„Das globale Steu­er­sy­stem ist gegen uns gerichtet“

Mit einem Steu­er­ab­kommen will die UNO mehr wirt­schaft­liche Gerech­tig­keit für den Globalen Süden schaffen. Juri­stin Everlyn Muendo erklärt, wie unter anderem die Schweiz den Prozess ausbremst und was es braucht, damit afri­ka­ni­sche Länder von ihren Rohstoffen profitieren. 
Everlyn Muendo bei einem Austausch ihres Netzwerks zu Steuer- und Klimagerechtigkeit diesen November in Nairobi. (Bild: Tax Justice Network Africa)

Erst­mals in der Geschichte der Vereinten Nationen haben die Mitglied­staaten Verhand­lungen über ein inter­na­tio­nales Abkommen zur Steu­er­po­litik aufge­nommen. Der Entscheid für die UNO-Steu­er­kon­ven­tion fiel Ende 2023: Erfolg­reich unter­stützten die Staaten des Globalen Südens das Vorhaben nahezu geschlossen, während die Schweiz gemeinsam mit den anderen OECD-Ländern dagegen stimmte.

In den vergan­genen Jahr­zehnten war die OECD die wich­tigste Akteurin in inter­na­tio­nalen Steu­er­fragen. Zusammen mit der G20 regelte sie etwa die globale Mindest­steuer für Konzerne. Nun könnte aber das UNO-Steu­er­ab­kommen die Bedeu­tung der OECD-Steu­er­re­geln, die den Globalen Süden syste­ma­tisch benach­tei­ligen, deut­lich schwächen.

Everlyn Muendo begleitet die Verhand­lungen in New York im Auftrag des Tax Justice Network Africa. Die afri­ka­ni­sche Länder­gruppe setzt sich unter anderem dafür ein, gleich­be­rech­tigte Mitbe­stim­mung für die Länder des Globalen Südens sicher­zu­stellen, robuste Regeln zu schaffen, um unlau­tere Finanz­flüsse zu bekämpfen und die Steu­er­trans­pa­renz welt­weit zu stärken.

Das Lamm: Everlyn Muendo, Sie haben an den dies­jäh­rigen Verhand­lungen zur UNO-Steu­er­kon­ven­tion teil­ge­nommen. Was ist ihr Gesamteindruck?

Everlyn Muendo: Es gab eine sehr scharfe Kluft zwischen Globalem Süden und Norden. Die steu­er­po­li­ti­schen Inter­es­sens­ge­gen­sätze zwischen den beiden Lagern wurden sehr deutlich.

Die Trans­pa­renz der Verhand­lungen ist im Vergleich mit jenen bei der OECD bereits ein grosser Fort­schritt. Mit welchen Stand­punkten des Nordens haben die Länder des Südens die grössten Schwierigkeiten?

Erstens ist der Globale Norden der Meinung, dass die UNO-Rahmen­kon­ven­tion die bereits bestehenden OECD-Beschlüsse ledig­lich ergänzen soll und diese nicht – wie sie es nennen – dupli­zieren sollte. Zwei­tens scheint der Norden die Rolle der UNO auf das reine „Capa­city Buil­ding“ beschränken zu wollen – also darauf, den Aufbau von Infra­struktur in den Steu­er­be­hörden des Südens und die Ausbil­dung entspre­chender Expert*innen zu unterstützen.

Dahinter steckt aber eine tief­grei­fende Fehl­ein­schät­zung der Situa­tion des Globalen Südens: Die Vertreter*innen des Nordens scheinen zu glauben, dass wir nicht über ausrei­chende Kapa­zi­täten verfügen und dass das der Grund für die heutigen Probleme in der inter­na­tio­nalen Besteue­rung sei.

„Das Problem sind nicht unsere mangelnden Kompe­tenzen, sondern die Regeln des jetzigen Systems.“

Was sagen Sie zu diesem Argument?

Dieses Argu­ment ist unauf­richtig. Denn selbst während der Verhand­lungen der letzten Jahre in der OECD, in denen die Länder des Globalen Südens theo­re­tisch mitbe­stimmen konnten, haben diese erheb­liche Bedenken geäus­sert: Sowohl am Inhalt der Mindest­steuer als auch daran, wie die Besteue­rungs­rechte an Länder mit grossen Absatz­märkten umver­teilt werden sollen. Diese Bedenken wurden jedoch konstant ignoriert.

