„Also haben die Bullen ihn erwischt?“
„Was erwischt? Er hat nichts gemacht?“
„Wie, nichts gemacht? Hat er provoziert?“
„Nein er hat nur seinem Freund geholfen.“
„Aber…“
„Der war einfach ein Psycho, der Bulle.“
„Aber die haben doch Regeln? Es war sicher ein anderer Bulle dabei?“
Ein dritter junger Erwachsener schaltet sich in die Diskussion ein, von seinen Vorredner:innen unterscheidet ihn auf den ersten Blick lediglich die helle Hautfarbe. Dass dieser Unterschied nach Jahren der Freundschaft plötzlich an beissender Relevanz gewinnen wird, zeichnet sich hier erst vorsichtig ab:
„Ja wie, andere Bullen? Es heisst schliesslich ACAB: All Cops Are Bastards!“
Wir befinden uns mitten in der zweiten Szene des Stücks mit dem vielsagenden Namen Bullestress, das diesen Freitag am Schauspielhaus Zürich Premiere feierte.
Im Mittelpunkt von Bullestress steht die fünfköpfige Musikgruppe (oder gemäss Selbstbezeichnung „Crew“) mit dem Namen Spaceshit. Die Mitglieder von Spaceshit sind eng miteinander befreundet, die Karriere kommt langsam in die Gänge, man wagt es zu träumen.
Die Band ist auf sympathische Art ein Klischee ihrer selbst, die Jugendsprache nimmt man den Darstellenden genauso ab wie die stilisierten WhatsApp-Unterhaltungen; nichts wirkt „cringe“, alles „real“. Man macht Musik, kifft, geht aus, macht Witzchen über „die Bullen“. ACAB ist ein konstantes Nebengeräusch, eine latente Lebenseinstellung, die auf Buttons gegen aussen getragen wird.
Dann jedoch wird der Bruder der Sängerin Ella scheinbar unvermittelt zum Opfer rassistischer Polizeigewalt. Die daraus erwachsende Überforderung der einzelnen Bandmitglieder und der Umgang damit ist das tragende Thema von Bullestress.
Theater mit Triggerwarnung
Suna Gürler, die Regisseurin des Stücks, und die Dramaturgin Fadrina Arpagaus hatten das Skript für Bullestress bei den beiden bekannten Slampoet:innen, Schauspieler:innen und Künstler:innen Fatima Moumouni und Laurin Buser in Auftrag gegeben. Entstanden ist ein Kammerspiel mit fünfköpfigem Ensemble. Alle der 18- bis 23-jährigen Darsteller:innen stehen zum ersten Mal auf der „grossen“ Bühne des Schauspielhauses.
Bullestress ist ein Theater mit Triggerwarnung: „Diese Inszenierung enthält verbale Schilderungen von rassistisch motivierter Gewalt und Rachephantasien und kann möglicherweise retraumatisierend wirken“, steht hierzu auf der Website.
Und es soll mehr sein als bloss ein Stück.
Einzelne Vorstellungen werden mit nachfolgenden Diskussionsrunden ergänzt, und die Künstlerin und Darstellerin Mandy Abou Shoak begleitete die Crew in den Vorbereitungen zum Stück mit Anti-Rassismus-Training und Austausch. „Wir mussten uns immer die Frage stellen: Welche Bilder reproduzieren wir auf der Bühne? Welche Sprache benutzen wir?“, erzählt Fadrina Arpagaus.
Gleichzeitig, so Suna Gürler, hätte man in den Vorbereitungen einen grossen Fokus auf den Schutz der Darstellenden gelegt, absichtlich fiktionale Figuren mit fiktionalen Diskriminierungsszenarien geschaffen und nicht auf die Biografien der Darsteller:innen zurückgegriffen. „Auch bei der Frage der Abgrenzung hat Mandy die Darsteller:innen unterstützt“, sagt die Regisseurin.
