„Seit ich meine Lehre vor dreissig Jahren angefangen habe, heisst es, das Buch würde bald sterben“, sagt Ruth Schildknecht. Sie ist eine der Zürcher Buchhändler*innen, die die Petition „Für den Erhalt vielfältiger und unabhängiger Buchhandlungen in der Stadt Zürich“ Mitte Februar lanciert haben. Und eine von vielen, die den unabhängigen Buchhandel entgegen allen Widrigkeiten mit viel Herzblut betreiben.
Gegen das Sterben des Buches spricht zumindest der Erfolg der Petition: Innerhalb von knapp drei Monaten haben 11’000 Personen allein online unterschrieben. Am 16. Mai wird sie dem Stadtrat überreicht.
Auslöser für den Aufschrei war der Verlust einer wichtigen Grosskundin: die traditionsreiche Pestalozzi Bibliothek Zürich (PBZ) mit ihren 14 Filialen in der ganzen Stadt. Viele kleine Buchhandlungen hatten jahrelang einzelne PBZ-Filialen in ihrer Nähe beliefert. Die Bibliothekar*innen kamen in den Läden vorbei und liessen sich vom dortigen Angebot inspirieren. Sie bestellten auch mit dem Wissen um die Vorlieben in ihrem Quartier: eine informelle Zusammenarbeit zwischen den Bibliotheken und den Buchläden der Stadt.
Doch damit ist nun Schluss.
Vor einem Jahr kündigte die PBZ per Juni 2024 alle bisherigen Liefervereinbarungen mit den lokalen Buchhandlungen. Sie bündelte alle Medienbestellungen, die die Bibliothekar*innen der einzelnen Filialen früher eigenständig gemacht hatten, zu 14 thematischen Sammelbestellungen, die künftig alle Filialen beliefern sollen. Dann schrieb sie sie öffentlich aus.
Sparen ohne Not
Im Jahr 1896 gegründet, funktioniert die PBZ seit jeher als Verein, der grösstenteils mit Zürcher Steuergeldern finanziert wird. Als öffentliche Bibliothek ist sie aus Zürich kaum wegzudenken und leistet laut der Stadt „einen wichtigen, diskriminierungsfreien Beitrag zur Lese- und Lernkultur.“
Vier der 16 Mitglieder des Vorstands, der für die strategische und finanzielle Leitung verantwortlich ist, sind aufgrund der hohen finanziellen Beteiligung der Stadt vom Stadtrat ernannt – darunter FDP-Stadtrat Filippo Leutenegger.
Die Änderung in ihrer Beschaffungspolitik begründet die PBZ einerseits mit einem Sachzwang: Institutionen, die mehr als fünfzig Prozent ihrer Mittel aus öffentlicher Hand erhalten, müssen ihre Beschaffungen öffentlich ausschreiben. So schreibt es die „Interkantonale Vereinbarung über das öffentliche Beschaffungswesen“ vor. Bisher habe man das nicht „auf dem Radar gehabt“, weil man jeder Bibliothek ein individuelles Budget zugeteilt habe, sagt Felix Hüppi, Direktor der PBZ. Daher erfolge die Ausschreibung erst jetzt, nachdem man jahrelang mit den lokalen Buchläden zusammenarbeitete und sie so informell quersubventionierte.
Andererseits bringt Hüppi die Ausschreibung auch mit „der Digitalisierung und dem damit einhergehenden Wandel“ in Zusammenhang. Aktuell habe die PBZ zwar nicht mit abnehmenden Besuchszahlen zu kämpfen, aber sie müsse sich für die Zukunft wappnen. Durch die Sammelbestellungen werde Arbeitszeit gespart, die die Bibliothekar*innen von nun an in die Ausarbeitung niederschwelliger Lernangebote für die Quartiere investieren werden.
Das erinnert doch stark an die Arbeit von Gemeinschaftszentren. Was grenzt die PBZ noch davon ab? „Der Fokus auf das Wissen und das lebenslange Lernen“, antwortet der Direktor.
Spezialwissen und persönliche Beratung
Vergangenen Sommer kamen die betroffenen Buchhändler*innen im Innenhof des Buchladens Paranoia City ein erstes Mal zusammen. Sie beschlossen, das Gespräch mit dem Vorstand der PBZ zu suchen, wie Melina Korros von Paranoia City das Lamm gegenüber erzählt.
Den Buchladen in Wiedikon haben Korros und ihre zwei Mitstreiterinnen 2020 übernommen – es gibt ihn aber schon seit 1975. „Es geht uns im Vergleich zu anderen unabhängigen Buchhandlungen finanziell okay“, sagt Korros. Ob es auch ohne die Bestellungen der PBZ so bleiben wird? „Momentan denken wir schon. Jedoch können wir das immer nur kurzfristig sagen. Als kleiner Fisch in unserer Branche haben wir keine langfristige Sicherheit“, erklärt sie. Sie seien angewiesen auf Grosskund*innen, da der Umsatz mit den Einzelpersonen alleine nicht reiche. Wenn neben der PBZ noch mehr von ihnen wegfallen würden, könne es trotz guter aktueller Lage finanziell schnell eng werden.
