Mehr Demo­kratie wagen?

In Uster denken gerade 20 zufällig gewählte Menschen die Demo­kratie neu: Ein soge­nanntes Bürger:innenpanel hat vor drei Wochen Mass­nahmen zum Klima­schutz disku­tiert. Auf natio­naler Ebene haben die Grünen eine parla­men­ta­ri­sche Initia­tive zur Schaf­fung eines Klima­rats einge­reicht. Simon Muster spricht mit Poli­tik­phi­lo­so­phin Alice el-Wakil über die demo­kra­tie­theo­re­ti­schen Über­le­gungen dahinter. 
"Es ist ein sinnvoller Ansatz, dass die institutionelle Politik bei einem Thema, bei dem sie sich in einer Sackgasse befindet, die Debatte für Bürger:innen öffnet" (Foto: zVg).

Das Lamm: Alice el-Wakil, die Grünen fordern einen Bürger:innenrat für die Klima­krise. Was kann ein solches Instru­ment in einem Land leisten, in dem die Bevöl­ke­rung bereits über jede Gemein­de­strasse abstimmen kann?

Alice el-Wakil: Die Schweiz kennt mit Initia­tive und Refe­rendum tatsäch­lich zwei parti­zi­pa­tive Prozesse, bei denen die Bevöl­ke­rung Entschei­dungen treffen kann. Darin unter­scheidet sich unser poli­ti­sches System von jenem in Frank­reich, wo Präsi­dent Macron auf Druck der Gelb­we­sten­be­we­gung einen soge­nannten Hohen Klimarat ins Leben gerufen hat. Die Französ:innen können faktisch nur über Wahlen am poli­ti­schen Prozess teil­nehmen, wir in der Schweiz nehmen hingegen ständig Einfluss. 

Das heisst aber nicht, dass demo­kra­ti­sche Prozesse in der Schweiz nicht verbes­sert werden können. Eine Sache, die bei uns fehlt, ist der Austausch zwischen den Bürger:innen. Zwar gibt es Räume für Debatten, aber im Endef­fekt füllen die meisten Menschen ihren Wahl­zettel zu Hause aus, ohne gross mit anderen Perspek­tiven in Kontakt zu kommen. 

Hier sehe ich eine der poten­zi­ellen Stärken der Bürger:innenräte: Durch das Losver­fahren kommen die Teilnehmer:innen mit Menschen in Kontakt, mit denen sie sonst nie disku­tieren würden. Wie demo­kra­tisch diese Bürger:innenräte aller­dings dann sind, hängt von deren Ausge­stal­tung ab.

Wie meinen Sie das?

Zum einen stellt sich die Frage, was die Kompe­tenzen dieser Räte sind. Können sie nur unver­bind­liche Vorschläge formu­lieren, oder können sie tatsäch­lich Einfluss nehmen, etwa mit einer Volks­in­itia­tive oder mit Vorstössen im Parla­ment? Auch zentral ist, wer über­haupt an diesen Räten teil­nehmen kann. Das Ziel muss sein, auch Menschen, die bis jetzt kaum eine Stimme in der Politik haben, einzu­binden. Das wäre ein Fort­schritt gegen­über heute. 

Das funk­tio­niert mit dem Losver­fahren sicher besser als mit dem klas­si­schen Wahl­ver­fahren, aber auch beim Losver­fahren gibt es struk­tu­relle Verzer­rungen. So sind etwa obdach­lose Menschen auf den Listen nicht aufgeführt.

Alice el-Wakil befasst sich an der Univer­sität Konstanz mit norma­tiver Demo­kra­tie­theorie und der Frage, ob und wie direkt­de­mo­kra­ti­schen Instru­menten einge­setzt werden sollten. 

Im Vorschlag der Grünen ist vorge­sehen, dass Ausländer:innen mit Ausweis C an den Bürger:innenräten teil­nehmen können.

Das ist sicher gut. Die Idee der Demo­kratie ist, poli­ti­sche Macht so zu legi­ti­mieren, dass alle Menschen, die ihr unter­worfen sind, auch mitbe­stimmen können. Inso­fern führt mehr Inklu­sion zu mehr Demo­kratie. Natür­lich gibt es auch weitere Ungleich­heiten bei Bürger:innenräten: Gewisse Menschen haben etwa weniger Zeit als andere. 

