Die Spitäler sind überlastet, das Personal müde. Dies liegt unter anderem daran, dass die Schweiz mit einem Anteil von 58 Prozent an zweimal geimpften Personen eine der tiefsten Impfquoten Westeuropas hat. Manche liebäugeln deshalb mit einem Impfzwang für gewisse Gesellschaftsgruppen und ‑bereiche. Ist das ein gangbarer Weg, um die Impfquote zu erhöhen und das Ende der Pandemie einzuleiten? Wir diskutieren.
Ja!
Jonas Frey
Das Zertifikat sei eine „Impfpflicht durch die Hintertüre“, sagen Impfgegner:innen. Gemeinsam mit Coronaleugner:innen, Esoteriker:innen und Rechtsextremen fordern sie auf Demonstrationen „Liberté“ vom „Zerti-diktat“. Andere bezeichnen die Massnahmen als „Faschismus“, ziehen Parallelen zum Holocaust und betreiben damit widerlichen und fatalen Geschichtsrevisionismus.
Die Gruppe der Massnahmen- und Impfgegner:innen mobilisiert und radikalisiert sich zunehmend, obwohl die Massnahmen hierzulande im Vergleich zu anderen europäischen Ländern bis anhin relativ lasch waren. Vermehrt akzentuieren sie ihren Protest mit Drohungen, worauf Impfaktionen unter Beschuss geraten.
Am letzten Samstag entschied die Stadt Chur nach massivem Druck vonseiten der Impfgegner:innen, geplante Impfaktionen nicht auf Schularealen, sondern über die Stadt hinweg verteilt durchzuführen. „Damit sollen die Jugendlichen, das Schulpersonal, das Impfteam und auch der Schulbetrieb vor Unruhen und Drohungen durch Impfgegner geschützt werden“, schrieb die Stadt auf ihrer Webseite.
Es ist alarmierend, dass Impfgegner:innen es schaffen, geplante Impfaktionen zum Schutz der Bevölkerung zu sabotieren. Sie tun dies unter dem Motiv der Verteidigung der Freiheit und Selbstbestimmung, halten aber gleichzeitig andere davon ab, sich impfen zu lassen. Dies zeigt, wie diffus und widersprüchlich ihr Vorgehen ist.
Trotzdem bringen sie es fertig, den Impffortschritt zu behindern – dem bislang einzigen Ausweg im Kampf gegen das Virus.
64 Prozent der Bevölkerung in der Schweiz haben bereits einen ersten Piks erhalten, 58.1 Prozent sind schon vollständig geimpft (Stand: 29. September). Damit liegt der kleine Alpenstaat mit den weltweit grössten Vorräten an Impfstoffdosen im Verhältnis zur Bevölkerung im europäischen Vergleich auf einem der hinteren Plätze. Nach kurzem Anstieg mit der Einführung der Zertifikatspflicht tendieren die Impfzahlen seit einer Woche nun wieder nach unten.
Die neuere Entwicklung der Zahlen zeigt, dass eine Zertifikatspflicht allein nicht ausreicht, um so schnell wie möglich die angestrebte Impfquote von 80 Prozent zu erreichen. Ausserdem bietet das Zertifikat in seiner bald eintretenden Form (wer sich nicht impfen lässt, muss bezahlen, um am öffentlichen Leben teilnehmen zu können) einen Nährboden für weiteren Unmut. Es ist möglich, dass die organisierte Impfgegner:innenschaft dadurch weiteren Zulauf erhält. Die Folge davon: mehr Sabotage von Impfaktionen, noch langsameres Vorankommen beim Impfen, höhere Infektionszahlen, eine grössere Überlastung der Spitäler.
Um dagegen vorzugehen, bedarf es einer klaren Kommunikation vonseiten der Politik – einerseits darüber, wie wichtig und sinnvoll es ist, sich impfen zu lassen; andererseits sollte über die historischen Erfolge des Impfens sowie über die Impfstoffproduktion und Impfstoffverkauf aufgeklärt werden. Alle Impfmythen lassen sich entkräften mit klaren Fakten: Dazu gehören wissenschaftliche Erkenntnisse – einfach erklärt und in allen Sprachen – und die Situation in den Spitälern, in denen neun von zehn Covid-Patient:innen ungeimpft sind. Dazu gehört aber auch, Transparenz bezüglich der Kosten und Verträge zwischen Bund und den Impfstoffhersteller:innen herzustellen.
Gleichzeitig muss klar vermittelt werden, dass die Impfkampagne hierzulande nur ein Teil der globalen Impfanstrengung ist. Nur wenn auf der ganzen Welt genügend Menschen geimpft sind, kann die Pandemie besiegt werden. Der Mindestbeitrag der Schweiz – neben der Aufhebung der Patente und Abgabe von Impfstoffdosen – besteht in einer hohen Impfquote.
Doch all dies verlangt nach einer transparenten Kommunikation. Denn es ist gerade die Intransparenz, die den Impfgegner:innen Argumente liefert.