Viele der kleinen städtischen Buchhandlungen verfügen über ein Spezialgebiet und hohe Expertise. Anders als ein Algorithmus vermögen Buchhändler*innen die Menschen im persönlichen Gespräch auf unvorhergesehene Pfade zu leiten, die ihnen die Suchmaschinen nicht bieten können.
Jedes lieferbare Buch kann bei ihnen bestellt werden, manchmal muss man sich aber zwei Tage gedulden. Damit stehen sie im Schatten grosser Läden wie zum Beispiel der Orell Füssli Thalia AG, die aufgrund ihrer Grösse mehr Bücher an Lager und damit potenziell weniger Wartezeit haben.
Das Spezialgebiet der Paranoia City ist der Feminismus. „Unsere Ladenübernahme fiel zufälligerweise ins Jahr des grossen feministischen Streiks, das war für uns ein günstiger Zeitpunkt“, erzählt Melina Korros. Aber natürlich würden auch sie die branchenüblichen Schwierigkeiten spüren.
Eine landesweite Umfrage des Schweizer Buchhandels- und Verlagsverbands (SBVV) vom vergangenen September ergibt: Die unabhängigen Buchhandlungen haben unter anderem mit abnehmender Leser*innenanzahl, dem Sparkurs institutioneller Kund*innen und steigenden Kosten wie beispielsweise der Miete zu kämpfen.
Mehr als die Hälfte der befragten unabhängigen Buchhändler*innen belastet die Frage nach der Zukunft. Insgesamt hat die Anzahl der Buchläden in Zürich über die Jahre abgenommen, die genaue Zahl lässt sich schwer ermitteln. Was der SBVV auch festhält: Der verbleibende unabhängige Buchhandel war bislang relativ stabil.
Die PBZ verweigert Gespräche
Auf die verschiedenen Anfragen vom Petitionsteam reagierte niemand aus dem Vorstand. Bis endlich, Anfang Oktober letzten Jahres, eine Mail des Direktors eintrudelte: Er lehnte ein Treffen mit den langjährigen Partner*innen ab. Begründet wurde dies mit dem Submissionsrecht, das vorgebe, keine Anbietenden durch einen Wissensvorsprung bevorzugen zu dürfen.
Im November schliesslich veranstaltete die PBZ eine Infoveranstaltung zum Ausschreibeverfahren. Die nun protestierenden Buchhändler*innen wurden vor vollendete Tatsachen gestellt und waren entsprechend enttäuscht. Viele von ihnen entschieden sich anschliessend gegen eine Bewerbung.
Weil sie nun alle PBZ-Filialen mit Büchern einer bestimmten Kategorie versorgen sollten, anstatt wie früher nur einzelne Filialen zu beliefern, sei der Arbeitsaufwand zu gross. Und da die Kategorien mit beispielsweise „Belletristik Erwachsene“ oder „Sachmedien Kinder und Jugendliche“ sehr breit gefasst sind, stimmen sie mit den Spezialisierungen und der Expertise der Buchläden oft nicht überein. Zusätzlich sollten die Bücher von den Buchhandlungen neuerdings eigenhändig in Folie eingebunden werden.
Der Verlust der PBZ als Grosskundin ist für viele bedrohlich. Mit ihrer Petition rufen die Unterzeichnenden die PBZ dazu auf, „die geplante Neuausrichtung zu überdenken“. Weiter fordern sie vom Stadt- und Gemeinderat, eine Regel zu schaffen, die den öffentlichen Bibliotheken einen Mindestanteil ihrer Bestellungen im lokalen und unabhängigen Buchhandel vorschreibt.
Die Orell Füssli Thalia AG ging als grosse Siegerin aus der Ausschreibung hervor. Sie erhielt neun der vierzehn thematischen Kategorien. Zwei kleine städtische Buchhandlungen bekamen ebenfalls Zusagen, da ihre Spezialisierungen mit den jeweiligen Kategorien Hand in Hand gehen und der Aufwand für sie bewältigbar ist: Der Kinderbuchladen im Oberdorf erhielt „Bilderbuch“ und „Kinderhörmedien“, der Travel Book Shop „Reisen Erwachsene“.
Was man über die Vergabe wissen muss: Die Kriterien Preis und „Vorgehenskonzept“ – dazu zählte beispielsweise, wie die Anbietenden sich über aktuelle Neuerscheinungen und lokale Lesungen informieren würden – machten bei der Bewertung der Bewerbungen rund 75 Prozent aus.
Orell Füssli Thalia AG konnte also – als Branchenriese wenig überraschend – mit dem günstigsten Angebot überzeugen. Die Firma hat ihren Sitz zwar in Zürich, liegt gemäss Aktienanteilen aber zu rund drei Vierteln in deutschen Händen. Das heisst, die Zürcher Steuergelder fliessen künftig mehrheitlich in den deutschen Büchermarkt ab.
