Sozialdetektiv:innen: Freie Fahrt für die Parallelpolizei

Wie verbreitet ist Sozi­al­hil­fe­be­trug im Kanton Zürich? Nicht wirk­lich. Trotzdem stimmt die Zürcher Stimm­be­völ­ke­rung am 7. März 2021 über Sozialdetektiv:innen ab. Wieso? 
Empfindliche Eingriffe in die Grundrechte von Armutsbetroffenen. (CC by David Sinclair/ Unsplash )

Robert sitzt auf einer Bank in der Bäcker­an­lage, die an diesem ersten sonnigen Wochen­ende seit Langem wieder einmal gut besucht ist, und umklam­mert sein Smart­phone. Dort hat er all die Auffor­de­rungen gespei­chert, die ihm das Sozi­alamt seit Monaten schreibt.

Robert ist nicht sein rich­tiger Name und er möchte auch nicht, dass unser Gespräch aufge­nommen wird – zu gross sei die Angst vor dem Sozi­al­dienst. Er spricht von Psycho­terror und fühlt sich behan­delt wie ein Schwerverbrecher.

Das Delikt: Er bezieht Sozialhilfe.

49 Gemeinden planen den Aufstand

Wenn eine Gemeinde in Zürich den Verdacht hat, dass eine Person unrecht­mässig Sozi­al­hilfe bezieht, kann sie diese durch soge­nannte Sozialdetektiv:innen obser­vieren lassen. In der Stadt Zürich war das in der Vergan­gen­heit bei rund 100 Sozialhilfeempfänger:innen pro Jahr der Fall.

2016 rügte der Euro­päi­sche Gerichtshof die Praxis der Stadt Zürich. Auf Initia­tive von SP-Sozi­al­vor­steher Raphael Golta wurden die Sozi­al­in­spek­tionen darauf ganz einge­stellt. Weil sich aber Regie­rungsrat Mario Fehr (SP) um den Entscheid aus Stras­bourg foutierte, blieben Obser­va­tionen im Kanton Zürich erlaubt – aller­dings auf einer umstrit­tenen Rechts­grund­lage.

Am 7. März stimmt die Zürcher Stimm­be­völ­ke­rung nun über Ände­rungen des Sozi­al­hil­fe­ge­setzes ab, mit denen eine kanto­nale Rechts­grund­lage geschaffen werden soll.

Die Geset­zes­än­de­rung sieht vor, dass Sozi­al­hil­fe­be­zie­hende neu verdeckt und mit tech­ni­schen Hilfs­mit­teln zur Bild­auf­zeich­nung obser­viert werden dürfen, an höch­stens 20 Tagen inner­halb von sechs Monaten. Neu sollen die Obser­va­tionen vom Bezirksrat statt wie bisher von der Sozi­al­be­hörde der Gemeinde bewil­ligt werden. Die Bezirks­räte sind in den insge­samt zwölf Bezirken im Kanton für die Aufsicht zuständig, in ihnen sitzen meist Parteivertreter:innen.

Der Kantonsrat hat also einschnei­dende Eingriffe in die Privat­sphäre von Sozi­al­hil­fe­be­zie­henden beschlossen. Trotzdem ging die Vorlage einigen zu wenig weit. Weil das Kantons­par­la­ment im letzten Moment GPS-Tracking und unan­ge­mel­dete Haus­be­suche aus dem Gesetz gestri­chen hat, haben 49 Gemeinden ein Gemein­de­re­fe­rendum gegen den Entscheid ergriffen. Während SVP und FDP das Refe­rendum geschlossen unter­stützen, ist die Linke gespalten: Grüne und AL lehnen die Geset­zes­än­de­rung aufgrund der Grund­rechts­ein­griffe ab, die SP hingegen befür­wortet sie. Die Sozialdemokrat:innen sehen das Verbot von GPS-Über­wa­chung und unan­ge­mel­deten Haus­be­su­chen als Fortschritt.

Von solchem Prag­ma­tismus hält Tobias Hobi von der Unab­hän­gigen Bera­tungs­stelle für Sozi­al­hil­fe­recht (UFS) wenig. Der Rechts­an­walt findet deut­liche Worte: „Das wäre, wie wenn wir bei einer öffent­li­chen Hinrich­tung nicht über die Hinrich­tung selber, sondern nur über die Höhe des Galgens disku­tieren würden.“

Die UFS lehnt die Geset­zes­än­de­rung dezi­diert ab. Zu tief seien die Eingriffe in die Grund­rechte, zu schwammig formu­liert das Gesetz. So bleibt etwa unklar, wer über­haupt als Sozialdetektiv:in arbeiten darf: Die Vorlage spricht ledig­lich von „Spezialist:innen“.

