Es ist das Jahr 1981. Annemarie André* ist seit 1978 als Sekretärin am Historischen Seminar (HS) der Universität Zürich tätig. Erst wenige Jahre zuvor schuf das Seminar die erste Sekretariatsstelle. Wie lange sie am HS tätig war, ist unklar. In den Tiefen einer Archivschachtel im Staatsarchiv Zürich liegt einzig ein Brief, gezeichnet von ihr, gerichtet an den Universitätssekretär – ein naher Mitarbeiter des Rektors.
André schreibt in diesem Brief, dass sie seit mehreren Jahren jeden Tag mit ihrem Hund zur Arbeit gehe. Doch der bevorstehende Umzug des HS ins Hauptgebäude liesse dies nicht mehr zu. Denn im Gegensatz zu den aktuellen Räumlichkeiten seien im Hauptgebäude keine Hunde erlaubt.
Nach Darstellung der aktuellen Umstände, schildert André ihr Dilemma: „Da der Hund nicht nur im Hinblick auf die Zucht (als Deckrüde) […] sondern für mich besonders auch einen ideelen Wert hat, möchte ich mich nicht von ihm trennen. Genausowenig möchte ich meine Stelle hier an der Universität aufgeben.“
Ihre Eltern könnten den Hund altersbedingt nicht mehr hüten. Unten rechts im Plädoyer, das eine Seite lang ist, steht handschriftlich: „Mit Annemarie André die Gründe besprochen, die zu einem abschlägigen Entscheid führten“, unterzeichnet vom Universitätssekretär.
Mit einem Satz verbot die Universität André, ihren Hund ins Büro mitzunehmen. Ein Arrangement, welches laut Brief bis anhin wohl gut funktionierte, findet mit dem HS-Umzug ein Ende. Was mit André und ihrem Hund danach passiert ist, bleibt unklar.
Wenn man heute am Historischen Seminar nach André fragt, erinnern sich zwar einige alteingesessene Mitarbeiter*innen an sie oder gar das Hundebett an ihrem Arbeitsplatz. Der Fall hat in den Archiven lediglich eine Spur hinterlassen: Den Brief von André.
Dieser Brief ist der Versuch einer Sekretärin, sich gegen die universitären Strukturen aufzulehnen und für bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen – auch wenn es nur um einen Hund ging. Doch der Versuch war vergebens. Heute lebt André in der Nähe von Winterthur und möchte nicht über ihre Zeit am HS sprechen. Deswegen wurde auch ihr Name geändert.
Archive sortieren und bewahren scheinbar wichtige Dokumente für die Zukunft auf. Welche Dokumente es ins Archiv schaffen und welche einer Kassation – also der Aktenvernichtung durch Archivar*innen – zum Opfer fallen, ist oft Zufall. Gewisse Kriterien halten die meisten Archive bei der Kassation ein.
Ein wichtiges Kriterium ist der Erkenntnisgewinn aus den Akten. Möglicherweise fanden die Archivar*innen der Vergangenheit den Erkenntnisgewinn aus Akten von und über Sekretärinnen nicht gross genug. Oder Sekretärinnen haben schlicht und einfach keine Selbstzeugnisse produziert.
Die dünne Aktenlage im Fall von André und ihrem Hund aber zeigt: Die Geschichte der Sekretärinnen des HS der Universität Zürich zu erzählen, ist schwierig — obwohl genau diese Frauen im Hintergrund für einen reibungslosen Universitätsalltag sorgten und sorgen. Doch spulen wir einige Jahre zurück.
Kaum Archivmaterial
Bis in die 70er Jahre erledigten die Assistent*innen, die gleichzeitig eine Dissertation schrieben, die administrativen Aufgaben am HS. Mit dem Anstieg der Studierendenzahlen und der aufkommenden Internationalisierung des Instituts erhöhte sich aber auch der administrative Aufwand. Das HS suchte in den 70er Jahren erstmals eine Sekretärin.
