Vor über einem Jahr startete Kiki den Instagram-Account The Humans of Moria, eine Plattform für Geflüchtete und Asylbewerber:innen, die wie er im griechischen Lager Moria lebten. Im September 2020 ist das Camp fast vollständig abgebrannt und die rund 12’000 Geflüchteten wurden im Kara Tepe Camp untergebracht.
Kikis Instagram-Account berichtet über den Alltag in den Camps und teilt persönliche Geschichten von Geflüchteten und ihrem mühseligen Weg nach Europa. Das Ziel von The Humans of Moria ist es, die Stimmen der Geflüchteten hörbar zu machen und eine humanere Migrations- und Integrationspolitik der EU zu fordern. In Zusammenarbeit mit das Lamm wurden einige Texte übersetzt und zu einer Artikelserie zusammengefügt. Lies hier den ersten Teil von Kikis Geschichte.
Ankunft im Camp Moria
Wir haben es geschafft, nach Griechenland zu gelangen. Nachdem wir den Hafen erreicht hatten, wurden wir ins Lager Moria gebracht. Ich persönlich war von Moria nicht überrascht, denn ich wusste bereits aus Ruanda, wie ein Lager für Geflüchtete aussieht. Ausserdem hatte ich vor meiner Abreise recherchiert, um zu verstehen, wie es hier sein würde. Ich habe sogar einige Videos auf YouTube über Moria gesehen.
Das einzige, das mich überrascht hat, als ich nach Lesbos kam, war die Dauer des Asylverfahrens. Es kostete sehr viel Zeit. Nach zwölf Monaten hatte ich mein erstes Interview, vier Monate später kam der Entscheid. Ich gehöre zu den wenigen, die das Glück hatten, einen positiven Bescheid zu bekommen. Als Christ dankte ich Gott dafür.
Mich überraschte auch das Ausmass der alltäglichen Gewalt. Viele Menschen prügelten sich ständig. Meistens fanden die Prügeleien zwischen Menschen aus dem gleichen Land statt. Die Leute haben sich sogar gegenseitig erstochen. Die Sicherheit innerhalb des Lagers – innerhalb der Gemeinschaft im Allgemeinen – ist ein grosses Problem.
Ich persönlich verstehe nicht, wie Menschen aus Sicherheitsgründen aus einem Land fliehen und sich untereinander weiter bekämpfen können.
Den ersten Tag im Camp Moria empfand ich als ganz normal. Schon seit 2015 schlief ich in einem Zelt. Aus meiner Zeit in Ruanda wusste ich, wie es ist, sich in einem Lager eine Toilette mit einer ganzen Gemeinschaft teilen zu müssen.
Nach der Ankunft fuhr ich mit dem Registrierungsverfahren fort. Als ich mich für eine Cashcard zur finanziellen Unterstützung registrierte, sagte man mir, dass ich in vier Monaten regelmässig Geld erhalten würde. Okay, dachte ich mir. Bis ich das Geld erhalte, muss ich eine andere Lösung finden, um zu überleben.
Kampf ums Überleben
Als ich durch das Lager schlenderte, sah ich, dass viele Leute keine Matratze hatten, auf der sie hätten schlafen können. Wo es Menschen gibt, gibt es auch eine Möglichkeit, Geld zu verdienen. Da ich niemanden hatte, von dem ich mir Geld hätte leihen können, beschloss ich, in die nahe gelegene Stadt Mytilini zu gehen. Ich hoffte, dass es dort Menschen gab, die ihre alten Matratzen loswerden wollten.
Also machte ich mich auf den Weg und nahm den nächsten Bus nach Mytilini. Am ersten Tag brachte ich zwei Matratzen mit ins Camp und verkaufte sie für 25 Euro. Das wiederholte ich, bis ich die 90 Euro pro Monat an finanzieller Unterstützung bekam, die glücklicherweise zwei Monate früher als erwartet eintrafen.
