Schweizer Medien: Eine Branche zerfällt

Kürz­lich kündigte Tamedia den Abbau von fast 300 weiteren Stellen an – ein harter Schlag für die ohnehin kriselnde Schweizer Medi­en­land­schaft. Bereits vor einem Jahr warnte Matthias Zehnder, dass dieser Abbau unnötig sei und rein profit­ge­trie­benen Inter­essen folge. 
Die TX Group versteht Journalismus als rein kommerzielles Geschäft. (Bild: Claudio Schwarz / Unsplash)

Ende August kündigte der Schweizer Medi­en­kon­zern Tamedia eine drasti­sche Mass­nahme an: Knapp 300 Arbeits­plätze werden gestrichen. 

Tamedia schliesst die beiden Drucke­reien in Waadt und in Zürich, damit verlieren 200 Voll­zeit­be­schäf­tigte ihre Stelle – und weitere 90 Stellen werden in den Redak­tionen gestri­chen. Damit kündigt der Medi­en­kon­zern etwa 20 Prozent der 1’800 Tamedia-Ange­stellten schweiz­weit. Tamedia begründet den Stel­len­abbau mit rück­läu­figen Werbe­ein­nahmen und dem Rück­gang der Printmedien.

In den letzten zehn Jahren ist die Anzahl Journalist*innen in der Schweiz um 25 Prozent geschrumpft.

Diese Abbau­po­litik wird stark kriti­siert: Etwa die Gewerk­schaft Synd­icom und „Impressum“, der Berufs­ver­band von Medi­en­schaf­fenden der Schweiz, empörten sich laut­stark über die ange­kün­digten Massen­ent­las­sungen. SRF beti­telt diese Abbau­po­litik als „sympto­ma­tisch für die Branche“. In den letzten zehn Jahren sei die Anzahl Journalist*innen um 25 Prozent auf rund 10’000 Menschen geschrumpft. 

Es ist bei weitem nicht der erste Stel­len­abbau – so hatte der Verlag etwa im Herbst 2023 mit knapp 50 Entlas­sungen 6 Millionen Franken einge­spart –, aber es ist der grösste seit Tamedia 2019 Teil der Holding­struktur der TX-Group wurde. 

Nach­richten über Stel­len­abbau in den Medien sind mitt­ler­weile so selbst­ver­ständ­lich wie Stau­mel­dungen oder Warnungen vor Stark­regen. Und wie bei den Stau­mel­dungen besteht die Gefahr, dass man gar nicht mehr richtig hinhört. Man regi­striert nur noch Text­brocken: Tamedia muss sparen. Print rentiert nicht mehr. Digi­tal­markt wächst nicht schnell genug. Das alles haben wir schon so oft gehört, dass wir die Nach­richt schon abhaken, bevor sie zu Ende ist. 

Aber wie war das noch mal? Schauen wir uns die Sache genauer an.

Die Erosion im Printmarkt

Die Verant­wort­li­chen von Tamedia begründen den Stel­len­abbau in der ganzen Schweiz mit der Erosion im Print­markt, also damit, dass Umsatz und Ertrag der gedruckten Zeitungen schrumpfen. Gegen­über dem West­schweizer Fern­sehen RTS sagte Andreas Schaffner, Geschäfts­leiter Bezahl­me­dien bei Tamedia, es sei fast unmög­lich, jemandem unter 30 Jahren ein Prin­tabon­ne­ment zu verkaufen. Diese Erosion werde sich fort­setzen. Um ein Prin­tabo zu kompen­sieren, brauche es zwei digi­tale Abos. Das sei eine Herkulesaufgabe.

„Wir werden es nicht schaffen, diesen Umsatz­ver­lust zu kompen­sieren. Wenn wir nicht reagieren, werden sich unsere Ergeb­nisse noch weiter verschlech­tern“, sagte er. Das klingt vernünftig: Tamedia muss Kosten einsparen, weil die Digi­ta­lerlöse nicht schnell genug wachsen, um die sinkenden Erträge aus dem Print­ge­schäft zu kompensieren.

So, wie Tamedia heute rechnet, hätten gedruckte Zeitungen nie rentiert.

Bloss: So, wie Tamedia heute rechnet, hätten gedruckte Zeitungen nie rentiert. Gedruckte Zeitungen waren immer ein Bündel von Geschäften. Eine gedruckte Zeitung hatte drei grosse Einnah­me­quellen: Abonnent*innen, Werbung und Rubri­ken­an­zeigen. Über den Daumen gepeilt, verteilten sich die Erträge etwa gleich­mässig über die drei Einnah­me­quellen: 30 Prozent der Erträge stammten aus dem Nutzer*innenmarkt, also von den Abonnent*innen, 70 Prozent aus dem Werbe­markt, der sich je zur Hälfte aus Werbe­an­zeigen und Rubri­ken­an­zeigen zusammensetzte.