Die Position war damals nur für Frauen gedacht, wie aus den Archivakten klar wird. Im Regierungsratsbeschluss zum HS-Stellenplan vom August 1971 ist vermerkt: „In den mit ihm geführten Berufungsverhandlungen hat Prof. Peter Stadler das Begehren auf Schaffung einer Assistentenstelle zu seiner persönlichen Verfügung und einer Sekretärinnenstelle zu seiner und zur Verfügung des Historischen Seminars angemeldet.“
In den Archiven, die die Geschichte des historischen Seminars dokumentieren – das seminarseigene Archiv, jenes der Universität Zürich und das Staatsarchiv des Kantons Zürichs – stapeln sich Sitzungsprotokolle, Manuskripte, Vorlesungsnotizen von Professoren (alle Professuren waren wie die meisten Dozierendenstellen bis ins Jahr 2003 von Männern besetzt) und zum Teil belanglose Korrespondenzen.
Wir suchen neue Beiträge für Geschichte Heute
In dieser monatlich erscheinenden Artikelserie beleuchten Expert*innen vergangene Ereignisse und wie sie unsere Gesellschaft bis heute prägen.
Befasst auch du dich intensiv mit einem geschichtlichen Thema, das für das Lamm interessant sein könnte? Und möchtest du dieses einem breiten Publikum zugänglich machen und damit zu einem besseren Verständnis des aktuellen Zeitgeschehens beitragen?
Dann melde dich mit einem Artikelvorschlag bei: geschichte.heute@daslamm.ch.
Obwohl die Archivschachteln prall gefüllt sind, geben einzig die Regierungsratbeschlüsse des Kantons Zürich Aufschluss über die ersten Schritte in Richtung Professionaliserung der administrativen Tätigkeiten – und somit über die ersten Spuren der Sekretärinnen am HS.
In diesen Regierungsratsbeschlüssen sind Anpassungen des Universitätsgesetzes oder neu geschaffene Stellen vermerkt – beispielsweise Sekretärinnenstellen oder Neuberufungen von Professor*innen. Während die Professor*innen bei ihrer Berufung jedoch namentlich erwähnt werden, ist nicht klar, wer eine neu geschaffene Sekretärinnenstelle erhält.
Es ist also unmöglich, den Namen der Sekretärin herauszufinden, die Professor Peter Stadler in den 70er Jahren eingestellt hat, denn Personalakten müssen aus Datenschutzgründen vernichtet werden. Weitere Hinweise gibt es in den Archiven nicht.
Enorme Leistungsanforderungen und kleine Schreibtische
Wenige Monate nach Peter Stadlers Amstantritt wurde bereits eine weitere Stelle für eine Halbtagssekretärin geschaffen. Über die Jahre stellte das HS in regelmässigen Abständen neue Frauen als Sekretärinnen an.
Die Regierungsratsbeschlüsse geben nicht nur Aufschluss über neue Stellen, sondern auch über die Stellenprofile: „Schreiben wissenschaftlicher Texte, Organisationsaufgaben in den Bereichen Dokumentation, administrative Studenten- und Lizentiandenbetreuung usw.; Sucharbeiten in Bibliotheken und Archiven, selbstständige Erledigung der Korrespondenz (zum Teil fremdsprachig).“ Dies sind die Arbeiten, die eine Sekretärin am HS Ende der 1970er Jahre zu bewältigen hatte.
Die Sekretärinnen erledigten in diesen Jahren also auch eine Vielzahl an wissenschaftlichen Arbeiten. Ihre Arbeit findet im Gegensatz zu derjenigen ihrer Vorgesetzten aber im Hintergrund statt. Während unzählige Bilder von Professor*innen an ihren grossen Schreibtischen während Vorträgen oder als Portraits existieren, gibt es in den Archivschachteln von Sekretärinnen aus dieser Zeit kaum Fotomaterial.
