Der Tag wird kommen

Serena Awad wurde aus ihrem Zuhause vertrieben und ist seither in Gaza auf der Flucht. Kurz­zeitig musste sie im selben Lager verweilen, in dem bereits ihr Gross­vater 1948 Zuflucht fand. In diesem persön­li­chen Beitrag berichtet sie über ihren Alltag im Krieg – und die Hoff­nung auf sein Ende. 
Die Nachbarschaft, in der Serena Awad vor der israelischen Invasion gelebt hat. (Bild: Serena Awad)

Inhalts­war­nung: Dieser Beitrag enthält Schil­de­rungen von Vertrei­bung, Hunger, Krank­heit, Gewalt und Tod.

Neunmal bin ich seit letztem Oktober vertrieben worden. Ich bin Serena Awad, eine Palä­sti­nen­serin aus dem Norden Gazas, und lebe nun im südli­chen Al Nuss­irat Camp. Früher habe ich mich als Geflüch­tete iden­ti­fi­ziert, weil meine Gross­el­tern aus ihrer Heimat­stadt flüchten mussten – aber heute reicht dieser Begriff nicht mehr. Ich bin sowohl Geflüch­tete als auch Vertrie­bene. Mit meinem Ruck­sack bin ich von einem Ort zum näch­sten gelaufen, immer auf der Flucht vor den anhal­tenden Inva­sionen und dem stän­digen Panzer­be­schuss Israels.

Es soll hier nicht um Stati­stiken, Zahlen oder Fakten gehen, die überall im Fern­sehen und im Internet zu finden sind. Ich werde über mich selbst spre­chen, über mein tägli­ches Leben, meine Arbeit und darüber, wie das Leben für mich in den letzten zehn, bald elf Monaten verlaufen ist.

Serena Awad hat in ihrem Leben bereits etliche mili­tä­ri­sche Angriffe über­lebt und berichtet nun über die Geschichten der Palästinenser*innen. (Bild: zVg)

Unsere Geschichte, unsere Rechte, unsere Existenz und unser Wider­stand sind nicht kompli­ziert. Im Gegen­teil: Es ist der wohl einfachste Konflikt – auch wenn ich das Wort „Konflikt” nur ungern verwende, weil es sugge­riert, dass Palä­stina und Israel glei­cher­massen verant­wort­lich sind. Aber das stimmt nicht. Es handelt sich um eine brutale mili­tä­ri­sche Besat­zung, Sied­ler­ko­lo­nia­lismus, ethni­sche Säube­rung, eine Blockade und ein Apart­heid­re­gime, das aus der Besat­zung Palä­stinas durch Israel hervorging.

Es begann vor 76 Jahren

Ich habe bereits vor dem 7. Oktober sechs Angriffe über­lebt: Den ersten im Dezember 2008 als ich erst neun Jahre alt war, den zweiten im November 2012 und die rest­li­chen vier im Juli 2014, Mai 2019, Mai 2021 und Mai 2023. Mein Leben war schon vor dem letzten Oktober eine Abfolge unun­ter­bro­chener Massaker. Ich kann also nicht sagen, dass seither etwas Neues begonnen hat, aber was wir jetzt durch­leben, über­steigt jede Vorstel­lungs­kraft und jedes mensch­liche Verständnis.

All das begann vor 76 Jahren mit der Al Nakba, als das israe­li­sche Militär über 75 Prozent der palä­sti­nen­si­schen Bevöl­ke­rung gewaltsam aus ihren Häusern und von ihrem Land vertrieb. Auch meine Gross­el­tern wurden gezwungen, ihre Stadt Al Lodd zu verlassen – meine Heimat­stadt, die ich selbst nie besu­chen durfte. Sie mussten alles zurück­lassen, ihr ganzes Hab und Gut, um am Ende in Gaza zu landen.

Nakba, was auf Arabisch „Kata­strophe” bedeutet, bezieht sich auf die Flucht und Vertrei­bung von etwa 750’000 Palästinenser*innen durch jüdi­sche para­mi­li­tä­ri­sche Gruppen und später das israe­li­sche Militär zwischen 1947 und 1949 im Kontext der Staats­grün­dung Israels. Diese Ereig­nisse führten zur Enteig­nung von Land, zur syste­ma­ti­schen Zerstö­rung von über 400 Dörfern und zu einem anhal­tenden Rück­kehr­verbot für die vertrie­benen Palästinenser*innen. 

