Vor ein paar Wochen hatte ich ein Vorgespräch für eine Veranstaltung, auf der ich sprechen sollte. In solchen Vorgesprächen machen sich Moderator*innen ein Bild von dem, wofür der jeweilige Gast steht, sie fragen nach der Position zu bestimmten politischen Fragen und es wird besprochen, wie die Veranstaltung ablaufen wird.
In dem Vorgespräch sagte die Moderatorin mehrmals, dass meine Position die des Betroffenen sei. Demgegenüber stellte sie zwei eingeladene Wissenschaftler*innen als Expert*innen vor. Wie oft habe ich mir das schon anhören müssen, bei Talkshows, Interviews und Lesungen, und wie oft hat es sich falsch angefühlt.
Der Grund, warum ich eingeladen werde, ist natürlich ein anderer. Ich werde eingeladen, weil ich das Erlebte in eine Sprache bringe, die andere Menschen erreicht. Nicht das Erlebte macht den Unterschied, sondern die Schlüsse, die ich aus meinen Erfahrungen ziehe.
Nicht, dass ich drei viertel meines Lebens in relativer Armut gelebt habe, ist der ausschlaggebende Punkt. Sondern, dass ich meine Lebensrealität, und die meiner Leute, skandalisiere, dass ich den Reichtum der oberen zehn Prozent als Bedingung meiner Armut schildere. Dass ich für das Elend der Armut Worte, Bilder und Vergleiche finde, die diese Lebensrealität für Menschen mit einer anderen Lebensrealität erfahrbar, hörbar und fühlbar werden lassen. Und natürlich, dass ich auch bereit bin, von mir selbst und meinen Armutserfahrungen zu erzählen.
„David gegen Goliath“ ist hier Programm: Olivier David gegen die Goliaths dieser Welt. Anstatt nach unten wird nach oben getreten. Es geht um die Lage und den Facettenreichtum der unteren Klasse. Die Kolumne dient als Ort, um Aspekte der Armut, Prekarität und Gegenkultur zu reflektieren, zu besprechen, einzuordnen. „David gegen Goliath“ ist der Versuch eines Schreibens mit Klassenstandpunkt, damit aus der Klasse an sich eine Klasse für sich wird. Die Kolumne erscheint ebenfalls als Newsletter.
Die Identität eines Betroffenen
In der Welt der Medien, der Podien, der Talkshows wird das eben Aufgezählte jedoch nicht benannt. Sie sehen nur die persönliche Note: Olivier David, Betroffener. Wumms. Dass ich zwei Jahre an meinem Buch geschrieben habe, das mich nun legitimiert, in solchen Runden zu sitzen: egal. Und natürlich ist es auch so, dass ich mich als Betrachtungsgegenstand anbiete, etwa indem ich aus persönlicher Sicht schreibe.
Ungeachtet dessen besteht ein grosser Widerspruch in dieser medialen Logik, die Menschen, die Erfahrungen zum Beispiel mit Rassismus oder Sexismus gemacht haben, zu Betroffenen umlabelt. Als könnte man nicht unter etwas gelitten haben und gleichzeitig dazu eine fachliche Expertise haben. Denn derselbe bürgerlich-liberale Journalismus arbeitet sich seit Jahren am Rückzug in Identitäten ab: Kritik an Identitätspolitik ist ein eigenes Genre geworden. Gleichzeitig produziert dieser Journalismus die Identitäten selbst am laufenden Band.
Wir brauchen noch wen Linken in der Talkshow. Oder eine Frau. Oder eine queere Person. Was damit meist gemeint ist: Eine betroffene Person.
Dass ich von etwas betroffen bin, sorgt nicht dafür, dass diese Betroffenheit meine komplette und komplexe Identität bestimmt.
Nehmen wir TV-Dokumentationen als Beispiel. In ihnen finden wir immer wieder dieselbe handwerkliche Logik: Auf der einen Seite gibt es die Protagonist*innen. Oft werden sie bereits in den Verträgen, die zu diesen Filmen abgeschlossen werden, als Betroffene geführt. „Olivier David, im weiteren ‚Betroffener‘ genannt.“ Ihnen gegenübergestellt ist der Antagonist. Das ist im Falle von Armutsreportagen meist ein kerniger Typ im Stile Christian Lindners, der die Erfahrungen und Schlüsse des Protagonisten negiert. „Aufstieg durch Fleiss“, „jeder kann es schaffen“ – diese ausgelutschte Leier eben, die noch nie gestimmt hat, aber je weniger sie stimmt, desto eiserner wird an ihr festgehalten. An dritter Stelle gibt es den – vermeintlich – neutralen Experten, oft ein Mann, der die gesagten Dinge einordnet.
