Eurokrise, Finanzdiktat, brutaler Grenzschutz: Es ist mittlerweile offensichtlich, dass der EU der freie Warenverkehr wichtiger ist als internationale Solidarität. Hinzu kommt die Enttäuschung über das, was oft als „Demokratiedefizit“ bezeichnet wird: träge und komplizierte politische Prozesse, eine weit entfernte und undurchsichtige Verwaltung in Brüssel, ein machtloses Parlament.
Die linke Hoffnung auf die EU ist also längst verflogen.
Zurück bleibt Ratlosigkeit. Denn: Die SVP hat eine unerschütterliche Meinung zur EU (bloss nicht!), die FDP und Grünliberale sind hingegen an allem interessiert, was den Marktzugang für Schweizer Unternehmen erleichtert.
Nur Linke sind hierzulande verwirrt, was sie von der Chose noch halten sollen. Das Rahmenabkommen führt die Verwirrung einmal mehr vor Augen. Es zeigt, dass der Schweizer Öffentlichkeit eine linke Haltung zur EU fehlt. Cédric Wermuth verkündete zwar in einer Rede an der SP-Delegiertenversammlung: „Wir wollen mehr Europa, aber auch: entschieden anders.“ Solche Aussagen von den Sozialdemokrat:innen sind aber eine Seltenheit. Die WOZ bekräftigt in ihrer Berichterstattung derweil konsequent die ablehnende Position der Gewerkschaften. Und diese sind wiederum entschieden gegen das Rahmenabkommen.
Der Graben entstand vor allem entlang dem Thema Lohnschutz. Eigentlich streitet niemand ab, dass eine stärkere Anbindung an die EU ohne diesen Schutz unsozial wäre. Dass jede Marktöffnung mit gleichzeitigen sozialen Absicherungen einhergehen muss.
Uneinigkeit besteht daher nur über juristische Einzelheiten. Die einen sagen, das Abkommen in dieser Form würde den Lohnschutz begraben. Dafür sprechen einige Urteile des Europäischen Gerichtshofs, der in der Vergangenheit mehrmals ähnliche Lohnschutzmassnahmen als illegitim verurteilte.
Andere sagen: Das ist Spekulation. Niemand weiss momentan, wie der EuGH im Einzelfall entscheiden würde. Zudem gebe es bereits Ansätze, die negative Folgen des Rahmenabkommens auf den Lohnschutz ausgleichen könnten: Der Thinktank Foraus etwa schlägt vor, die Behörden digital besser aufzustellen, sodass auch eine Meldepflicht von vier Tagen für die Überprüfung ausländischer Unternehmen reichen würde.
Angesichts der diffusen Lage lohnt sich ein Blick weg vom juristischen Klein-Klein auf grössere Zusammenhänge. Denn Linke in der Schweiz müssen sich wieder mit der EU befassen und eine konsistente und differenzierte Haltung zu ihr entwickeln. Und zwar unabhängig vom Rahmenabkommen. Drei Themen sind dabei besonders wichtig.
Erstens: Der volkswirtschaftliche Hintergrund ist entscheidend. Dass wir über den Lohnschutz überhaupt sprechen, hängt damit zusammen, dass die Schweiz ein sehr viel höheres Lohn- und Preisniveau hat als die umliegenden EU-Länder.
Warum das so ist, ist unklar, es gibt keine verlässlichen Studien. Klar ist: In den vergangenen fünfzig Jahren haben sich Preise und Löhne immer weiter denen im restlichen Europa angepasst. Dieser Vorgang wird auch in Zukunft nicht aufzuhalten sein. Es ist daher wichtig, diesen Angleichungsprozess so abzufedern, dass Arbeiter:innen nicht darunter leiden. Dass der aktuelle Lohnschutz das auf die lange Sicht kann, ist unwahrscheinlich. Stattdessen bräuchte es mehr internationale Zusammenarbeit zwischen den Gewerkschaften und länderübergreifende politische Lösungen für die Übergangszeit.
Zweitens: Schluss mit der Heuchelei. Die Schweiz ist – entgegen dem Eindruck, den man während der aktuellen Diskussion manchmal bekommen kann – wahrlich kein Paradies des sozialen Arbeitnehmerrechts.
Nirgends in Europa schuften Arbeiter:innen so viel wie hier: Bis zu 50 Stunden pro Woche sind erlaubt. In Deutschland nur etwa 40, in Österreich ebenso. Nirgends sind sie von einer Kündigung so schlecht geschützt. Und nirgends sonst herrscht ein Streikverbot.
Gleichzeitig finden Arbeitskämpfe und Fortschritt auch auf EU-Ebene statt. So wurde vor Kurzem eine neue EU-Richtlinie vorgeschlagen, die Unternehmen dazu verpflichten könnte, ihren Angestellten alle Löhne transparent zu machen. Eine solche Regelung wäre in der Schweiz zurzeit undenkbar.
Alle diese Themen muss eine konsequent linke Politik in der Schweiz angehen. Aber sie muss nicht nur hier, sondern überall bessere Bedingungen für Arbeiter:innen erkämpfen. Zu einem solchen internationalen Kampf für Arbeitsrechte gehört auch, dass Menschen, die woanders wohnen, aber in der Schweiz arbeiten, Anrecht auf Sozialhilfe und Arbeitslosengeld in der Schweiz haben – so wie es das Rahmenabkommen vorsieht.
Drittens: Keine falsche Hoffnung. Zurzeit begnügen sich Linke hierzulande damit, mit erhobenem Zeigefinger auf ein paar Urteile des Europäischen Gerichtshofs zu zeigen und der EU vorzuwerfen, sie würde sich nicht um den Schutz der Löhne scheren. Das ist eine Binsenwahrheit: Die EU schützt, wie jeder Nationalstaat auch, in erster Linie das Privateigentum. Da gibt es nichts zu beschönigen: Sie ist ein nationalistisches Gebilde auf höherer Stufe, das Menschen ohne europäische Staatsangehörigkeit im Mittelmeer ertrinken lässt, um ihren eigenen Wohlstand zu sichern.
Gleiches gilt für die Asylpolitik. Natürlich müssen Abschottung und tödlicher Grenzschutz der EU aufs Schärfste verurteilt werden. Die Schweiz macht mit ihrer Asylpolitik aber eine mindestens genauso schlechte Figur – und ist zudem an der EU-Grenzschutzagentur Frontex sowie dem Grenzabkommen mit Libyen beteiligt.
Die Kritik an der EU rechtfertigt nicht das Fehlen einer Auseinandersetzung mit ihr. Niemals kann die Kritik an einem Nationalismus sich mit dem Rückzug auf einen anderen begnügen. Linke dürfen weder eine liberale und asoziale Marktöffnung anstreben noch einen Provinzsozialismus.
Kurz: Die EU muss sterben, damit wir leben können – aber die Schweiz muss es auch.