Notruf aus Moria – Die Geschichte von Kiki

Das Flücht­lings­camp auf Moria ist abge­brannt, aber die Menschen und ihre Schick­sale bleiben. Damit sie nicht in Verges­sen­heit geraten, doku­men­tiert das Lamm Geschichten von Geflüch­teten aus Moria in einer mehr­tei­ligen Arti­kel­serie. Den Anfang macht Kiki, der die Geschichten auf seinem Insta­gram-Account gesam­melt hat. 
Diese Zelte sind kein Zuhause, auch wenn viele Menschen schon seit Monaten in ihnen wohnen müssen. (Foto: @the_humans_of_moria)

Vor einem Jahr star­tete Kiki (29) den Insta­gram-Account The Humans of Moria, eine Platt­form für Geflüch­tete und Asylbewerber:innen, die wie er im grie­chi­schen Flücht­lings­lager Moria lebten. Im September 2020 ist das Camp fast voll­ständig abge­brannt und die rund 12’000 Geflüch­teten wurden im Kara Tepe Flücht­lings­camp provi­so­risch untergebracht.

Kikis Insta­gram-Account berichtet über den Alltag in den Camps und teilt persön­liche Geschichten von Geflüch­teten und ihrem mühse­ligen Weg nach Europa. Das Ziel von Humans of Moria ist es, die Stimmen der Geflüch­teten hörbar zu machen und eine huma­nere Migra­tions- und Inte­gra­ti­ons­po­litik der EU zu fordern.

In Zusam­men­ar­beit mit das Lamm wurden einige Texte über­setzt und zu einer Arti­kel­serie zusam­men­ge­fügt. In diesem ersten Text erzählt Kiki den ersten Teil seiner Geschichte.

Die Geschichte von Kiki

Dies ist die Geschichte eines Mannes, der eine lange Reise hinter sich hat.

Ich heiße Kiki und das Leben als Geflüch­teter war nicht neu für mich, als ich im Oktober 2019 im Moria Camp ankam. Zu diesem Zeit­punkt war ich aus meiner Heimat in Burundi geflohen und hatte bereits Jahre in einem Flücht­lings­lager in Ruanda verbracht. Doch auch jetzt, sechs Jahre nach meiner Flucht aus Burundi, ist meine Reise noch lange nicht vorbei – und Moria ist noch immer kein Ort zum Leben. In diesem Text werde ich euch durch einige Ereig­nisse und Träume meines Lebens führen.

Flucht nach Ruanda

Anfang April 2015 beschloss der dama­lige Präsi­dent von Burundi, Pierre Nkurun­ziza, für eine weitere Amts­zeit zu regieren. Viele Menschen, vor allem junge Leute und auch ich, prote­stierten dagegen, weil sie wollten, dass sich die Regie­rung an die Verfas­sung hielt. Doch der amtie­rende Präsi­dent wollte seine Macht nicht abgeben, obwohl seine Amts­zeit abge­laufen war. Die Span­nungen zwischen den Prote­stie­renden und der Polizei nahmen zu. Die Polizei wurde gewalt­tätig und unsere Proteste schei­terten – die Regie­rung war zu mächtig.

Zu diesem Zeit­punkt floh ich nach Ruanda. Denn in Burundi zu bleiben, hätte bedeutet, verhaftet zu werden. So landete ich im Flücht­lings­lager Mahama im Osten des Landes, nahe der Grenze zu Tansania. Im Lager lebten zu dieser Zeit 50’000 Menschen. Im Jahr 2015 erlebte ich also zum ersten Mal, was es bedeutet, ein Geflüch­teter zu sein. Es war ein schlimmes Leben: Wir mussten für alles anstehen, lebten in Zelten, assen nur Mais und Bohnen und das UNHCR gab uns kein Geld.