Das Titelfoto ist daher ein seltenes Zeugnis. Es zeigt Sekretärinnen der Zentralverwaltung der Universität in den 80er Jahren und stammt von einem offiziellen Fototermin. Ob die Darstellung dem normalen Arbeitsalltag entspricht, ist deshalb unklar.
Dennoch gibt es Hinweise auf die möglichen Arbeitsbedingungen: Winzige Arbeitstische ohne Platz für persönliche Gegenstände oder eine Tasse. Tippen auf der Schreibmaschine mit dem Telefon in Reichweite – eine Sekretärin muss multitasking beherrschen.
Die hohen Anforderungen und die vielfältigen zu erledigenden Aufgaben schlugen sich jedoch nicht im Lohn nieder. Laut der Beamtenverordnung von 1970 verdiente eine Sekretärin damals zwischen 14’922 bis 18’330 CHF jährlich. Professor Stadler verdiente im Jahr 1978 117’800 CHF.
Für einen reibungslosen Universitätsablauf
In den frühen 2000er Jahren professionalisierte das HS seine Administration noch weiter. Im Zuge der Internationalisierung stellte der amtierende Seminarvorstand eine Geschäftsführerin ein, suchte Mitarbeiter*innen für das Seminarsekretariat und gründete eine IT-Abteilung.
Alle diese Mitarbeiter*innen bilden heute die zentralen Dienste des HS. Sie sind wahre Allrounder*innen – genau wie ihre Vorgängerinnen in den 70er Jahren. Sie werden jedoch nicht mehr als Sekretärinnen bezeichnet – sondern als administratives-technisches Personal, beziehungsweise als ATP.
Das ATP ist etwa zuständig für die interne und externe Kommunikation, Drittmittelmanagement, Websitenbewirtschaftung, Personalplanung und die Studierendenadministration. Sie sorgen dafür, dass der Universitätsbetrieb reibungslos funktioniert, indem sie nicht nur jegliche organisatorischen Fragen zu Prüfungen oder Sprechstunden der Studierenden lösen, sondern — etwa bei einer schlechten Masterarbeitsnote — auch emotionale Unterstützung und Rat bieten.
Obwohl sie heute weniger rein wissenschaftliche Arbeiten als die Sekretärinnen der 70er Jahre erledigen: Durch sie ist forschen, lehren und arbeiten am HS überhaupt möglich.
Trotzdem taucht bis heute in den Archiven selten ein Name einer Sekretärin auf. Von den Professor*innen sind hingegen seit der Gründung des HS im 19. Jahrhundert alle Namen bekannt. Sie sind es, die im Vordergrund stehen, denn sie betreiben Forschung und Lehre. Obwohl sie ohne ihre administrativen Mitarbeiter*innen im Rücken nicht arbeiten könnten.
Die Hierarchie an der Universität mit den Professor*innen an der Spitze und dem ATP praktisch ganz unten ist schon seit Jahrzehnten eindeutig. Heute aber kämpft das ATP nicht wie Annemarie André einzeln im Hintergrund für bessere Arbeitsbedingungen, sondern ist seit 2005 in der Vereinigung des administrativen und technischen Personals (V‑ATP) der Universität Zürich organisiert.
Die V‑ATP setzt sich für bessere Arbeitsbedingungen des ATP an der Universität Zürich ein und schreibt auf ihrer Webseite: „Ohne ATP läuft nichts. Andere Stände sind gleich wichtig. Aber das ATP macht es möglich, dass Forschende und Lehrende zu Höchstform auflaufen können.“
Die vergessene Geschichte
Seit dem 20. Jahrhundert hat sich das Berufsbild der Sekretärin – oder des ATP – stark geändert. Heute sind sie teilweise Projektleiterinnen und tragen viel Verantwortung. Aber bis heute widerspiegeln sich ihr Können und ihre Leistungen nicht im Lohn. Sie sind in den Lohnklassen 12–14. In der Lohnklasse 13 sind auch Hilfswissenschaftliche Assisten*innen.