Zur Intransparenz gehört auch, dass auf den Vorwurf der Impfgegner:innen, die Zertifikatspflicht sei eine „Impfpflicht durch die Hintertüre“, nicht konsequent reagiert wird. Anstatt sich permanent von Impfgegner:innen in einen Reagiermodus drängen zu lassen, sollte der Bundesrat aufhören zu verneinen, dass eine Impfpflicht im Raum steht.
Der Bundesrat muss in die Offensive gehen und eine Impfpflicht für gewisse Bereiche der Privatwirtschaft (dort, wo sich viele Arbeitnehmer:innen auf engem Raum befinden) und des Gesundheits- und Bildungswesens prüfen (mit Ausnahmen aus gesundheitlichen Gründen). So wie dies die US-amerikanische oder die französische Regierung bereits tun.
Beim Reisen, einem der grössten Ansteckungsbereiche, ist die Privatwirtschaft dem Bund nun aber schon zuvorgekommen: Die Swiss hat kürzlich eine Impfpflicht für ihr Flugpersonal eingeführt, Passagiere sollen bald hinzukommen.
Dies in der Pflege oder an Schulen einzuführen, wäre ein wirkungsvoller und notwendiger Schritt. Der Bundesrat müsste dafür den entsprechenden Mut aufbringen. Und eine sozial ausgewogene Lösung formulieren.
Die Politik darf sich von den Parolen von Impfgegner:innen nicht in ihren Handlungen beirren lassen. Es wäre ein Schuss ins eigene Bein, eine Impfpflicht konsequent auszuschliessen, nur weil einige Impfgegner:innen auf Basis faktenloser Behauptungen darin den Faschismus wittern.
Natürlich wäre eine Impfpflicht ein Eingriff in die Grund- und Freiheitsrechte. Doch der dadurch entstehende Nutzen und die Verhinderung des massiven gesundheitlichen Schadens, der bei Nicht-Einführung droht, sind in der jetzigen Situation viel höher zu gewichten.
Der Bundesrat scheut sich davor, weil er sich nicht in einem autoritären Licht ausstellen will. Doch wenn diese Pandemie etwas gezeigt hat, dann, dass die Exekutive in diesem Staat das Zepter in die Hand nehmen kann, wenn es notwendig ist. Auch aus links-emanzipatorischer Perspektive ist diese Erkenntnis schwierig und herausfordernd. Doch in Anbetracht des gewaltigen Nutzens eines vorübergehenden staatlichen Eingriffs in die Grundrechte ist er die einzige Lösung.
Um klaren Tisch zu machen, müsste der Bundesrat eine Impfpflicht ins Auge fassen. Damit entkräftet er das „Hintertüre“-Argument der Impfgegner:innen und lanciert das schnellstmögliche Ende der Pandemie – und aller dadurch entstandenen Grundrechtseinschränkungen.
Nein!
Kira Kynd
Von Mitte August bis Mitte September stiegen die Infektionszahlen mit Covid-19 rapide an und auch die Anzahl Hospitalisationen schnellten in die Höhe. Mit Beginn des Herbstes traf also ein, wovor Expert:innen seit Monaten gewarnt hatten. Der einzig realistische Weg aus dieser Situation ist und bleibt eine hohe Impfquote. Um diese Quote zu erreichen, können Hilfsmittel wie die Zertifikatspflicht nützlich sein. Ein direkter Zwang würde aber ein zu hohes Mass an staatlicher Kontrolle legitimieren.
Vor der Mitte September eingeführten Zertifikatspflicht betrug die Impfquote lediglich knapp 50 Prozent. Das ist im europäischen Vergleich niedrig und weit davon entfernt, einen umfassenden Schutz für die Bevölkerung zu bieten. Seit der Bekanntgabe der ausgeweiteten Zertifikatspflicht ist die Impfbereitschaft um etwa 10 Prozent gestiegen. Dies war dringend notwendig. Allerdings nimmt die Impfbereitschaft nach dem kurzen Anstieg bereits wieder ab.
Ungeimpfte gefährden sich selbst und andere. Darauf muss der Staat mit Schutzmassnahmen reagieren. Diese müssen aber verhältnismässig sein. Impfungen kostenlos anzubieten ist dabei das einfachste und wirkungsvollste Mittel. Auch die Zertifikatspflicht für öffentliche Orte wie Restaurants, Bars oder Kulturorte ist ein solches Mittel. Orte zur Beschaffung lebensnotwendiger Güter wie Krankenhäuser, Lebensmittelgeschäfte oder Apotheken müssen dabei selbstverständlich ausgeschlossen sein.
Der diskursive Fokus auf die Zertifikatspflicht lenkt allerdings von der gesundheits- und pflegepolitischen Katastrophe ab, die der Kern der Ereignisse der vergangenen Monate ist. Denn mittlerweile müsste es auch den letzten Menschen klar sein, dass ein konstanter Pflegenotstand herrscht – und auch schon vor der Pandemie herrschte. Doch selbst diese Akutsituation hat an den Arbeitsbedingungen der Pflegenden nichts geändert, sodass gerade jetzt viele aus dem Beruf aussteigen.