Nachdem ich Anfang 2020 einige Medienkenntnisse von ReFocus Media Labs erhalten hatte, startete ich den Instagram-Account The Humans Of Moria. Berichterstattung ist meine Leidenschaft und Verantwortung, um der Welt die Wahrheit über die Zustände im Asylwesen zu vermitteln. Das mache ich hauptsächlich, indem ich unsere persönlichen Geschichten teile. Dieses Projekt erlaubt es mir, alle Menschen, die daran interessiert sind, teilnehmen zu lassen.
Neben der täglichen Berichterstattung über die Situation im Lager arbeitete ich ehrenamtlich als medizinischer Dolmetscher. Ich hoffte jedoch, dass ich bald einen bezahlten Job bekommen würde, um meinen Lebensunterhalt damit bestreiten zu können.
Ich habe den Namen The Humans of Moria auch nach dem Brand von Moria beibehalten, weil Moria für mich nicht nur ein Ort ist, an dem wir gelebt haben, sondern auch sinnbildlich für die Bedingungen, unter denen wir hier leben müssen. Und daran hat sich bis heute nichts geändert. Wir sind immer noch die Menschen von Moria. Und es gibt wahrscheinlich noch viele weitere Menschen von Moria an den Grenzen der EU.
Ein positiver Asylentscheid heisst nicht viel
Vor kurzem habe ich hier in Griechenland Asyl bekommen. Eines der Dinge, die sie mir gesagt haben, ist, dass ich nie mehr in mein Heimatland zurückkehren werde.
Ich hatte eine Vorstellung, wie es sein würde, wenn ich Asyl erhalte. Als Asylbewerber denkt man, dass Asyl zu erhalten die Antwort auf alles ist. Vor allem, während man hier auf dieser Insel festsitzt und wie ein Gefangener lebt und keine Rechte hat – nicht mal das Recht, sich frei zu bewegen. Man möchte an diese eine Erlösung glauben.
Aber die Realität, mit der auch ich trotz Asyl leben musste, war anders als erwartet. Innerhalb von 30 Tagen nach Erhalt eines positiven Asylbescheids wird einem die gesamte Unterstützung, die man bisher erhalten hat, wieder genommen. Das heisst, dass einem keine Unterkunft und kein Geld mehr zusteht. So musste ich mich erneut der Frage stellen, wie ich überleben soll.
Ohne bezahlte Arbeit gestaltete sich das Ganze sehr schwer. Ich setzte meine freiwillige Arbeit als Dolmetscher bei einer NGO fort. Diese stellte mir eine Unterkunft und etwas Geld zum Überleben zur Verfügung. Ich kämpfte damit, ein Leben ohne klare Zukunftsperspektive zu führen. Ich träumte davon, meinen Master und meinen Doktortitel zu machen, aber ich sah keine Möglichkeit, dies zu tun.
Nun bin ich ein anerkannter Geflüchteter, wie viele Menschen hier in Griechenland. Aber ich beginne erst langsam zu realisieren, wie lange die Reise noch ist, die vor mir liegt. Es liegen zahlreiche bürokratische, rechtliche und soziale Herausforderungen vor mir. Ich muss vieles neu lernen, wie zum Beispiel kulturelle Bräuche. Denn die Kultur ist der Schlüssel zum Verständnis einer Gesellschaft.
Der Kampf geht weiter
Ich will die Aktivist:innen, die für die Räumung des Geflüchtetenlagers hier auf Lesbos kämpfen, nicht entmutigen. Aber ich möchte folgendes hinzufügen: Bitte kämpfen Sie auch für das nächste Kapitel, mit dem sich anerkannte Geflüchtete auseinandersetzen müssen. Denn diesem Kampf scheint niemand Aufmerksamkeit zu schenken. Und bitte denken Sie daran: Es gibt kein gutes Geflüchtetenlager. Alle Lager sind schlecht. Keines davon ist ein guter Ort, um zu leben oder Kinder grosszuziehen.
In der Zwischenzeit habe ich mich der Aufgabe gewidmet, die Geschichten anderer Menschen zu dokumentieren und zu erzählen – in der Hoffnung, dass sich etwas verbessert.
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