Der Eurovision Song Contest (ESC) 2024 versprach bereits im Vorfeld, chaotisch zu werden. So gab es etwa rund um die Teilnahme Israels bereits seit Monaten Kontroversen. Eine erste Version des israelischen Beitrags wurde aufgrund von Propagandaelementen abgewiesen, es gab Boykottaufrufe, die Niederlande reichten in den Tagen vor dem Finale Beschwerden ein und wurden schliesslich disqualifiziert, mehrere Teilnehmende unterschrieben offene Briefe und trafen sich zu Krisentreffen.
Und das alles geschah unter der Leitung der European Broadcasting Union (EBU), die sich mit voller Überzeugung als "non-political media organisation" bezeichnet.
Als wäre das nicht genug, waren die Favorit*innen ein Typ namens Baby Lasagna mit einem Song über Emigration, Bambie Thug mit einer okkulten Hyperpop-Performance und Nemo mit der nonbinären Coming-out-Hymne "The Code". Endlich gab es mal wieder einen interessanten Beitrag aus der Schweiz. Nach all den Sad Boys, die das SRF in den vergangenen Jahren langweilige Balladen singen liess, war dies eine willkommene Abwechslung.
Hass mit Struktur
Dieses Jahr war für alle was dabei, auch für die fundamentalistischen Christ*innen: Bambie Thug krönte Nemo im Moment des Sieges mit einer Dornenkrone und schuf damit den vielleicht ikonischsten Moment des diesjährigen ESCs, der nicht nur symbolisch aufgeladen, sondern an erster Stelle eine berührende Geste von Freund*innenschaft und queerer Solidarität war. Nemo behielt die Krone während der Preisverleihung und der Siegesperformance an.
Für die fundamentalistischen Christ*innen war diese Krönung natürlich gar nicht cool. So liess sich Hallelujah-Kolumnist Sam Urech bei Nau zu einem äusserst besorgten Kommentar hinreissen und fragte sich, ob sich Nemo als Messias für nonbinäre Personen sieht.
Die Kolumne versammelt über 1'700 Kommentare unter sich, die meisten davon Hasskommentare. Überraschenderweise richtet sich die Mehrzahl davon gegen den Hallelujah-Dude selbst, der nach Meinung der Verfassenden entweder abgeschoben oder eingewiesen gehört.
Bei anderen Medien wie zum Beispiel dem SRF waren die Kommentare hingegen oft offen queerfeindlich gegen Nemo gerichtet. Dies fiel auch SRF3-Moderatorin Judith Wernli auf, die drei Tage nach dem ESC-Finale mit einer bewegten Rede auf Instagram viral ging. Darin fragte Wernli: "Woher kommt der Hass? Wegen eines Liedes!", und erklärte den Zuhörer*innen, dass Beleidigungen doof sind.
Wernli hätte ihre Ansage genau so nach einem Streit im Kindergarten halten können – vielleicht abgesehen von jenen Stellen, die an das nationalistische Selbstverständnis appellierten: "Das [die Hasskommentare] hat unser Land nicht verdient. Wir sind eine kleine Nation, die sich gegen die Grossen durchsetzt." Auch Nemo selbst habe die Angriffe nicht verdient, da Nemo so eine gute Performance hingelegt habe und doch total lieb sei, sagte die SRF-Moderatorin.
Damit abstrahiert Wernli den Hass gegen Nemo komplett von seinem strukturellen Kern. Die Angriffe haben natürlich nichts mit Erfolg zu tun, sie gehören zum Alltag aller queeren Menschen. Niemand sollte den grössten Musikwettbewerb der Welt gewinnen müssen, um Schutz vor Diskriminierung und Gewalt zu erhalten. Diese zunehmende Gefahr entspringt nicht zuletzt auch der Haltung, mit welcher das SRF agiert.
Pronomenmangel beim SRF
Dass das Ansprechen von Missständen beim SRF ohne jegliche Vermittlung diskriminierender Strukturen und Systeme auskommen muss, ist nämlich kein Zufall. Auch das SRF bedient regelmässig transfeindliche Narrative und gibt fundamentalistischen Stimmen unwidersprochen eine Plattform.