Damit das ausge­gli­chen werden kann, müssen die Rahmen­be­din­gungen geschaffen werden, die die Teil­nahme erleich­tern: eine Entlöh­nung der Teilnehmer:innen, ein Ange bot für Kinder­be­treuung und sonstige Care Arbeit. Ausserdem muss die Mode­ra­tion dafür schauen, dass alle zu Wort kommen. Die Bürger:innenräte, die ich begleitet habe, waren stets bemüht, bestehende Ungleich­heiten zu minimieren.

Warum werden gerade im Zusam­men­hang mit der Klima­krise die Forde­rungen nach Bürger:innenräten laut?

Für die Klima­frage ist die Anreiz­struktur von parla­men­ta­ri­scher Politik proble­ma­tisch. Parlamentarier:innen wollen wieder­ge­wählt werden, und das macht es schwierig, unpo­pu­läre Entschei­dungen zu treffen. Ausserdem wissen wir aus den Poli­tik­wis­sen­schaften, dass Lobby­ver­bände – trotz Initia­tiv­recht in der Schweiz – einen viel stär­keren Einfluss auf die poli­ti­sche Themen­set­zung haben als Bürger:innen. Sie können verhin­dern, dass Themen, die ihren Inter­essen schaden, breit disku­tiert werden. Mit den Bürger:innenräten kann die Bevöl­ke­rung mehr Einfluss auf die poli­ti­sche Themen­set­zung nehmen.

Aber gerade bei den Klima­räten ist ja das Thema von der insti­tu­tio­nellen Politik bereits vorge­geben. Wird da nicht das Pferd von hinten aufgezäumt?

Diese Stra­tegie konnten wir bereits in Irland beob­achten. Dort war klar, dass es das Parla­ment niemals schaffen würde, Abtrei­bungen zu lega­li­sieren, weil das ein Kern­thema für die Politiker:innen bei den Wahlen war. Weil die Meinung der breiten Bevöl­ke­rung aber deut­lich libe­raler war, nahm man den Weg über einen Bürger:innenrat, um die Lega­li­sie­rung der Abtrei­bung vors Volk zu bringen. Dieses stimmte mit 62 Prozent deut­lich Ja zur Verfassungsänderung. 

Es ist ein sinn­voller Ansatz, dass die insti­tu­tio­nelle Politik bei einem Thema, bei dem sie sich in einer Sack­gasse befindet, die Debatte für Bürger:innen öffnet, die nicht unter dem Einfluss einer Wieder­wahl und von Lobby­in­ter­essen stehen.

Sind Bürger:innenräte progres­siver als die insti­tu­tio­nelle Politik?

Das ist bisher wenig unter­sucht. Es scheint, dass sie weniger progressiv sind, als es sich zum Beispiel Extinc­tion Rebel­lion erhofft, aber oft ambi­tio­nierter als die Entschei­dungen der insti­tu­tio­nellen Politik. Dass die Bürger:innenräte aber poli­tisch extrem werden, ist unwahr­schein­lich, weil sie durch das Losver­fahren sehr divers zusam­men­ge­setzt sind.

Wie müsste man dann aber die Vorschläge eines solchen Klima­rats gewichten, gerade, wenn diese etwa dem Abstim­mungs­er­gebnis zum CO2- Gesetz wider­spre­chen würden?

In einer Demo­kratie gibt es keine finale Abstim­mung. Über Themen wie das Frau­en­stimm­recht oder die Proporz­wahl wurde immer wieder abge­stimmt. Das ist auch bei der Klima­po­litik so. 

Die Frage des Klima­not­standes wird in Zukunft höchst­wahr­schein­lich auch den Einsatz von Zwangs­mit­teln erfor­dern – ähnlich wie die bei Covid-19. Die Betei­li­gung der Bürger:innen, die mit den getrof­fenen Entschei­dungen leben müssen, an der Ausar­bei­tung von Mass­nahmen könnte dazu beitragen, dass diese Entschei­dungen auf breiter Basis akzep­tiert werden.

Dieses Inter­view ist zuerst bei der P.S.-Zeitung erschienen. Die P.S.-Zeitung gehört wie Das Lamm zu den verlags­un­ab­hän­gigen Medien der Schweiz.


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