Darsteller:in Pauline Avognon, sagt, es sei dennoch nicht immer leicht gewesen, ihre Rolle der Ella von den eigenen Erfahrungen zu trennen. Die Emotionen und die Wut, um die es im Stück geht, kenne Pauline schon lange: „Nach den Proben war es manchmal schwierig, einfach abzustellen. Auch wenn die Erfahrungen fiktiv sind, sind sie einem oft nicht fremd.“
„Während meiner Ausbildung in der Pflege wurde ich immer wieder mit Aussagen konfrontiert, wonach es in der Schweiz keinen Rassismus gebe, es ‚hier nicht so schlimm‘ sei“, erzählt auch Fayrouz Gabriel, die im Stück Astro spielt. Umso wichtiger sei es, das Thema anzusprechen und den Leuten zu sagen: „Hallo, macht mal eure Augen auf, Rassismus gibt es nicht nur in den USA.“
Mehr als Bullestress
Auf der Bühne entflammt nach dem rassistischen Übergriff gegenüber Ellas Bruder Karim im Kreis der fünf befreundeten Musiker:innen ein Ringen um Überforderung und Mitgefühl, um die Einsicht, dass ein und dasselbe Erlebnis von jeder Person anders erfahren wird, darum, wer hier wie viel Raum einnehmen soll – und um die Übertragbarkeit von subjektiven Erfahrungen auf andere.
Bullestress handelt schon bald nicht mehr nur von Polizeigewalt, sondern auch von „White Saviourism“ und inszenierter Verbundenheit, von Selbstgefälligkeit, aber auch von Intersektionalität, Rachefantasien und Dankbarkeit. Die Performance der sozialen Klasse, der Sexualität, der Geschlechtsidentität: Das Zusammenspiel dieser Faktoren fliesst nach und nach, Szene um Szene, weiter in die Handlung ein und macht diese zunehmend mehrdimensional und plastisch.
Für die Zuschauer:innen ist Bullestress ein unangenehmes, teilweise überforderndes Stück. Anfangs bunt und laut, wird die Handlung zunehmend wütend, rau, schwer zu ertragen. Im Kern geht es bald nicht mehr um „den einen Bullen“, sondern um strukturellen und gelebten Rassismus im scheinbar sterilen Wirkungsraum Schweiz, wo man gerne mit dem Finger auf andere zeigt. Und vor allem auch darum, wie schwer es ist, als Freundeskreis und als Individuum mit der Thematik umzugehen, wenn nicht alle gleichermassen betroffen sind, nicht denselben Wissensstand zum Thema haben.
Was Bullestress ausmacht, ist, dass das Stück bis zum Schluss keine vereinfachten Lösungsansätze präsentiert und zugleich keine definitive Position einnimmt. Es lässt den Zuschauer:innen offen, auf wessen Seite sie sich stellen. Und schliesslich darf, ja muss man sich gerade als weisse Zuschauerin immer auch fragen: Wie würde ich reagieren? Was für Stereotypen und Bilder reproduziere ich, wenn ich über Rassismus spreche, auch wenn ich es „eigentlich nur gut meine“? Wessen Erfahrungen gestehe ich wie viel Raum zu, wenn direkt Betroffene erzählen? Höre ich dann überhaupt richtig zu?
Schliesslich liegt darin die Stärke dieses Theaterstücks: im Aufzeigen von unterschiedlichen Zugängen, im Aushalten von Dissonanz. Und darin, dass die Zuschauer:innen hier keine andere Wahl haben, als sich dem Thema zu stellen. So ist der wohl stillste Moment des Stücks auch der Stärkste, weil es keinen Ausweg aus dem Zuhören gibt, als die fünf Darstellenden die Namen bekannter Opfer rassistischer Polizeigewalt in der Schweiz verlesen: Wilson, Lamine Fatty, Mike Ben Peter, Nzoy. Hinzu kommen all jene, deren Namen unbekannt bleiben.
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