Diese Medienlogik führt zu absurden Phänomenen. Bis vor wenigen Jahren haben öffentlich-rechtliche Sender ausgeschlossen, dass Auslandskorrespondent*innen den Pass des Landes tragen, aus dem sie berichten. Ein erfundenes Beispiel: Eine Schweizer Journalistin, so die Annahme, kann für einen deutschen Sender nicht neutral über die Schweiz berichten. Das ist natürlich ein grosser Witz. Ich fordere, nur noch ausländische Journalist*innen dürfen künftig über die Schweiz berichten, alles andere verstösst gegen das Neutralitätsgebot!
Aber im Ernst. Ich bin noch kein einziges Mal auf die Idee gekommen, mich irgendwohin zu stellen und von mir als Betroffener zu sprechen. Dass ich von etwas betroffen bin, sorgt nicht dafür, dass diese Betroffenheit meine komplette und komplexe Identität bestimmt. Und die Frage der Betroffenheit führt unweigerlich zur Frage der Identität. Ist Armut eine solche Identität?
Wenn die Habitustransformation reinkickt
Wer sich den deutschen Ex-Bundeskanzler und Putin-Freund Gerhard Schröder oder seinen engen Vertrauten und Ex-Wirtschaftsminister Wolfgang Clement anschaut, der ist geneigt, zu sagen: Nein, das Aufwachsen in der Arbeiter*innenklasse schafft nicht per se Identität. Als massgebliche Akteure der armenfeindlichen Agenda 2010 haben Schröder, Sohn eines Hilfsarbeiters, und Clement, Sohn eines Baumeisters, das Nach-unten-Treten mit der Einführung von Hartz 4 in Deutschland auf ein ganz neues Level gebracht.
Die Chefin eines Unternehmens, die es aus der Unterklasse nach oben geschafft hat, wird in ihrer Funktion als Chefin weniger von ihrem Aufwachsen geprägt, als von ihrer Funktion als Leiterin.
Überhaupt, man braucht sich nur die Biografien der wenigen Aufsteiger*innen in Politik und Wirtschaft, in Medien und Kulturbetrieb anschauen, um zu sehen, dass sich der eigene Lebensweg den Bedürfnissen und Anforderungen des (aktuellen) sozialen Milieus anpasst. So heisst es in einem Aufsatz des Bildungsoziologen Aladin El-Mafaalani, dass „ein Aufstieg als ‚Marsch durch die Institutionen’ bedeutet, sich auf die historisch gewachsenen Herrschaftsstrukturen einzulassen“.
Man ist dann weniger die bodenständige Chefin von Unten, als Diejenige, die Unternehmensziele kommunizieren muss, die oftmals wenig mit den Bedürfnissen der Leute aus der Herkunftsklasse gemein haben. Mit anderen Worten: Die Chefin eines Unternehmens, die es aus der Unterklasse nach oben geschafft hat, wird in ihrer Funktion als Chefin weniger von ihrem Aufwachsen geprägt, als von ihrer Funktion als Leiterin, aus der heraus sie marktwirtschaftliche Entscheidungen trifft.
Die Möglichkeit, seinen Habitus – also die Art zu sprechen, sich zu bewegen, sich zu geben – veränderten Bedingungen anzupassen, wird in der Soziologie Habitustransformation genannt. Was klingt wie das Fitnessprogramm eines bekannten deutschen Rappers, beschreibt die Fähigkeit, sich den Spielregeln der Klasse (oder der Klassenfraktion) anzupassen, in der man sich aktuell befindet.
Lebensverhältnisse prägen einen
Natürlich ist das nicht jedem vergönnt. Zum einen mangelt es auf einer systematischen Ebene an Möglichkeiten, sich aus der Armut zu befreien: Der Aufstieg ist die Ausnahme, während der soziale Abstieg und der drohende Statusverlust das deutlich weiter verbreitete Phänomen ist.