Wir erhielten 10,5 kg Mais, 3 kg Bohnen und 1,5 l Öl pro Monat, das uns pro Person zur Verfü­gung stand. Allein­ste­hende Männer wie ich konnten sich das Leben über eine Abkür­zung leichter machen: indem sie heira­teten. Denn in meiner Kultur kochen übli­cher­weise die Frauen, nicht die Männer. Aber ich heira­tete nicht, weil ich eine andere Art habe, Probleme zu lösen. Ich schloss mich mit anderen allein­ste­henden Männern zusammen und bildete ein Team: Jeden Tag war einer von uns dran, für die anderen zu kochen.

„Hier leben wir von Tag zu Tag und die Zukunft ist immer ungewiss.“

Die Bedin­gungen als Geflüch­teter in Ruanda waren schlecht, aber sie waren besser als in Lesbos, wie ich zu einem späteren Zeit­punkt erfahren sollte. In Ruanda mussten wir keinen Asyl­an­trag stellen, kein Aufnah­me­ge­spräch führen und keine kompli­zierten Proze­duren durch­laufen. Wir kamen einfach an und erhielten auto­ma­tisch Asyl.

Ruanda und Burundi haben fast iden­ti­sche Spra­chen, eine sehr ähnliche Kultur und die fast gleiche poli­ti­sche Geschichte. Denn beide wurden kolo­ni­siert. Zuerst von den Deut­schen – und dann, nach Deutsch­lands Nieder­lage im 1. Welt­krieg, wurden unsere Länder Belgien zur Kolo­ni­sie­rung über­geben. Das war in jener dunklen Zeit, als man es für gerecht­fer­tigt hielt, andere zu kolonisieren.

In Ruanda empfand ich die Inter­ak­tionen im Camp als unkom­pli­ziert, denn wir alle spra­chen dieselbe Sprache, waren aus dem glei­chen Land und kannten dieselben Gepflo­gen­heiten. Zum Beispiel gaben sich Männer und Frauen zur Begrüs­sung die Hand, was für viele Menschen im Moria-Camp unvor­stellbar ist. Trotzdem sind wir aber auch hier durch eine Sache vereint: die Flucht aus unserer Heimat.

In mancher Hinsicht war diese Zeit in meinem Leben aller­dings ähnlich wie meine spätere Erfah­rung auf Lesbos. Damit meine ich, dass es dort die gleiche Routine gab, die es auch hier gibt: Sie besteht aus Schlafen und Essen. Hier leben wir von Tag zu Tag und die Zukunft ist immer ungewiss.

Aber ich bin stoisch und opti­mi­stisch und ein Über­le­bens­künstler. Solange ich noch atme, werde ich versu­chen, einen Weg aus dieser Situa­tion zu finden. Mit meinen Fingern werde ich eine Spur hinter­lassen. Und wenn ich in diesem Kampf sterben sollte, dann als Captain, der sich seinen Feinden gestellt hat.

Flucht zurück

Im Januar 2016 war ich einer von mehr als 350 Geflüch­teten, die von der Orga­ni­sa­tion Maison Shalom Stipen­dien erhielten, um an Univer­si­täten in Ruanda zu studieren. Erst mussten wir aber sechs Monate Englisch­trai­ning absol­vieren, denn in meinem Land wird im Bildungs­sy­stem Fran­zö­sisch gespro­chen und nicht Englisch wie in Ruanda.

Am Ende des Englisch­trai­nings wurden wir von privaten Univer­si­täten in Ruanda über ihre Programme infor­miert. Seit meiner Kind­heit war es mein Traum, Jour­na­list zu werden. Also besuchte ich alle Veran­stal­tungen auf der Suche nach Kursen im Bereich Jour­na­lismus, jedoch ohne Erfolg. Als nächst­beste Option entschied ich mich für Reise- und Touris­mus­ma­nage­ment und studierte drei Jahre lang.

Aber noch vor dem Abschluss entschied ich mich, nach Burundi zurück­zu­kehren. Es gab in dieser Zeit Gerüchte, dass es dort wieder sicher sei. Ich wollte zurück nach Burundi, weil ich mein Zuhause vermisste, meine Familie, meine Stadt, meine Freunde, das burun­di­sche Essen, alles. Vor allem aber vermisste ich das Gefühl, in meinem eigenen Land zu sein, wo ich alle meine Rechte hatte und nicht den Status eines Geflüch­teten – denn für Geflüch­tete gelten ganz andere Rechte.