Das Problem sind nicht unsere mangelnden Kompe­tenzen, sondern die Regeln des jetz­tigen Systems. Wie ich in einem meiner State­ments in den UNO-Verhand­lungen sagte: „We cannot capa­city build ourselves out of unfair taxing rules“. Egal, wie viel „Capa­city Buil­ding“ wir betreiben – es wird uns nicht von den unfairen Steu­er­re­geln befreien.

Die Länder des Globalen Nordens versu­chen in den Verhand­lungen also, die Fragen zu umgehen, die für den Süden entschei­dend sind.

Ja. Mein Eindruck ist, dass sie nicht aufrichtig verhan­deln. Das wäre aber ein grund­le­gendes Prinzip multi­la­te­raler Verhand­lungen. Alles auf „Capa­city Buil­ding“ beschränken zu wollen, wirkt hingegen nicht sehr vertrau­ens­bil­dend. Der Steu­er­be­richt des UNO-Gene­ral­se­kre­tärs machte sehr deut­lich, wie die mangelnde Inklu­si­vität des heutigen Systems die inter­na­tio­nale Steu­er­zu­sam­men­ar­beit inef­fektiv macht. Unsere Argu­mente sind also gut abge­stützt, alles liegt auf dem Tisch.

Wie kann die zivil­ge­sell­schaft­liche Steu­er­ge­rech­tig­keits­be­we­gung diese falschen Narra­tive der EU oder der Schweiz effektiv kontern?

Zunächst müssen wir dafür sorgen, dass aner­kannt wird, dass die OECD-Lösungen der letzten zehn Jahre für eine bedeu­tende Gruppe von Menschen nicht funk­tio­nieren: Etwa der auto­ma­ti­sche Infor­ma­ti­ons­aus­tausch von Bank­kunden- und Konzern­daten oder die Mindest­steuer für multi­na­tio­nale Konzerne greifen insbe­son­dere für die Länder des Globalen Südens nicht.

„Es geht darum, ange­mes­sene Bildungs­sy­steme für alle aufzu­bauen oder um die Krise im öffent­li­chen Gesund­heits­wesen im Globalen Süden zu bekämpfen.“

Was gilt es zu tun?

Für die Entwick­lungs­fi­nan­zie­rung sind Steuern enorm wichtig. Hinter den tech­ni­schen Diskus­sionen über Gewinn­ver­tei­lungs­re­geln oder wie Besteue­rungs­rechte aufzu­teilen sind, versteckt sich die chro­ni­sche Unter­fi­nan­zie­rung essen­zi­eller Dinge: Es geht darum, ange­mes­sene Bildungs­sy­steme für alle aufzu­bauen oder um die Krise im öffent­li­chen Gesund­heits­wesen im Globalen Süden zu bekämpfen. Es geht auch darum, mehr Ressourcen zur Finan­zie­rung von Klima­schutz­mass­nahmen zu generieren.

Kurz: Es geht um Menschen, die Opfer der heutigen Steu­er­po­litik sind! Deshalb wollen wir diesen UNO-Prozess, der tatsäch­lich inklusiv ist, unbe­dingt vorantreiben.

Was bräuchte es in ressour­cen­rei­chen Ländern Afrikas, in denen die Rohstoff­in­du­strie ein sehr wich­tiger Wirt­schafts­zweig ist?

Für Afrika ist eine ange­mes­sene Besteue­rung des Rohstoff­sek­tors absolut zentral. Die meisten multi­na­tio­nalen Konzerne auf dem Konti­nent sind in diesem Sektor tätig. Aber ihre Haupt­sitze befinden sich natür­lich in den Indu­strie­län­dern des Nordens. 

Dahinter steckt eine sehr kompli­zierte Geschichte, die weit in unsere Kolo­ni­al­ge­schichte zurück­reicht: Vor ihrem Abzug bauten die Kolonialist*innen unsere Wirt­schaft noch so um, dass sie auch nach der Unab­hän­gig­keit noch deren grösste Profi­teure blieben.

„Welches Land ist für gute Scho­ko­lade bekannt? Es ist nicht Ghana.“

Inwie­fern?

Anstatt beispiels­weise die Ernäh­rungs­si­cher­heit zu verbes­sern, wurde weiterhin über­wie­gend Kaffee, Tee, Feld­früchte und Rohstoffe produ­ziert. Also Luxus­güter, die vor allem in Indu­strie­län­dern gefragt sind. Die Rohstoffe kommen von uns, aber ihr Wert wird ausser­halb Afrikas abge­schöpft. Umge­kehrt werden die Produkte, die im Norden auf der Grund­lage unserer Rohstoffe herge­stellt werden, dann wieder an uns verkauft. Wir profi­tieren von unseren eigenen Ressourcen nicht so, wie wir sollten.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Welches Land ist für gute Scho­ko­lade bekannt? Es ist nicht Ghana.