Beson­ders störend findet Hobi, dass Sozi­al­hil­fe­be­zie­hende mit dem neuen Gesetz über einen längeren Zeit­raum hinweg über­wacht werden dürfen als dies bei schweren Verbre­chen und Vergehen zulässig sei. Bei diesen beträgt gemäss Straf­pro­zess­ord­nung die maxi­male Obser­va­ti­ons­dauer einen Monat. Dann muss eine längere Über­wa­chung von der Staats­an­walt­schaft geneh­migt werden.

Ausserdem gebe es bereits eine Behörde, die für die Miss­brauchs­be­kämp­fung in der Sozi­al­hilfe zuständig sei: die Polizei. Das Schwei­ze­ri­sche Straf­ge­setz­buch regelt den unrecht­mäs­sigen Bezug von Sozi­al­hilfe bereits heute. „Warum also errichtet man für Armuts­be­trof­fene eine Paral­lel­po­lizei, während es etwa im Bauge­werbe aufgrund undurch­sich­tiger Auftrags­ver­gaben und Schwarz­ar­beit um weit mehr Geld geht?“, fragt Hobi deshalb.

Wie ein schlechter Groschenroman

Ein Fall aus einer Zürcher Gemeinde zeigt, wie über­griffig und absurd Obser­va­tionen durch Sozialdetektiv:innen sein können. Das Obser­va­ti­ons­pro­to­koll, das die UFS Das Lamm zur Verfü­gung gestellt hat, liest sich wie ein schlechter Groschen­roman. Eine Frau wurde im Herbst 2016 über 34 Stunden von zwei Sozialdetektiv:innen über­wacht. Die Vermu­tung: Der Mitbe­wohner der Frau sei in Wirk­lich­keit ihr Lebens­partner. Wenn die Sozialdetektiv:innen das beweisen könnten, würden der Frau Leistungs­kür­zungen drohen.

Mal sitzen sie neun Stunden vor dem Haus der Frau, ohne dass diese in Erschei­nung tritt. An anderer Stelle beob­achten sie die Stel­lung der Roll­läden und beschreiben das Wetter. Einmal folgen sie der Frau und ihrem Mitbe­wohner in ein Einkaufs­zen­trum. Dort glauben sie, Zeugen von Inti­mität zwischen den beiden zu werden – die beiden schauen zusammen einen Parkett­boden an. Die Obser­va­tion endet mit dem lapi­daren Kommentar: „Zum heutigen Zeit­punkt können keine weiteren Angaben über den Bezie­hungs­status gemacht werden.“

„Eine solche Über­wa­chung kannte man sonst nur aus der DDR“, sagt Hobi über die Methoden der Sozialdetektiv:innen. Viele Armuts­be­trof­fene hätten psychi­sche Probleme, Armut bedeute stän­digen Stress. Der Gedanke, viel­leicht ständig über­wacht zu werden, mache die Situa­tion für viele Armuts­be­trof­fene nur noch schlimmer.

Eine Erfah­rung, die auch Robert gemacht hat. Das Sozi­alamt begegnet ihm mit stän­digem Miss­trauen. Seit Monaten möchte der zustän­dige Sozi­al­ar­beiter die Firma SoWatch Roberts Wohnung durch­su­chen lassen, weil dort wert­volle Gegen­stände vermutet werden – obwohl Robert an manchen Tagen nur Fall­obst und Hafer­flocken isst. Das einzig Wert­volle in seinem Haus­halt seien die Möbel seiner verstor­benen Freundin. „Der Gedanke, dass eine private Firma ihre Gegen­stände durch­wühlt, macht mich krank.“

Ein Rand­phä­nomen

Aber wie verbreitet ist Sozi­al­hil­fe­be­trug im Kanton Zürich wirk­lich? Es ist kompli­ziert. Denn: Hinter dem poli­ti­schen Begriff „Sozi­al­hil­fe­be­trug“ verstecken sich drei verschie­dene Phäno­mene mit unter­schied­li­chem Schweregrad.