Wo sind die Umsätze hin?

Die Digi­ta­li­sie­rung hat dieses Geschäft verän­dert. Inner­halb weniger Jahre sind die Rubri­ken­an­zeigen ins Internet abge­wan­dert: Wohnungen, Stellen und Autos werden heute nicht mehr über Anzeigen verkauft, sondern über grosse digi­tale Marktplätze.

Etwas lang­samer wandert auch die klas­si­sche Werbung ab ins Netz: Grosse Werbe­kam­pa­gnen werden heute zumin­dest auch digital geschaltet. Das bedeutet: Die klas­si­schen Medi­en­häuser haben von diesem 70-Prozent-Kuchen aus dem Werbe­markt einen grossen Teil der Einnahmen an die digi­tale Welt verloren.

Da stellt sich natür­lich die Frage, an wen diese Medi­en­häuser ihre Umsätze verloren haben. Drei Unter­nehmen sind die grossen Gewinner in der Schweiz. 

Die Firma TX Group Schweizer Medien oder dem Gemein­wohl verpflichtet ist, sondern ihren Aktionären.

Beginnen wir mit den digi­talen Markt­plätzen: Die grössten Immo­bi­li­en­markt­plätze sind Home­gate, ImmoScout24 und Immo­Street. Bei den Autos sind es CarFo­rYou und AutoScout24 und bei den digi­talen Floh­märkten Tutti.ch und Ricardo. Alle diese Markt­plätze gehören demselben Unter­nehmen: der SMG Swiss Market­place Group. Sie können sich vorstellen, wie viel Geld diese Firma in der Schweiz verdient.

Bloss Stellen vermarktet diese Firma nicht. Jobs.ch, die wich­tigste Stel­len­platt­form der Schweiz, gehört der Firma JobCloud. Das ist das führende digi­tale Unter­nehmen im Schweizer Rekrutierungsmarkt. 

Und wohin ist die Werbung abge­wan­dert? Die grösste Werbe­ver­mark­terin der Schweiz ist die Gold­bach Gruppe: Die Firma Gold­bach Group AG vermarktet und vermit­telt Werbung in TV, Radio, Print, Online, Mobile und auf Plakaten. Im digi­talen Bereich ist Gold­bach die mit Abstand wich­tigste Vermark­terin in der Schweiz.

Die Mutter und ihre Töchter

Die SMG Swiss Market­place Group, die JobCloud AG und die Gold­bach Group AG sind also die drei grossen Gewin­ne­rinnen der Digi­ta­li­sie­rung im Schweizer Medi­en­markt. Sie machen jene Umsätze, die den Medien von Tamedia heute fehlen. 

Die SMG Swiss Market­place Group, die JobCloud AG und die Gold­bach Group AG gehören alle demselben Unter­nehmen. Es heisst TX Group AG. Diese Firma hat noch weitere Toch­ter­ge­sell­schaften. Eine dieser Töchter heisst Tamedia Publi­ka­tionen Deutsch­schweiz AG, eine andere heisst 20 Minuten. In diesen beiden Töch­tern sind die Bezahl­zei­tungen und die Gratis­zei­tungen der TX Group zusammengefasst.

Wenn Tamedia also bedauert, dass sich Print nicht mehr rechnet, dann vergiesst die Firma Kroko­dils­tränen: Das Unter­nehmen hat seine verschie­denen Firmen­schub­laden so orga­ni­siert, dass die klas­si­schen Medien dabei ganz schlecht aussehen. 

Die TX Group müsste ehrli­cher­weise sagen: Uns ist der Gewinn wich­tiger als Medieninhalte.

Etwas über­spitzt formu­liert, hat die TX Group die Profit­center, also die Firmen mit den stark wach­senden Digi­tal­um­sätzen, in die eine Schub­lade gesteckt, und die Cost­center, also die Firmen, die viel Geld für hoch­wer­tige Inhalte ausgeben, in eine andere Schub­lade. Es wäre auch eine ganz andere Konstruk­tion denkbar. Es gibt kein Natur­ge­setz, das die Firma dazu zwingt, sich in genau diese Kompar­ti­mente aufzu­teilen. Sie könnte, wie die klas­si­schen Medi­en­häuser das gemacht haben, mit den Digi­tal­um­sätzen auch weiterhin den Jour­na­lismus finanzieren.

