Alles ist Care, nichts ist Arbeit

Morgen ist der femi­ni­sti­sche Streiktag, dieses Jahr mit Fokus auf Lohn­un­gleich­heit und Care-Arbeit. In Zürich wird sogar zum „Care Streik“ aufge­rufen. Doch was ist eigent­lich alles unter unbe­zahlter Care-Arbeit zu verstehen? Eine Erklä­rung (oder eine Streikanleitung). 
Am 14. Juni 2019 gingen über eine halbe Million Menschen auf die Strasse. (Foto: Emma-Louise Steiner)

Dieses Jahr findet der femi­ni­sti­sche Streiktag in Zürich unter dem Motto „Care Streik“ statt. Der Gross­teil der (schlecht)bezahlten Care-Arbeit wird nämlich von FINTA (Frauen, inter, non-binäre, trans und agender Personen) verrichtet. Sowohl in der Pflege als auch in der schul­er­gän­zenden Kinder­be­treuung liegt der Frau­en­an­teil bei über 85 Prozent.

Doch Care-Arbeit wird auch im privaten Umfeld auf FINTA abge­wälzt. Weib­lich sozia­li­sierten Personen wird schon früh beigebracht, dass sie sich um andere zu kümmern haben und dass Multi­tas­king und Orga­ni­sa­tion wich­tige Skills sind.

In der Öffent­lich­keit wird dennoch kaum darüber geredet – Familie und Freund­schaft sind in der Schweiz Privat­sache, ebenso die fehlende Gleich­stel­lung in diesem Bereich. Dieses Ungleich­ge­wicht übt einen immensen Druck auf FINTA aus und raubt ihnen wert­volle Energie.

Um zu konkre­ti­sieren, was unbe­zahlte Care-Arbeit eigent­lich bedeutet, folgt eine Liste mit 40 Beispielen aus dem Alltag; gesam­melt aus eigener Erfah­rung, über die Lamm-Redak­tion und im Freund:innenkreis. Der Fokus liegt bewusst auf den „kleinen Sachen“. Sie eignen sich perfekt dazu, bestreikt zu werden. Am 14. Juni und darüber hinaus.

Care-Arbeit in der Freund*innenschaft ist:

  1. Wenn du dich immer wieder bei einer dir nahe­ste­henden Person meldest, obwohl sie dich selten bis nie von sich aus anschreibt.
  2. Wenn du deine Woche voraus­planst und dir Zeit frei­hältst, um eine dir nahe­ste­hende Person treffen zu können.
  3. Wenn du nach einem Streit oder einer Diskus­sion mit einer dir nahe­ste­henden Person auf sie zugehst, um die Span­nung aufzulösen.
  4. Wenn du Zeit und Platz schaffst, damit eine dir nahe­ste­hende Person sich dir öffnen und über etwas erzählen kann, das sie beschäftigt.
  5. Wenn du nach­fragst, was los ist, wenn eine dir nahe­ste­hende Person verstimmt/traurig/genervt wirkt.
  6. Wenn du in einem Gespräch mehrere Fragen stellst, um eine Person besser kennenzulernen.
  7. Wenn du dir merkst, was eine dir nahe­ste­hende Person sehr gerne isst oder macht.
  8. Wenn du eine dir nahe­ste­hende Person unter­stützt, sollte es ihr gesund­heit­lich (psychisch oder physisch) nicht gut gehen.
  9. Wenn du den Gemüts­zu­stand deines Gegen­übers abliest, aner­kennst und dein Verhalten daran anpasst.
  10. Wenn du eine Geburts­tags­party für eine dir nahe­ste­henden Person planst.

Care-Arbeit in der Partner*innenschaft ist:

  1. Wenn du Span­nungen in der Bezie­hung ansprichst.
  2. Wenn du Gespräche über die gemein­same Sexua­lität initiierst.
  3. Wenn du die gemein­same Zukunft gestal­test, indem du z.B. eine gemein­same Wohnung suchst.
  4. Wenn du an das Bezie­hungs­um­feld der Person denkst und nach­fragst, wie es ihnen geht (z.B. „Hat deine Schwe­ster die Prüfung eigent­lich bestanden?“).
  5. Wenn du gemein­same Akti­vi­täten oder Ferien organisierst.
  6. Wenn du die Person auf Haus­halts­ar­beiten aufmerksam machst.
  7. Wenn du der Person am Morgen Kaffee ans Bett bringst.
  8. Wenn du Pläne absagst, um mit der Person Zeit zu verbringen.
  9. Wenn du dich darum bemühst, Freund:innen und Familie der Person zu treffen und den Kontakt aufrecht zu erhalten.
  10. Wenn du der Person deine Grenzen kommunizierst.

Am 14. Juni 2021 jährt sich der femi­ni­sti­sche Streik (auch Frauen*streik) zum dreis­sig­sten Mal. 1991 forderten „Hundert­tau­sende Frauen“ in der ganzen Schweiz ihre Rechte ein – die grösste öffent­liche Mobi­li­sie­rung seit dem Landes­streik 1918.