Und zum anderen kann man sich Habitustransformation nicht als schnelles An- und Abstreifen von Sprache, Körpergefühl und angepassten Umgangsformen vorstellen. Oft sind es langwierige Prozesse, die mit Anpassungsschwierigkeiten und Gefühlen von Fremdheit und Verrat dem eigenen Milieu gegenüber einhergehen. Viele spüren ihr ganzes Leben, wie ihr Bezug zur Welt von dem geprägt ist, was sie in ihrem Leben am stärksten beeinflusst hat.
Forschende der Cambridge-Universität konnten Kündigungen und Neueinstellungen mit steigenden oder sinkenden Raten psychischer Erkrankungen in einem Land in Verbindung bringen.
Dennoch gilt: Ändern sich die Lebensverhältnisse, ändern sich die Menschen. Besonders deutlich kann man das bei psychischer Gesundheit erkennen. Forschende der Cambridge-Universität konnten Kündigungen und Neueinstellungen mit steigenden oder sinkenden Raten psychischer Erkrankungen in einem Land in Verbindung bringen. In der Studie “zeigt sich, dass positive wirtschaftliche Schocks für den Einzelnen die psychische Gesundheit verbessern, während negative wirtschaftliche Schocks die psychische Gesundheit beeinträchtigen“.
Eineinhalb Jahre nach Veröffentlichung meines Buches bemerke ich eine zunehmende Müdigkeit, mich auf diesen Betroffenen-Zirkus einzulassen. Ich sage immer mehr Interviews und Anfragen ab und schaue nun etwas genauer hin, wenn ich eingeladen werde. Der Logik des Betroffenen ganz entkommen kann ich nicht – zu sehr bin ich auf die Honorare angewiesen, die Veranstalter*innen mir zahlen. Aber ich nehme an mir einen Rückzug wahr. Mein Schreiben verändert sich. Anstatt den medialen Logiken hinterherzurennen und sich jedem diskriminierenden Framing entgegenzustellen, fokussiere ich meine Kraft in Projekte, in denen ich für etwas kämpfen kann.
Aber etwas bleibt natürlich: Ich werde weiter von mir erzählen, auch wenn das Ich in einem Text seine Unschuld verloren hat. In Zeiten, in denen das Ich oft nur noch ein Verkaufsargument darstellt, fällt es schwer, das emanzipatorische Potential dieses Ichs zu verteidigen. Und dennoch gibt es ihn, den Raum für das Ich, in einer Gesellschaft, in der Grundrechte immer häufiger an Bedingungen geknüpft werden; in einer Gesellschaft, in der das soziale Klima kälter und der Ton rauer wird. Und zwar immer dann, wenn Einzelne sagen: Mit mir nicht!
Journalismus kostet
Die Produktion dieses Artikels nahm 16 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 1092 einnehmen.
Als Leser*in von das Lamm konsumierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demokratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produktion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rechnung sieht so aus:
Wir haben einen Lohndeckel bei CHF 22. Die gewerkschaftliche Empfehlung wäre CHF 35 pro Stunde.
CHF 560 → 35 CHF/h für Lohn der Schreibenden, Redigat, Korrektorat (Produktion)
CHF 272 → 17 CHF/h für Fixkosten (Raum- & Servermiete, Programme usw.)
CHF 260 pro Artikel → Backoffice, Kommunikation, IT, Bildredaktion, Marketing usw.
Weitere Informationen zu unseren Finanzen findest du hier.
Solidarisches Abo
Nur durch Abos erhalten wir finanzielle Sicherheit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unterstützt du uns nachhaltig und machst Journalismus demokratisch zugänglich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.
Ihr unterstützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorgfältig recherchierte Informationen, kritisch aufbereitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unabhängig von ihren finanziellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Journalismus abseits von schnellen News und Clickbait erhalten.
In der kriselnden Medienwelt ist es ohnehin fast unmöglich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkommerziell ausgerichtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugänglich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure solidarischen Abos angewiesen. Unser Lohn ist unmittelbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kritischen Journalismus für alle.
Einzelspende
Ihr wollt uns lieber einmalig unterstützen?