Dass es hingegen die Schweiz ist, ist erstaun­lich, wenn man bedenkt, dass mehr als die Hälfte der in die Schweiz impor­tierten Kakao­bohnen aus Ghana stammt.

Mit schäd­li­cher Steu­er­po­litik verla­gern Konzerne Gewinne in der Höhe Hunderter Milli­arden US-Dollar in den Norden. Selbst aus den tatsäch­li­chen wirt­schaft­li­chen Akti­vi­täten der auslän­di­schen Unter­nehmen in Afrika erhalten wir nicht unseren gerechten Anteil an Steuern. Das System ist wirk­lich gegen uns gerichtet.

„Die Länder des Nordens sitzen in den Verhand­lungen dank ihren Konzern-Haupt­sitzen am viel längeren Hebel – und einige nutzen das schamlos aus!“

Es wird noch dauern, bis neue UNO-Regeln Früchte tragen werden. Gibt es auch ausser­halb dieses Prozesses derzeit Möglich­keiten für Verbesserungen?

Wir kämpfen auch für mehr bila­te­rale Doppel­be­steue­rungs­ab­kommen auf der Grund­lage des UNO-Modells, das viel besser ist als jenes der OECD. Aber damit waren wir bisher nicht sehr erfolg­reich. Die Länder des Nordens sitzen in den Verhand­lungen dank ihren Konzern-Haupt­sitzen am viel längeren Hebel – und einige dieser Länder nutzen das schamlos aus!

Selbst wenn wir also über viel Know-How verfügen, geben wir am Ende immer noch viele unserer Steu­er­rechte ab. Solange wir auf Direkt­in­ve­sti­tionen aus diesen Ländern bauen, um unsere wirt­schaft­liche Entwick­lung voran­zu­treiben, können sie uns steu­er­po­li­tisch unter Druck setzen. Dieser wirt­schafts­po­li­ti­sche Ansatz führt in die Irre.

Was wäre denn ein mögli­cher Weg? Die kenia­ni­sche Regie­rung hat ja jüngst mit finanz­po­li­ti­schen Reformen enorme poli­ti­sche Span­nungen im Land ausgelöst. 

Bei den Prote­sten gegen das Finanz­ge­setz vom Juni 2024 ging es um viel mehr. Sie waren Ausdruck der Frustra­tion hart arbei­tender Kenianer*innen über die zuneh­menden wirt­schaft­li­chen Ungerechtigkeiten.

Der Staat ist hoch verschuldet und die Regie­rung muss drin­gend mehr Mittel für den Schul­den­dienst und die wirt­schaft­liche Entwick­lung aufbringen. Dazu führt sie neue Steuern ein, mit denen die Lebens­hal­tungs­ko­sten stark steigen: eine Ökosteuer, eine Kraft­fahr­zeug­steuer, eine erhöhte Stras­sen­un­ter­halts­ab­gabe und die Abschaf­fung der Mehr­wert­steu­er­be­freiung für bestimmte wich­tige Konsum­güter. Das bela­stet tiefe Einkommen viel stärker als hohe.

„Kenia ist zu einem Expe­ri­men­tier­feld für Austeri­täts­mass­nahmen geworden.“

Gleich­zeitig ist der Service Public schwach. Der Gross­teil der Einnahmen fliesst in den Schul­den­dienst – dieser kann mehr als 50 Prozent der Einnahmen verschlingen – und in die Korrup­tion, die wich­tige öffent­liche Dienst­lei­stungen verdrängt. So wurden etwa die Gehälter von Assistenzärzt*innen stark gekürzt. Zudem wurde ein neues Finan­zie­rungs­mo­dell für Univer­si­täten einge­führt. Damit schossen die Studi­en­ge­bühren in die Höhe.

Kenia ist zu einem Expe­ri­men­tier­feld für Austeri­täts­mass­nahmen geworden – auch unter dem Einfluss des Inter­na­tio­nalen Währungs­fonds. Dabei zahlen einfache Kenianer*innen mehr und erhalten weniger!

Was sagen Sie denn zum in der Schweiz oft erho­benen Vorwurf, dass von zusätz­li­chen Steu­er­ein­nahmen in afri­ka­ni­schen Ländern sowieso nur korrupte Politiker*innen profi­tieren würden?

Wie könnt ihr in der Schweiz über Korrup­tion in Afrika spre­chen, ohne einzu­ge­stehen, dass ihr die grössten Förderer*innen von Intrans­pa­renz und unlau­teren Finanz­strömen seid!