Als Kind lauschte ich den Geschichten meiner Gross­el­tern. Dabei versuchte ich stets zu verstehen, wie sie sich fühlten, als sie alles zurück­liessen. Wie sie nie darüber hinweg­kamen. Wie viele Menschen aus Trauer über ihre Sehn­sucht nach der Heimat starben. Ich habe meine Gross­el­tern sterben sehen, während sie von ihren Häusern und dem Tag träumten, an dem sie zurück­kehren könnten. Doch dieser Tag kam nie.

Einer der Orte, an die ich im letzten Jahr evaku­iert wurde und um mein Leben fliehen musste, als ich von Norden nach Süden zog, war das Flücht­lings­lager Al Bureij. In eben­diesem Lager suchte auch mein Gross­vater um 1948 Zuflucht. Seine Heimat­stadt Al Lodd, aus der er unter Beschuss fliehen musste, ist bis heute von israe­li­schen Siedler*innen besetzt. 76 Jahre später erlebe ich Al Nakba erneut, durch­lebe dieselben Gräu­el­taten wie meine Grosseltern.

Nur in meinem Schlaf­anzug und mit meinem Ruck­sack verliess ich mein Zuhause.

Nie hätte ich es für möglich gehalten, dass ich die Geschichten meiner Gross­el­tern selbst erleben würde – bis zum 11. Oktober. An diesem Tag musste auch ich mein Haus verlassen, veräng­stigt, weinend und mit der Frage beschäf­tigt, wohin ich gehen sollte.

Obwohl er nun 322 Tage zurück­liegt, erin­nere mich genau an diesen Tag. Nur in meinem Schlaf­anzug und mit meinem Ruck­sack verliess ich mein Zuhause. Wir hatten keine Zeit, unsere Sachen zu packen, während Bomben über unseren Köpfen fielen.

Wir alle dachten, dass wir bald zurück­kehren könnten. Also hatte ich nur meinen Laptop und ein Telefon dabei. Alles andere liess ich da: meine Klei­dung, die Bilder aus meiner Kind­heit, mein Leben, den Geruch meines Zimmers und sogar meine warme Lieb­lings­decke. Unser gesamtes Quar­tier wurde durch Tonnen an Bomben ausge­löscht. Unsere Nachbar*innen, die sich weigerten, ihre Häuser zu verlassen, liegen jetzt unter den Trüm­mern. Mein Haus steht noch. Es wurde nicht dem Erdboden gleich­ge­macht – bis jetzt. Aber es hat keine Fenster, keine Türen, keine Wände, und die Bombe, die es ruiniert hat, liegt noch darin.

Ganz ehrlich: Ich habe so viel geweint. Tage­lang habe ich geweint und versucht zu begreifen, wie mir jemand mein Zuhause wegnehmen konnte.

Wir haben alles verloren

2.3 Millionen Menschen in Gaza haben minde­stens eine Sache verloren – sei es ein Fami­li­en­mit­glied, ein*e Freund*in, ein Körper­teil, ihr Haus, ihren Arbeits­platz, alle Erspar­nisse oder ihr Land. 

Meine Familie hat zwei Wohnungen verloren, mein Vater seinen Job, und meine Schwe­ster, die im November letzten Jahres heiraten wollte, ihr neues Haus. Zusammen mit ihrem Verlobten musste sie nach Ägypten evaku­iert werden. Ihre Hoch­zeits­pläne und das Hoch­zeits­kleid liessen sie zurück.

Während ich 20 Fami­li­en­mit­glieder verloren habe, haben andere mehr als 50 verloren.

Ich habe 20 Fami­li­en­mit­glieder verloren. Darunter mein Cousin Mohammed, Bisan, die Frau meines anderen Cousins und ihr Baby Basel. Auch Tamer, meinen besten Freund aus Kinder­tagen, habe ich verloren; die Armee hat ihn vor den Augen seiner Mutter erschossen. Drei Freund*innen von mir sind Geiseln. Ich weiss nicht, ob sie noch am Leben sind. Sie heissen Adel, Haitham und Nedal.

Mein Verlust ist – bedau­er­li­cher­weise – nichts im Vergleich zu den Tausenden von Menschen in Gaza, die noch mehr verloren haben. Während ich 20 Fami­li­en­mit­glieder verloren habe, haben andere mehr als 50 verloren, darunter ihre engsten Verwandten. Ich habe mein Zuhause verloren, während andere unter den Trüm­mern ihres Hauses begraben wurden.

