sche Pro- und Contra-Argu­mente zum Skiur­laub.

Die Folge davon: Trotz Empö­rung gehen Menschen Ski fahren. Während einer Pandemie. Sturm­artig. Hier zeigen sich die Grenzen der Eigen­ver­ant­wor­tung: Eine Infek­ti­ons­kurve lässt sich nun einmal nicht zum Null­punkt empören. Die einzige Möglich­keit wäre: Der Bundesrat schliesst die Skige­biete. Doch er tut es nicht.

Wenn wohl­ha­bende Kreise in einer beispiel­losen Krise ihre zula­sten anderer Menschen fallenden Privi­le­gien hoch­halten, dann ist das zynisch und igno­rant. Menschen, die hier­zu­lande im Wohl­stand leben, wollen diesen bewahren. Am besten geht das dort, wo man den Alltag der anderen vergessen und über das alltäg­liche Leid hinweg­blicken kann. Dort, wo man sich sicher wähnt vor den Problemen der anderen. Dass diese Menta­lität auch in Corona-Zeiten weiter­be­steht, ist nicht über­ra­schend. Dass der Bundesrat dies nicht als Anlass sieht, Mass­nahmen zu ergreifen, jedoch schon.

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