Warum tut die TX Group das nicht? Die Antwort ist wohl: Weil die Firma nicht dem Jour­na­lismus, den Schweizer Medien oder dem Gemein­wohl verpflichtet ist, sondern ihren Aktio­nären. Würde die TX Group mit den Einnahmen aus den Markt­plätzen den Jour­na­lismus quer­sub­ven­tio­nieren, wie es die klas­si­schen Verlage jahr­zehn­te­lang gemacht haben, würde sie weniger Gewinn machen. 

Verstehen Sie mich richtig: Das ist nicht verboten. So funk­tio­niert das mit diesem Kapi­ta­lismus. Bloss lässt es die Mittei­lungen über den Stel­len­abbau in einem anderen Licht erscheinen. Statt den Stel­len­abbau mit der Erosion im Print­markt zu begründen, müsste die Firma ehrli­cher­weise sagen: Uns ist der Gewinn, den wir mit digi­talen Markt­plätzen und der Werbe­ver­mitt­lung erzielen, wich­tiger als Medi­en­in­halte. Wir wollen uns deshalb Medien nicht länger leisten, wir verlangen auch von unseren Zeitungen eine Rendite, sonst stellen wir sie halt ein.

Die Stra­tegie im digi­talen Markt

Noch ein zweiter Punkt gibt mir zu denken: die Stra­tegie im digi­talen Markt. Laut „persoenlich.com“ sagte Mathias Müller von Blumen­cron, der bei Tamedia verant­wort­lich ist für Publi­zi­stik und Produkte: Die Redak­tionen müssten sehr sorg­fältig über­legen, was der Kern des Auftrags sei. Artikel, von denen klar sei, dass sie nur sehr wenige Leute lesen werden, könne man weglassen. 

Das klingt harmlos, bedeutet aber, dass der Chef­stra­tege von Tamedia die Redak­ti­ons­lei­tung per Excel empfiehlt. Stoffe, die viele Klicks bringen, bleiben im Blatt, Stoffe, die nicht gut klicken, fliegen raus. Ich kann Ihnen aus Erfah­rung sofort sagen, wo der Abbau statt­finden wird: Die beiden am schlech­te­sten gele­senen Ressorts jeder Tages­zei­tung sind Wirt­schaft und Kultur. Und wenn Sie einen natio­nalen Mass­stab anlegen, ist es immer das Lokale.

Der Markt für Medien ist unter Druck.

Jetzt sagen Sie viel­leicht: Ist doch klar, dass sich ein Unter­nehmen nur auf das konzen­trieren will, was profi­tabel ist. Aber ist das auch sinnvoll? 

Nehmen wir einen Gross­ver­teiler wie Coop oder Migros. Schauen wir in eine grös­sere Filiale, in einen Super­markt. In einer solchen Filiale hat es umsatz­starke Produkte, die viel Gewinn bringen, und umsatz­schwache Produkte, die viel­leicht kaum oder gar nicht rentieren. Nach der Rechen­schie­ber­logik von Müller von Blumen­cron müsste ein Super­markt die umsatz­schwa­chen Produkte elimi­nieren und sich auf die umsatz­starken Produkte konzentrieren.

Genau so arbeiten Hard­dis­counter: Sie haben nur wenige, aber umsatz­starke Artikel im Programm und sortieren regel­mässig die schlech­te­sten Umsatz­träger aus.

Das kann ins Auge gehen

Bloss: Das kann ins Auge gehen. Die höch­sten Umsätze in einem Super­markt erzielen Grund­nah­rungs­mittel und Frisch­pro­dukte. Spezia­li­täten und Gourmet-Lebens­mittel erzielen viel tiefere Umsätze. Warum bieten Super­märkte trotzdem Spezia­li­täten an? 

Ohne Medien, keine Demokratie.


Weil sie Kund*innen in den Laden holen und für Diffe­ren­zie­rung sorgen. Verein­facht gesagt: Brot und Milch gibt es überall, aber diesen Schafs­käse aus dem Münstertal, den gibts nur in diesem Laden. Es kann deshalb stra­te­gisch sinn­voll sein, ein Sorti­ment solcher Spezia­li­täten im Laden anzu­bieten, auch wenn diese Artikel in der opera­tiven Umsatz­ta­belle weit unten stehen.

Damit haben wir auch die beiden wich­tigen Adjek­tive in diesem Zusam- menhang einge­führt: stra­te­gisch und operativ. Die Excel-Tabelle und die Rechen­schie­ber­logik, dass sind opera­tive Werk­zeuge. Sie helfen dabei, eine Aufgabe richtig zu erle­digen. Aber sie sagen nichts darüber aus, ob wir dabei die rich­tige Aufgabe erle­digt haben. Das ist eine stra­te­gi­sche Frage, die man nicht so einfach mit einer Excel-Tabelle beant­worten kann. 