Letztes Jahr hat das SRF die Benutzung von genderneutralem Sprachgebrauch wie etwa dem Genderstern unterbunden und in einer Stellungnahme von "Gendersprache" gesprochen. Allein diese Formulierung spricht Bände. Die deutsche Sprache ist an sich bereits komplett binär durchgegendert.
Konservative und faschistische Kräfte setzen zwecks Dämonisierung schon länger wahllos "Gender" vor irgendwelche Wörter. Eine Praxis, die ihren Ursprung im Vatikan hat, wie Judith Butler in their neustem Buch "Who’s afraid of gender" aufzeigt. In dieser Tradition bewegt sich auch das SRF, wenn von "Gendersprache" gesprochen und genderneutraler Sprachgebrauch unterbunden wird.
Statt mit der Einführung des Gendersterns einen Schritt nach vorne zu machen, wurde also ein Schritt zurückgemacht. Das führt nun absurderweise dazu, dass es dem SRF an Formulierungen für die Person mangelt, die es selbst nach Malmö geschickt hat.
Über den ganzen ESC hinweg mussten Journalist*innen deshalb mit eingeschränkten sprachlichen Möglichkeiten operieren und hundert Mal "das Gesangstalent" schreiben. Abgesehen davon, wurde Nemo auch immer mal wieder fälschlicherweise männlich gegendert.
Offensichtlich war Nemos Genderidentität nicht vorgesehen und hat den binären Code auf medialer Ebene ganz schön durcheinandergebracht.
Aber auch auf der politischen Ebene rüttelte Nemos Sieg ordentlich am Status quo. Hat doch der Bundesrat gerade erst vor zwei Jahren einen dritten Geschlechtseintrag abgelehnt und nonbinären Personen einmal mehr die Existenz abgesprochen. Durch die enorme Sichtbarkeit, die Nemo in den vergangenen Wochen generierte, sowie Nemos öffentliche Unterstützung der politischen Forderung nach Anerkennung nonbinärer Genderidentitäten lassen sich diese Forderungen nun jedenfalls etwas weniger leicht ignorieren.
Menschenverachtung als valide Meinung
Diese Entwicklungen hängen unmittelbar mit der anti-queeren Agenda verschiedener Akteur*innen zusammen, zu denen auch die SVP gehört. Diese greift im Moment wieder verstärkt die Finanzierung des SRF an, etwa mit der Volksinitiative "200 Franken sind genug!", worauf man beim SRF anscheinend nur damit zu reagieren weiss, dass man der SVP ideell entgegenkommt.
Als ob sich das rechte Lager jemals irgendwie besänftigen liesse. Rechte werden keine Ruhe gegeben, bevor überall im Land nur noch Blocher TV und Weltwoche-Podcasts laufen. Faschist*innen die Hand zu reichen, hat jedenfalls noch nie mehr Demokratie oder soziale Gerechtigkeit gebracht.
In der Schweiz gilt Menschenverachtung schon lange als valide "Meinung" und man will der SVP scheinbar wirklich lieber nicht auf die Füsse treten.
Abgesehen davon, ist die Ecke der SVP natürlich längst nicht die einzige, in welcher eine anti-trans Agenda verfolgt wird. Auch Personen, die sich selbst als liberal oder feministisch bezeichnen würden, fahren seit einigen Jahren einen transfeindlichen Kurs: Michèle Binswanger beispielsweise unermüdlich beim Tagesanzeiger oder die Schriftstellerin Regula Stämpfli auf ihren privaten Kanälen und sporadisch auch bei der Weltwoche.
Dass sich diese Genderkrise in einer Rede kumuliert, wie sie jüngst viral ging, ist also keine Überraschung. Wernli mag ihre Rede auch völlig absichtlich so banal und naiv gehalten haben, in einem Versuch, den Kulturkampf irgendwie auszutricksen. Aber minimal die Grundlagen systematischer Diskriminierung und Gewalt hätte man hier ausnahmsweise aufzeigen können.
Zur Feier des Tages, weil: Wir haben den ESC gewonnen und dieses wir ist halt nun einmal genderqueer.
Dieser Beitrag erschien zuvor in etwas anderer Form auf Jessica Jurassicas Substack.
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