Ich habe aufgrund des Mangels an Lebens­mit­teln und sauberem Wasser 14 Kilo abge­nommen. An manchen Tagen bekamen wir im Lager nur eine Mahl­zeit. Auch jetzt ist die Ernäh­rungs­lage nicht wirk­lich besser – aber zumin­dest können wir Früchte essen, was wir seit Monaten nicht konnten. 

Es ist extrem schwierig, an Trink­wasser zu kommen. Es gibt gefil­tertes Wasser in Flaschen zu kaufen, aber das ist teuer, und nicht alle können es sich leisten. Viele Menschen sind auf die Hilfe von Wasser­trans­por­tern ange­wiesen. Das heisst, sie müssen für ein paar Liter Wasser stun­den­lang in der Hitze anstehen. Ein paar Liter Wasser, das reicht kaum aus.

Auch andere Dinge sind für uns fast uner­reichbar: Sham­poos, Hand­seifen und alle Hygie­nemittel sind vom Markt verschwunden. Also muss ich meine Haare mit Geschirr­spül­mittel waschen.

Im Norden des Gaza­strei­fens ist die Situa­tion noch schlimmer. Meine dort­ge­blie­benen Freund*innen und Fami­li­en­an­ge­hö­rigen verhun­gern, während ich diese Zeilen schreibe.

Selbst in meinen schlimm­sten Albträumen hätte ich mir nie vorstellen können, dass mir ein*e gleichaltrige*r Soldat*in alles nehmen könnte, was ich je hatte.

Wir ersticken hier gerade in der Verschmut­zung. Es ist unvor­stellbar. Die Menschen in den Zelten, Notun­ter­künften und sogar in den noch nicht bombar­dierten Häusern haben mit schweren Krank­heiten zu kämpfen. Der Krieg verur­sacht schlechte Hygie­ne­be­din­gungen, Trink­was­ser­mangel und ein nicht funk­tio­nie­rendes Abfall­sy­stem – und dazu die Hitze. Die Krank­heiten breiten sich rasant aus und fressen uns lebend.

Vor kurzem wurde ich sehr krank. Im Kran­ken­haus wurde mir Hepa­titis A diagno­sti­ziert. Fast die Hälfte der Bevöl­ke­rung in Gaza leidet unter dem Virus, was unter diesen Umständen leider normal ist. Denn Hepa­titis A wird auch über konta­mi­niertes Wasser oder Lebens­mittel über­tragen. Ich hatte unsäg­liche Schmerzen, aber das war nichts im Vergleich zu den verletzten Menschen, die in einem kaum funk­tio­nie­renden Kran­ken­haus um ihr Leben kämpfen müssen. Viele werden am Boden behan­delt, weil es nicht genü­gend Betten, Hygie­ne­ar­tikel oder saubere Laken gibt. 

Was gibt mir Hoffnung? 

Die Tage vergehen und ich verwende meine ganze Energie, um dem Tod, den Bomben und den Drohnen zu entkommen. Es ist der Gedanke an den Tag, an dem all das vorbei sein wird und wir endlich wieder atmen können, der mich durch diese Zeit bringt. Der Tag, an dem die Armee mir erlauben wird, in mein Zuhause zurückzukehren. 

Die meisten Soldat*innen der israe­li­schen Armee sind in ihren Zwan­zi­gern oder Dreis­si­gern – einige davon mit doppelter Staats­bür­ger­schaft. Selbst in meinen schlimm­sten Albträumen hätte ich mir nie vorstellen können, dass mir ein*e gleichaltrige*r Soldat*in alles nehmen könnte, was ich je hatte.

Der Tag wird kommen – und ich habe keine Angst davor, dass ich ihn mögli­cher­weise nicht mehr erleben werde. Alles, was ich weiss, ist, dass wir letzt­lich Ruhe und Frieden finden werden.

Dieser Text wurde von Mara Haas aus dem Engli­schen über­setzt. Demnächst erscheint ein zweiter Artikel von Serena Awad über ihre Arbeit vor Ort. Seit Beginn des Geno­zids in Palä­stina arbeitet unsere Autorin mit dem American Friends Service Committee in Gaza. Sie verteilt Hilfs­mittel und berichtet über die Geschichten der Palästinenser*innen.

Korri­gendum: Die Autorin sprach ursprüng­lich von vielen Soldat*innen mit einer doppelten Staats­bür­ger­schaft. Die Redak­tion hat dies auf “einige” korri­giert; laut Schät­zungen besitzen 10 bis 15 Prozent der Israelis eine doppelte Staatsbürgerschaft.


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