Im Ernst: Es braucht immer zwei für einen Tango. Ja, den korrupten afri­ka­ni­schen Beamten gibt es. Aber wer besticht ihn? Viele Konzerne wie zum Beispiel Glen­core. Dessen Korrup­ti­ons­fälle sind sehr aufschlussreich. 

Wieso wird die Verant­wor­tung immer nur der einen Seite zugeschoben?

Wir müssen aner­kennen, dass undurch­sich­tige Finanz­plätze wie die Schweiz korrupten Leuten aus unseren Ländern als sichere Verstecke dienen. Deshalb wird doch ein Gross­teil der Vermögen im Ausland gehalten. Niemand sagt: „Oh, ich werde mein Geld in Kenia verstecken.“ Nein! Es ist die Schweiz! Ihr seid aus gutem Grund berüchtigt!

Kommen wir zurück zur UNO. Im Februar stehen wohl die näch­sten Verhand­lungen an. Könnten sich die Posi­tionen des Globalen Nordens verändern?

Nun, es gibt in dieser Bezie­hung zwei inter­es­sante Entwick­lungen: Erstens haben sich die EU-Staaten bei der Abstim­mung über die Eckwerte der Konven­tion im August enthalten, statt Nein zu stimmen, wie sie das bei den früheren Reso­lu­tionen getan haben. Ich glaube, das ist ein Zeichen dafür, dass sich die sehr starke Skepsis des Globalen Nordens gegen­über dem Prozess an sich etwas entschärft. Das könnte sich positiv auf die näch­sten Verhand­lungs­runden auswirken.

Zwei­tens könnte der Sieg Donald Trumps in den US-Präsi­dent­schafts­wahlen dazu führen, dass die USA sowohl OECD- wie auch UNO-Prozesse völlig blockiert. Bisher haben die Länder des Nordens immer gesagt, es brauche bei der UNO Entscheide im Konsens. Ich denke aber, dass sie diese Posi­tion ange­sichts der Entwick­lungen in den USA jetzt anpassen müssen.

Worauf wollen Sie hinaus?

Wäre es nicht besser, sich mit einfa­chen Mehr­heits­ent­scheiden zufrie­den­zu­geben, auch wenn der Konsens das Ideal ist? Manchmal läuft es halt einfach nicht nach dem eigenen Ideal. Statt sich von einem einzigen Land oder einer kleinen Gruppe von Ländern aufhalten zu lassen, wäre es demo­kra­ti­scher, allen anderen zu erlauben – sei es aus dem globalen Norden oder Süden – vorwärtszumachen.

„Indem wir uns in der Steu­er­po­litik an die UNO wenden, können wir diese grund­le­genden Heraus­for­de­rungen angehen.“

Werden Entscheide im Konsens gefällt, haben die USA als wirt­schaft­lich stärk­stes Land aber quasi eine Veto­macht. Da wäre es viel demo­kra­ti­scher, jedem Land in Mehr­heits­ent­scheiden eine gleich­be­rech­tigte Stimme zu geben.

Wo sehen Sie auf dem afri­ka­ni­schen Konti­nent posi­tive Entwick­lungen, aus der unge­rechten aktu­ellen Situa­tion herauszukommen?

In verschie­denen afri­ka­ni­schen Ländern fordern die Menschen mehr Rechen­schafts­pflicht von Spitzenpolitiker*innen und Wirtschaftsführer*innen. Vor allem in West­afrika, zum Beispiel im Senegal. Die Aufstände, die wir dort erleben, sind bis zu einem gewissen Grad auch ein extremer Ausdruck des Wunschs nach Selbst­be­stim­mung in Gesell­schaften, die wir immer noch als post­ko­lo­nial bezeichnen können. Nicht nur poli­tisch, sondern auch wirtschaftlich.

Egal ob wir uns den Handel, die Verschul­dung, die Steuern oder was auch immer anschauen: Wir mögen zwar völker­recht­lich aner­kannte Staaten mit poli­ti­scher Souve­rä­nität sein, von wirt­schaft­li­cher Souve­rä­nität sind wir aber weit entfernt. Indem wir uns in der Steu­er­po­litik an die UNO wenden, können wir diese grund­le­genden Heraus­for­de­rungen angehen. Denn Souve­rä­nität in der Besteue­rung ist ein sehr wich­tiger Teil wirt­schaft­li­cher Souveränität.

Dieses Inter­view erschien zuvor im Magazin „Global“.

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