Hiwis – wie sie an der Uni genannt werden – sind meist Studierende, die über einen Bachelorabschluss verfügen. ATP hingegen sind oft Frauen, welche ein Masterstudium oder eine KV-Lehre und teilweise auch mehrere Weiterbildungen absolviert haben. Sie tragen mehr Verantwortung als Hiwis und müssen auch einen breiteren Aufgabenbereich abdecken.
Wie im aktuellen Lohnreglement der Uni Zürich festgehalten wird, sind ordentliche Professor*innen in der Lohnklasse 27 – verdienen also zwischen 148’241 bis 249’538 CHF jährlich. Die Lohnklasse 13 entspricht derweil einem Jahreslohn zwischen 64’778 bis 99’955 CHF.
Die Sekretärinnen der 70er Jahre spielen wie die ATP-Frauen eine zentrale Rolle für das HS und ihre Geschichten sollten vermehrt erzählt werden. Doch in den Archiven sind sie praktisch unsichtbar — sie wurden vor allem im Zusammenhang mit Mehrarbeit thematisiert.
Es wurden Anforderungen an sie gestellt, die erwarteten Leistungen aufgelistet oder Stellenanzeigen geschaltet. Ihre eigenen Stimmen hingegen fehlen. Einzig Andrés Brief gibt Aufschluss über die möglichen Kämpfe, die die Sekretärinnen in den Vergangenheit mit ihrer Arbeitgeberin führten.
Einige Jahre nach Annemarie Andrés Brief an den Universitätssekretär wird ein neuer Professor berufen. Längst ist das HS ins Hauptgebäude umgezogen, doch aus dem Büro des Professors hören die Studierenden immer wieder ein Bellen. Der Professor nahm bis zu seiner Emeritierung vor nicht allzu langer Zeit seine Hündin mit ins Büro – obwohl Haustiere an der Universität Zürich bis heute verboten sind.
Maryam Joseph ist Historikerin. Für das 150-jährige Jubiläum des historischen Seminars der Universität Zürich hat Sie gemeinsam mit Jose Cáceres Mardones die 3. Staffel „Das Seminar. Archivgeschichten“ des 15past15 Podcastes produziert.
Die 4. Von 7 Folgen erzählt die Geschichte der Frauen am historischen Seminar: Von den ersten Studentinnen und den ersten Professorinnen.
Zurzeit arbeitet Maryam Joseph als unsichtbare Mitarbeiterin bei der Schweizerischen Gesellschaft für Geschichte.
Journalismus kostet
Die Produktion dieses Artikels nahm 32 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 1924 einnehmen.
Als Leser*in von das Lamm konsumierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demokratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produktion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rechnung sieht so aus:
Wir haben einen Lohndeckel bei CHF 22. Die gewerkschaftliche Empfehlung wäre CHF 35 pro Stunde.
CHF 1120 → 35 CHF/h für Lohn der Schreibenden, Redigat, Korrektorat (Produktion)
CHF 544 → 17 CHF/h für Fixkosten (Raum- & Servermiete, Programme usw.)
CHF 260 pro Artikel → Backoffice, Kommunikation, IT, Bildredaktion, Marketing usw.
Weitere Informationen zu unseren Finanzen findest du hier.
Solidarisches Abo
Nur durch Abos erhalten wir finanzielle Sicherheit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unterstützt du uns nachhaltig und machst Journalismus demokratisch zugänglich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.
Ihr unterstützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorgfältig recherchierte Informationen, kritisch aufbereitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unabhängig von ihren finanziellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Journalismus abseits von schnellen News und Clickbait erhalten.
In der kriselnden Medienwelt ist es ohnehin fast unmöglich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkommerziell ausgerichtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugänglich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure solidarischen Abos angewiesen. Unser Lohn ist unmittelbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kritischen Journalismus für alle.
Einzelspende
Ihr wollt uns lieber einmalig unterstützen?