Buchhandlungen unter Druck
Ruth Schildknecht arbeitet in der Buchhandlung Nievergelt in Oerlikon. Ihr geräumiges Lokal hat ein breites Angebot, darunter Jugendliteratur, Belletristik und Reisen. Der Nievergelt habe die PBZ-Filiale in Oerlikon schon immer beliefert, sagt Schildknecht.
Den Laden trifft der Wegfall der PBZ-Bestellungen besonders hart: Er bedeutet Umsatzeinbussen bis achtzehn Prozent. Sie müssen eine Stelle abbauen, sagt Schildknecht. Für die verbleibenden Buchhändler*innen bedeutet das weniger Zeit, um ihre Kund*innen zu beraten oder Verlagsvertreter*innen im Laden zu empfangen.
Buchhandlungen seien Begegnungsorte und Anlaufstellen, erzählt Schildknecht und ergänzt: „Wir machen diese Arbeit gerne.“ Aber: „Wir können nicht davon leben.“
Das Mindestgehalt einer buchhändlerisch ausgebildeten Person in der Deutschschweiz beträgt im ersten Jahr nach der Lehre bei voller Beschäftigung 4’275 Franken im Monat. Schildknecht ist die einzige der im Text erwähnten Buchhändler*innen, die Vollzeit arbeitet. Das deckt sich mit dem gesamtschweizerischen Bild, das der SBVV erhoben hat: Die meisten arbeiten Teilzeit.
So auch Charlotte Nager. Zusammen mit Andrea Peterhans betreibt sie den „mille et deux feuilles“, einen kleinen Buchladen an der Glasmalerstrasse mit Fokus auf die Länder rund ums Mittelmeer, gemütlich wie ein Wohnzimmer mit grossem Schaufenster. Beide müssen noch woanders arbeiten, um sich ihr Leben finanzieren zu können. „Noch sind wir bereit dazu“, sagt sie nachdenklich.
Seit der Pandemie und verstärkt durch die gegenwärtigen Kriege sei ein Knick in der Neugierde der Menschen passiert: „Die Leute lassen sich weniger spontan leiten“, beobachtet sie. Die Kund*innen kämen fast nur noch mit einem fixen Titel im Kopf in den Laden, von dem sie in der Zeitung gelesen oder im Radio gehört hätten. Sie liessen sich kaum mehr von einer kompetenten Buchhändlerin beraten oder durch die aktuelle Auslage inspirieren.
Zusätzlich erschwerend für das Geschäft seien die vergleichsweise hohen Buchpreise in der Schweiz, sagt Nager. Sie nimmt ein Buch in die Hand und dreht es um: Auf der Rückseite jedes Buches ist der durch die deutsche Preisbindung vorgeschriebene Europreis aufgedruckt. Der Preis in Schweizer Franken ist momentan aufgrund der schweizerischen Lebenshaltungskosten sehr viel höher: „Obwohl wir ein verständnisvolles Publikum haben, fragen sie seit diesem Jahr immer wieder, warum die Preise so hoch seien.“
1999 schaffte die Schweizer Wettbewerbskommission die Buchpreisbindung – also die Vorgabe eines festen Verkaufspreises pro Buch – ab. So kann jeder Schweizer Buchladen theoretisch selbst über die Preise seiner Bücher entscheiden. Die unabhängigen Buchhandlungen verkauften die Bücher aber alle mehr oder weniger zum selben Preis, sagt Nager. Anders die Orell Füssli Thalia AG: „Diese verkauft die Bücher im Schnitt zwei bis drei Franken teurer als die kleinen Buchhandlungen und kauft in grossen Mengen ein.“ Die grossen Buchhandlungen haben also eine deutlich höhere Marge.
Die Stadt bleibt stumm
In Bezug auf die städtischen Vorstandsmitglieder der PBZ sagt Nager: „Die Stadt muss endlich Stellung beziehen.“ Im Kulturleitbild der Stadt Zürich sind die unabhängigen Buchhandlungen explizit erwähnt: „Zürich ist ein Zentrum der Literatur. […] Unabhängige Buchhandlungen […] bereichern das literarische Stadtleben.“ Aber diese Worte reichen nicht: Die Buchhändler*innen wünschen sich von der Politik handfeste Wertschätzung. Beispielsweise, indem sie ihnen geeignete und kostengünstige Mietobjekte bereitstellt oder sie mit finanziellen Beiträgen im alltäglichen Geschäft unterstützt.
Keine*r der städtischen Vertreter*innen im PBZ-Vorstand waren bereit, Fragen von das Lamm zu beantworten. Grund dafür sei die Petition, die ein laufendes politisches Geschäft darstellt. So bleibt unklar, welche Rolle die Stadt bei der Ausschreibung spielte. Im Gemeinderat hat sich eine Gruppe aus GLP, SP und den Grünen dem Anliegen der Buchhändler*innen angenommen.
Einen Tag vor Übergabe der Petition wird sie voraussichtlich ein Postulat zum Thema einreichen.
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