Super­märkte und Zeitungen sind sich in diesem Punkt ähnlich: Dass der Umsatz mit Spezia­li­täten nicht gross ist, heisst nicht, dass die Spezia­li­täten unwichtig sind. Dass Wirt­schaft und Kultur wenig ange­klickt werden, heisst nicht, dass sie unwichtig sind. Noch deut­li­cher ist es beim Lokal­jour­na­lismus: Landes­weit gemessen schneiden lokal­jour­na­li­sti­sche Ange­bote schlecht ab. Vor Ort ist aber oft gerade der Lokal­jour­na­lismus der Grund, warum ein Titel aufge­rufen wird.

Stra­tegie und opera­tive Tat wider­spre­chen sich

Das führt uns zur digi­talen Stra­tegie zurück. Tamedia sagt, es gehe darum, digi­tales Wachstum zu erzielen. Das heisst, man will mehr Menschen davon über­zeugen, dass es sich lohnt, eine Tamedia-Zeitung digital zu abon­nieren. Tamedia will also im digi­talen Nutzer­markt wachsen. 

Wie lässt sich Wachstum erzielen? Durch Inve­sti­tion. Wo muss Tamedia inve­stieren, damit ein Wachstum in Nutzer­markt resul­tiert? Was ist der wesent­liche Trigger für die Nutzer? Der Inhalt, insbe­son­dere lokale Inhalte. Nutzer*innen sind heute sehr wohl bereit, im Internet für Inhalte zu bezahlen, wenn die Inhalte einzig­artig sind und begei­stern. Das setzt aber voraus, dass eine moti­vierte Crew von Journalist*innen am Start ist, die Inhalte lang­fri­stig entwickeln und aufbauen kann.

Es wird immer schwie­riger, allein mit Medien Geld zu verdienen.

Und was macht Tamedia? Die Firma kürzt die Kosten in genau diesem Bereich und sorgt damit für Unsi­cher­heit und Frust bei der Beleg­schaft. Das heisst: Stra­tegie und opera­tive Tat wider­spre­chen sich diametral.

Jetzt sagen Sie viel­leicht: Das geht uns nichts an, Tamedia ist ein Privat­un­ter­nehmen. Das ist richtig. Das Unter­nehmen kann tun und lassen, was es will.

Aber es gibt zwei Berüh­rungs­punkte mit der Schweizer Öffent­lich­keit. Der erste: Medien produ­zieren nicht irgend­welche Genuss­mittel, sondern jene Infor­ma­tionen, die eine Demo­kratie am Leben erhalten. Ohne Medien, keine Demo­kratie. Inso­fern ist es sehr rele­vant, welche Stra­tegie das grösste Verlags­haus der Schweiz für seine Medien ausgibt.

Die Medi­en­stra­tegie der Schweiz

Der zweite Berüh­rungs­punkt: In der Schweiz sind verschie­dene Gesetze und Initia­tiven hängig, die sich um die Frage drehen, welche Stra­tegie das Land in Sachen Medien wählen soll. 

Ich denke zum Beispiel an die Initia­tive zur Halbie­rung der Radio- und Fern­seh­ge­bühren. Diese Initia­tive stellt letzt­lich eine Grund­satz­frage: Wie wollen wir in der Schweiz Medien künftig finanzieren? 

Das Beispiel Tamedia zeigt: Es wird immer schwie­riger, allein mit Medien Geld zu verdienen. Der Markt für Medien ist unter Druck. Und zwar nicht, weil die SRG so gross wäre, sondern weil sich die Ertrags­mög­lich­keiten durch das Internet drama­tisch verän­dert haben.

Die Geschäfts­zahlen von Tamedia, das Spar­pro­gramm, die Initia­tive zur Halbie­rung der Radio- und Fern­seh­ge­bühren – das alles sind opera­tive Mass­nahmen, die sicher­stellen sollen, dass die Aufgaben richtig gemacht werden. Die grosse Frage, die sich die Schweiz stellen muss, ist aber, was die rich­tigen Aufgaben sind, welche Stra­tegie es braucht, damit in der Schweiz länger­fri­stig eine viel­fäl­tige Medi­en­land­schaft über­leben kann. Diese Frage hat unser Land bisher nicht beantwortet. 

Und so langsam geht uns die Zeit aus, uns mit der Frage zu beschäf­tigen, bevor sie mit Zahlen in einem Excel-Sheet erle­digt wird.

Dieser Beitrag wurde zuvor im September 2023 auf Matthias Zehn­ders Webseite veröf­fent­licht. Der Einstieg wurde zu Aktua­li­täts­zwecken leicht angepasst.

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