Am näch­sten an das klas­si­sche Bild der Sozialhilfebetrüger:innen kommt, wer Leistungen willent­lich durch falsche oder unvoll­stän­dige Angaben erschwin­delt. Dabei handelt es sich um kein  Kava­liers­de­likt: Schweizer:innen werden für solche Vergehen mit Frei­heits­strafen von bis zu einem Jahr bestraft; für Menschen ohne Aufent­halts­be­wil­li­gung bedeutet eine Verur­tei­lung wegen Sozi­al­hil­fe­be­trugs die obli­ga­to­ri­sche Auswei­sung für fünf bis 15 Jahre. Das war 2019 schweiz­weit bei 108 Personen der Fall.

Wer Sozi­al­hilfe, die für Miete oder Kran­ken­kasse vorge­sehen ist, für andere Ausgaben verwendet, muss dieses Geld zurück­er­statten; bemüht sich jemand zu wenig um eine Arbeits­stelle, darf die Sozi­al­hilfe gekürzt werden. Beides gilt poli­tisch auch als Miss­brauch, ist aber nicht straf­recht­lich relevant.

Eine einheit­liche Stati­stik dazu gibt es nicht. Der poli­ti­sche Diskurs rund um „Sozi­al­hil­fe­be­trug“ ist ein Blind­flug. Wie Recher­chen von das Lamm in neun Städten und Gemeinden im Kanton zeigen, ist die stati­sti­sche Erfas­sung lücken­haft bis nicht vorhanden. Die Zahlen, die das Lamm vorliegen, spre­chen hingegen eine klare Sprache: Beim soge­nannten „Sozi­al­hil­fe­be­trug“ handelt es sich um ein Rand­phä­nomen. Die Stadt Adliswil, die gestützt auf kommu­nale Rechts­grund­lagen weiterhin Sozialdetektiv:innen einsetzt, geht jähr­lich gegen ein bis zwei Personen straf­recht­lich vor.

Und wie sieht es in Zürich aus, in der Stadt also, die den Anstoss für die Geset­zes­än­de­rung gegeben hat? 2017 hat das Sozi­al­de­par­te­ment in 327 Fällen eine Straf­an­zeige wegen miss­bräuch­li­chen Sozi­al­hil­fe­bezug erstattet. (Das Jahr, in dem eine Straf­an­zeige erhoben wird, muss nicht das Jahr sein, in dem der Miss­brauch fest­ge­stellt wurde). Zählt man alle unrecht­mäs­sigen Bezüge und Zweck­ent­frem­dungen zusammen, konnte 2019 bei 4.2 % der Sozi­al­hil­fe­dos­siers eine Art Miss­brauch fest­ge­stellt werden.

Die Zahl der Straf­an­zeigen ist nach 2018 zwar leicht gesunken, aber 2020 ist die Stadt erneut gegen fast 400 Personen vorge­gangen. Die Erklä­rung liefert die Medi­en­stelle: Der Lock­down habe zu einer Ressour­cen­ver­la­ge­rung geführt, die es erlaube, wesent­lich mehr Fälle abzu­ar­beiten – ganz ohne Obser­va­tion und Eingriffe in die Grundrechte.

Das passt zu den Erfah­rungen, die in Winter­thur gemacht wurden: Die zweit­grösste Stadt im Kanton verzichtet voll­ständig auf Sozialdetektiv:innen. Statt­dessen werden Sozi­al­hil­fe­be­zie­hende syste­ma­tisch durch eine Revi­si­ons­stelle über­prüft. Aber auch beim Winter­thurer Modell stehen Sozi­al­hil­fe­be­zie­hende unter Gene­ral­ver­dacht: Die Revi­si­ons­stelle fordert peri­odisch alle Unter­lagen bei den Sozi­al­hil­fe­be­zie­henden wieder ein, die zur Über­prü­fung der Bezugs­be­rech­ti­gung benö­tigt werden. Passen die Angaben nicht, schöpft die Revi­si­ons­stelle Verdacht. So konnte 2019 in 6.2 % der Fälle unrecht­mäs­siger Bezug fest­ge­stellt werden. In der Folge wurde gegen 53 Personen Straf­an­zeige erhoben. Die Delikt­summe, um die es ging, beläuft sich auf 1.2 Millionen Franken.