2019 wurde der „Frauen*streik“ wieder­be­lebt. Über eine halbe Million FINTA und soli­da­ri­sche cis Männer zogen durch die Strassen, um für die Gleich­be­rech­ti­gung aller Geschlechter einzustehen.

Care-Arbeit in der Familie ist:

  1. Wenn du auf deine Geschwi­ster oder Cousinen aufpasst, sollten die Eltern unter­wegs sein.
  2. Wenn du den Termin­plan deiner Fami­li­en­mit­glieder im Kopf behältst und dafür sorgst, dass sie pünkt­lich zu einem Termin erscheinen, indem du sie z.B. daran erin­nerst oder sie dorthin bringst.
  3. Wenn du einen Sorge­er­satz für deine Kinder orga­ni­sierst, soll­test du keine Zeit für sie haben.
  4. Wenn du den Wochen­ein­kauf planst und erledigst.
  5. Wenn du in einem Streit zwischen deinen Fami­li­en­mit­glie­dern vermittelst.
  6. Wenn du regel­mässig bei deinen Gross­el­tern anrufst, damit sie weniger einsam sind.
  7. Wenn du deine (Schwieger-)Eltern im Alter pflegst, damit sie nicht in ein Heim ziehen müssen.
  8. Wenn du die Wohnung einrich­test und regel­mässig aufräumst, sodass eine gemüt­liche Stim­mung entsteht.
  9. Wenn du ein Geburts­tags­ge­schenk für deine Mutter orga­ni­sierst, das „von dir und deinen Geschwi­stern“ ist.
  10. Wenn du am Esstisch das Gespräch am Laufen hältst und eine gute Stim­mung verbreitest.

Care-Arbeit in der WG ist:

  1. Wenn du ausge­wogen kochst, damit deine Mitbewohner*innen nicht nur Fast Food essen.
  2. Wenn du dich um die Pflanzen im Wohn­zimmer kümmerst und sie regel­mässig giesst, damit sie nicht verwelken.
  3. Wenn du Akti­vi­täten planst, damit alle Mitbewohner*innen Zeit mitein­ander verbringen und eine Bezie­hung zuein­ander aufbauen können.
  4. Wenn du dir die Akti­vi­täten im Leben deiner Mitbewohner*innen merkst und regel­mässig danach fragst.
  5. Wenn du deine Mitbewohner*innen mit Süssig­keiten und Kochen unter­stützt, weil sie in der Prüfungs­phase sind.

Care-Arbeit im Büro ist:

  1. Wenn du nach der morgend­li­chen Sitzung das Zimmer aufräumst und die benutzten Kaffee­tassen abwäschst oder sie in die Spül­ma­schine stellst.
  2. Wenn du Arbeits­auf­gaben deiner Kolleg*innen über­nimmst, weil sie anson­sten nicht recht­zeitig damit fertig werden würden.
  3. Wenn du in einer anstren­genden Woche Gebäck oder Kuchen mitbringst, um die Gruppen-Moral zu stärken.
  4. Wenn du mit Kolleg*innen das Gespräch suchst, weil du Span­nungen im Team bemerkst.
  5. Wenn du deinen Kolleg*innen Kompli­mente für ihre Arbeit machst, um sie aufzubauen.

Da Care-Arbeit in jedem Bereich unseres Lebens anfällt, über­schneiden sich diese vierzig Beispiele teil­weise und sind nicht annä­hernd abschlies­send. Doch sie sollen aufzeigen, wie wichtig es ist, sich im Alltag um andere Menschen zu kümmern.

Ohne Care-Arbeit würde unsere heutige Gesell­schaft gar nicht existieren. Sich um andere Menschen zu kümmern, ist vor allem etwas sehr Schönes. Doch Care-Arbeit ist auch anstren­gend. Es ist wort­wört­lich Arbeit, die ironi­scher­weise weder als solche aner­kannt noch ange­messen bezahlt wird.

Während es wichtig ist, dass wir für faire Löhne für Kindererzieher*innen und Pfleger*innen in Spitä­lern und Alters­heimen kämpfen, dürfen wir die unbe­zahlte Care-Arbeit nicht vergessen. Wir müssen anfangen, darüber im Alltag zu spre­chen und aner­kennen, dass diese Arbeit wert­volle Energie kostet. Die Care-Arbeit im privaten Raum muss gleich­mässig auf alle Menschen, die Teil dieser Gesell­schaft sein wollen, verteilt werden. Denn davon profi­tieren tun wir alle.

Ähnliche Artikel

Sie wollen Domi­nanz und Tradition

Trumps knappen Wahlsieg auf ökonomische Faktoren zurückzuführen, greift zu kurz. Die Linke muss der Realität ins Auge sehen, dass ein grosser Teil der Bevölkerung Trump nicht trotz, sondern wegen seines ethnonationalistischen Autoritarismus gewählt hat. Eine Antwort auf Balhorns Wahlkommentar.

Fick den Genderstern!

Die SVP betreibt mit der Genderstern-Initiative rechten Kulturkampf und will dem sogenannten ‚Woke-Wahnsinn‘ den Garaus machen. Sie können das Sonderzeichen gerne haben – vorausgesetzt, genderqueere Personen können ein sicheres Leben führen.