Aus einem emanzipatorischen Blickwinkel ist es natürlich nicht wünschenswert, dass der Staat den Druck auf Einzelne erhöht. Generell wurde bei den Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie auf die Eigenverantwortung der Leute gesetzt. Schlussendlich hat es die Schweiz versäumt, die Pandemie durch einen konsequenten, aber solidarisch finanzierten Shutdown in Schach zu halten und das Gesundheitssystem in die öffentliche Hand zu übertragen. Stattdessen setzt sie weiterhin auf die individuelle Vernunft und gibt ihre Verantwortung zu grossen Teilen ab.
Man muss keine generelle Skepsis oder Ablehnung gegenüber dem Impfen haben, um den massiven staatlichen Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit kritisch zu sehen. Ausserdem bedeutet Zwang auch immer Kontrolle – zum Beispiel auch polizeilich.
Ein durch eine Verordnung eingeführter direkter Zwang zur Impfung liefe der öffentlichen Kommunikation des Bundesrates entgegen. Denn dieser wiederholt seit Monaten beschwichtigend, dass es in der Schweiz keinen Impfzwang geben werde. Agierten die Behörden nun plötzlich entgegen ihren Aussagen, würde dies zu einem massiven Vertrauensverlust innerhalb der Bevölkerung führen. Und nehmen wir an, die Fallzahlen stiegen nicht so rapide wie letztes Jahr: Eine explizite Impfpflicht wäre wohl der Tropfen, der das Fass für die Massnahmengegner:innen zum Überlaufen bringen würde. Eine weitere Radikalisierung wäre die Folge.
Eine Impfpflicht durchzusetzen würde ausserdem enorme Ressourcen erfordern: neben Gesundheitsämtern, Krankenkassen, medizinischem Personal eben auch die Polizei. Diese Ressourcen können viel besser genutzt werden.
Ebenso ist nicht sicher, dass Zwang das effektivste Mittel für eine massiv höhere Impfquote ist. Bei der Diphtherie-Epidemie Mitte des 20. Jahrhunderts zum Beispiel führten die Gesundheitsbehörden die Schutzimpfung mit einer grossen Werbeaktion ein und sorgten für eine niederschwellige Umsetzung der Impfaktion. Mit dieser Strategie erreichte man eine Impfquote zwischen 90 und 95 Prozent. Zeitgleich gab es die Zwangsimpfung gegen die Pocken, die lediglich eine Quote von 60–80 Prozent erreichte.
Besser als Zwang sind also Wissensvermittlung und Zugänglichkeit, da dies zu mehr Vertrauen in der Bevölkerung führt. Das grösste Problem hinsichtlich der verbreiteten Impfskepsis sind immer noch hartnäckige Fehlinformationen, die zu Angst und Verunsicherung führen. Dabei wäre Vertrauen in die Impfstoffe und die Kompetenzen der Expert:innen einer der wichtigsten Faktoren für eine hohe Impfquote.
Laut Umfragen liegt der Anteil der vehementen Impfverweiger:innen bei etwa 20 Prozent. Das heisst aber auch, dass noch etwa 20 Prozent übrig sind, die empfänglich für wissenschaftlich fundierte Kampagnen sind.
Laut Studien befinden sich unter den Impfskeptiker:innen viele junge Frauen. Dies liegt wohl nicht zuletzt an der unwissenschaftlichen Ansicht, die Impfung mache unfruchtbar.
Auch an der Verfügbarkeit und Zugänglichkeit könnte noch gefeilt werden. Für manche Menschen ist es schlicht zu aufwändig, sich zwischen langem Arbeitstag und Familienarbeit noch um einen Impftermin zu kümmern. Niederschwellige Angebote gibt es zum Beispiel im Kanton Aargau, wo man sich mittlerweile im Einkaufszentrum piksen lassen kann, oder in Zürich, wo seit Kurzem Impf-Trams durch die Strassen fahren.
Vielleicht sollten wir Impfparties schmeissen?
Doch selbst mit einer hohen landesweiten Impfquote wäre das Pandemie-Ziel noch nicht erreicht. Denn wir sind erst geschützt, wenn es alle sind, da das Virus keine nationalen Grenzen kennt (das Lamm berichtete). Doch dafür müssen wir den vorhandenen Zugang zum Impfstoff auch ausreichend nutzen.
Bis dahin darf sich der Diskurs nicht um die Frage drehen, ob sich jemand durch Impfverweigerung selbst verwirklichen darf oder ob es erlaubt sein soll, Impfen autoritär durchzusetzen. Es muss um die Frage gehen, wie wir kollektiv die Gefahr der Pandemie einerseits für das Individuum, aber vor allem auch für die Gesamtgesellschaft abwehren können.
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