Weil es keine schweiz­weit gültigen Regeln zum Umgang mit Sozi­al­hil­fe­miss­brauch gibt, fehlt auch eine kantons­über­grei­fende Stati­stik dazu. Es gibt deshalb keine Zahlen zum finan­zi­ellen Ausmass von Sozi­al­hil­fe­miss­brauch. Wenn wir die Zahlen Winter­thurs auf die ganze Schweiz hoch­rechnen, wäre die Sozi­al­hilfe 2019 schweiz­weit um 65.6 Millionen Franken betrogen worden. Das klingt nach viel. Doch ein Vergleich hilft bei der Einord­nung: Im glei­chen Jahr belief sich der durch  Wirt­schafts­de­likte ange­rich­tete finan­zi­elle Schaden auf 363 Millionen Franken. Dem Fiskus entgehen je nach Schät­zung jähr­lich zwischen fünf und 20 Milli­arden wegen Steu­er­hin­ter­zie­hungen und Steuervermeidung.

Ein selbst­ent­tar­nendes Vorurteil

Woher also kommt der poli­ti­sche Fetisch „Sozi­al­hil­fe­miss­brauch“? Eine mögliche Antwort: klas­si­sti­sche Vorur­teile. Wie eine Studie aus dem Jahr 2012 gezeigt hat, sind Personen aus einer höheren Einkom­mens­schicht weniger geset­zes­treu als Personen mit tiefem Einkommen. Gleich­zeitig werden Delikte wie Tank­stel­len­dieb­stähle eher erfasst als Akti­en­kurs­ma­ni­pu­la­tionen. Die Sozio­login Regula Imhof fasst zusammen: „Bei gewissen Bevöl­ke­rungs­gruppen schaut man aufmerk­samer hin.“

Das zeigt sich auch in der Gesetz­ge­bung: Während Betrug bei Sozi­al­ver­si­che­rungen und Sozi­al­hilfe krimi­na­li­siert wird, ist die Steu­er­ver­mei­dung von ansäs­sigen Konzernen mit der Unter­neh­mens­steu­er­re­form quasi insti­tu­tio­na­li­siert worden.

Robert hat inzwi­schen eine neue Arbeits­stelle gefunden und nicht mehr mit dem Sozi­al­dienst zu tun. Doch eine Angst bleibt: Wenn er den Job verliert, muss er wieder aufs Sozi­alamt – die Schi­kanen und das stän­dige Gefühl der Über­wa­chung möchte er auf keinen Fall noch­mals erleben.

Trans­pa­renz: Der Autor sitzt für eine regio­nale Jung­partei im Gemein­de­par­la­ment von Olten in einer Frak­tion mit der SP. Er ist aber weder Mitglied der SP Schweiz noch der SP Olten.

In einer früheren Version schrieben wir fälsch­li­cher­weise, dass die Sozi­al­hilfe als Sank­tion bis auf den Grund­be­darf von 997 Franken gekürzt werden kann. Richtig ist, dass der Grund­be­darf um 30% auf 668 Franken gekürzt werden kann. 


Jour­na­lismus kostet

Die Produk­tion dieses Arti­kels nahm 20 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 1300 einnehmen.

Als Leser*in von das Lamm konsu­mierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demo­kratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produk­tion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rech­nung sieht so aus:

Soli­da­ri­sches Abo

Nur durch Abos erhalten wir finan­zi­elle Sicher­heit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unter­stützt du uns nach­haltig und machst Jour­na­lismus demo­kra­tisch zugäng­lich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.

Ihr unter­stützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorg­fältig recher­chierte Infor­ma­tionen, kritisch aufbe­reitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unab­hängig von ihren finan­zi­ellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Jour­na­lismus abseits von schnellen News und Click­bait erhalten.

In der kriselnden Medi­en­welt ist es ohnehin fast unmög­lich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkom­mer­ziell ausge­richtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugäng­lich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure soli­da­ri­schen Abos ange­wiesen. Unser Lohn ist unmit­telbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kriti­schen Jour­na­lismus für alle.

Ähnliche Artikel

12 statt 21 Franken pro Stunde

Der Brief- und Paketzusteller Quickmail wirbt mit einem Stundenlohn von 21 Franken. Sobald Mitarbeitende aber weniger schnell sind als von der Firma verlangt, sinkt das Gehalt – schlimmstenfalls weit unter das Existenzminimum.