Also reiste ich legal nach Burundi zurück, unter­schrieb einige Papiere und annul­lierte meinen Flücht­lings­status, als ich die Grenze in mein Heimat­land über­querte. Diese Entschei­dung bereue ich bis heute, weil sie mir verun­mög­licht, als legaler Mensch zu leben und ich nicht mal mehr den Status als Flücht­ling habe.

Ich war erst ein paar Tage in Burundi, als ich erneut die Chance bekam, das Land zu verlassen. Die Situa­tion in Burundi war noch immer schreck­lich, also bin ich wieder gegangen, ohne zurück­zu­schauen. Es war das letzte Mal, dass ich einen Fuss in mein Land gesetzt habe.

Flucht in die Türkei und nach Griechenland

Als Näch­stes erin­nere ich mich daran, wie ich von Ruanda in die Türkei flog. Es fühlte sich fremd an. Ich war zuvor noch nie wirk­lich ausser­halb meines Landes gewesen, denn Ruanda war wie Burundi, was die Kultur und das soziale Leben angeht. Aber wegzu­gehen und in die Türkei zu kommen, wo ich niemanden kannte, war eine der schwer­sten Entschei­dungen, die ich je getroffen habe. Ich musste es tun, doch von diesem Moment an fühlte ich mich sehr isoliert von meiner Familie und meinem Land. Dieses Gefühl hat mich seither immer begleitet.

„Aber als wir mitten auf dem Meer waren, mit 45 Menschen in diesem unsi­cheren und winzigen Boot, verla­gerte sich meine Angst vor einer Verhaf­tung auf die Angst vor dem Meer und dem Ertrinken.“

Ich erin­nere mich, dass ich bei der Landung auf dem Istan­buler Flug­hafen nur 50 Dollar in meinem Porte­mon­naie hatte, um alles zu bezahlen: Hotel, Essen, Trans­port. Dann waren da noch die 800 Dollar, die ich den Schmugg­lern zahlen musste, um mich über die Grenze nach Grie­chen­land zu bringen.

Ich habe vier Mal versucht, von Izmir nach Lesbos über­zu­setzen, und bin vier Mal geschei­tert. Jeder dieser Über­fahrts­ver­suche war anders. Mein fünfter Versuch, nach Grie­chen­land zu gelangen, war endlich erfolg­reich. Nach so vielen Versu­chen liess mich die Gefahr, in einem kleinen Boot das Meer zu über­queren, beinahe kalt. Bei diesem fünften Versuch betete ich nicht einmal mehr darum, Grie­chen­land sicher zu errei­chen. Ich wollte nur vermeiden, wieder von der türki­schen Polizei gesehen und verhaftet zu werden. Einmal musste ich schon ins Gefängnis.

Aber als wir mitten auf dem Meer waren, mit 45 Menschen in diesem unsi­cheren und winzigen Boot, verla­gerte sich meine Angst vor einer Verhaf­tung auf die Angst vor dem Meer und dem Ertrinken. Die Wellen schlugen in die Dunkel­heit. Ich erin­nere mich an die Geräu­sche weinender Frauen und Babys.

Etwa vier Stunden waren wir auf dem Wasser, bis wir in der Ferne ein Boot erahnen konnten. Wenn es die grie­chi­sche Flagge tragen würde, wären wir gerettet. Die türki­sche würde das Gegen­teil bedeuten: die Rück­kehr ins Gefängnis. Ich werde nie vergessen, wie glück­lich ich war, als ich und andere in der Ferne ein Boot sahen, das die grie­chi­sche Flagge trug. Es bedeu­tete, dass wir es geschafft hatten.


Ihr wollt die Menschen in Moria 2.0 unter­stützen? Hier geht’s zum Spen­den­konto von Kiki und den anderen Humans of Moria.


Jour­na­lismus kostet

Die Produk­tion dieses Arti­kels nahm 14 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 988 einnehmen.

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