Während ich diese Zeilen tippe, sitze ich in einem der traditionellen Korallenhäuser der Swahili-Küste Kenias. Im Hintergrund sind die Nashīd, die religiösen Gesänge, über die Moschee-Lautsprecher zu hören – es sind die letzten Tage des Ramadans. Die Hitze ist erdrückend, jeder Handschlag eine Anstrengung. Ich bin mit einer Gruppe von Künstler*innen und Forschenden unterwegs und wir untersuchen Mangroven. Nicht die Pflanzen selbst, sondern das Wissen, das sich in und um sie herum angesammelt hat – in den Geschichten der Anwohner*innen, den Traditionen der Bootsbauern, in der Architektur.
Landschaft, Geschichte und kulturelle Strömungen prägen das Denken, ohne es einzuschränken.
Ich muss in diesen Tagen oft an Édouard Glissant denken. Der Schriftsteller wurde 1928 in einer Kleinstadt an der Atlantikküste der Karibikinsel Martinique geboren. Er wuchs in der damaligen Kolonie auf, die 1635 von Frankreich erobert, besetzt und verwaltet wurde und bis heute ein französisches Überseegebiet ist; also formal Teil Frankreichs, jedoch ausserhalb Europas gelegen.
Die Poetik der Relation
Seine Theorien und sein literarisches Werk sind stark von diesen Umständen geprägt: Er beschreibt, wie Kulturen sich durch Vermischung und Austausch weiterentwickeln, ohne dass eine dominante Kultur die andere verdrängt. Diesen Prozess nennt er Kreolisierung – da dies besonders in den ehemaligen Kolonien geschah, wo koloniale und indigene Einflüsse miteinander verschmolzen. Kulturen existieren nicht isoliert, betont Glissant, sondern sind durch ein Netzwerk von Beziehungen miteinander verbunden. Daraus leitet sich die von ihm entwickelte “Poetik der Relation” (Poétique de la Relation) ab.
Welches Wissen erwächst wohl aus dieser Umgebung?
Ein wichtiger Teil seines Denkens ist zudem das Konzept der Opacité (Opazität). Damit meint er das Recht der Angehörigen einer nicht-westlichen Kultur, nicht völlig verstanden oder kategorisiert zu werden – insbesondere vom Westen. In diesem Kontext erwächst Wissen. Landschaft, Geschichte und kulturelle Strömungen prägen das Denken, ohne es einzuschränken.
Vor allem aber denke ich an Glissant wegen seines Konzepts des archipelischen Denkens. In einem Archipel existieren die Inseln nicht isoliert, sondern sind miteinander verbunden. Durch Strömungen, Austausch und Bewegung. Sie bewahren ihre Autonomie, ohne sich voneinander abzuschotten. Dies überträgt er auf seine Vorstellung von Identität, die auf Vernetzung, Beziehung und Durchlässigkeit beruht und sich vom “kontinentalen Denken” unterscheidet, das er von Zentralität, Einheitlichkeit und Kontrolle geprägt sieht.
Mangroven als Modell für Wissen und Gemeinschaft
Es ist bereits unser zweiter Aufenthalt auf der kleinen Insel Lamu. Vor einem halben Jahr verbrachten wir hier einige Zeit. In den engen Gassen grüssen wir bekannte Gesichter und winken ab, wenn wir das übliche Touri-Programm angeboten bekommen. An jedem Ort, den wir besuchen, hat man bereits vom Mangrovenprojekt gehört. Auf das Stadtgeflüster ist Verlass. Welches Wissen erwächst wohl aus dieser Umgebung? Eines, das von engen sozialen Verbindungen in einer traditionellen Lebensweise geprägt ist? Das Vertrautheit, Gemeinschaft, aber auch den Druck der sozialen Kontrolle in seinen labyrinthischen Gassen trägt?
Mangroven bilden ein dichtes, organisches Geflecht, das nicht nur Verbindungen schafft, sondern aktiv neue Räume formt.
Auch Lamu ist Teil eines Archipels, doch vor allem ist es seit Jahrhunderten Teil eines Geflechts aus Handelsrouten, Sprachen und Einflüssen ganz unterschiedlicher Kulturen. Seit dem 9. Jahrhundert war Lamu eng mit der arabischen Welt verbunden und pflegte Handelsbeziehungen über den Indischen Ozean nach Indien oder Persien. Im 16. Jahrhundert kontrollierten die Portugiesen kurzzeitig die Küste und auch die britische Kolonialzeit hinterliess ihre Spuren. Die Swahili-Kultur der Küste ist eine Mischung aus alledem.
In unserem Projekt untersuchen wir Mangrovenwälder. Dieses einzigartige Ökosystem, das zwischen Land und Meer liegt und scheinbar widrigen Bedingungen wie Salzwasser, Gezeiten und sauerstoffarmen Böden ausgesetzt ist, bietet vielfältige Lebensräume, Küstenschutz und Kohlenstoffspeicherung. Wir nähern uns diesem Wald auf einer metaphorischen Ebene, weil er Glissants Ansatz in sich trägt.
So wie er die Archipele als Modell für das Denken der Menschen benutzt, die auf und mit ihnen leben, so gilt dies auch für die Mangroven. Auch sie sind verwurzelt und flexibel, wachsen in Beziehungen statt in Isolation. Genau wie die Gemeinschaft des Orts, der ihnen am nächsten liegt.
Radikal relationales Wissen
Doch Mangroven führen den Ansatz sogar noch weiter: Sie bilden ein dichtes, organisches Geflecht, das nicht nur Verbindungen schafft, sondern aktiv neue Räume formt. Ihre Wurzeln wachsen ineinander, verweben sich und machen das Land erst bewohnbar – sie sind nicht nur Teil des Archipels, sondern seine Voraussetzung.
Übertragen auf mangrovisches Denken bedeutet das nicht nur einen Austausch zwischen bestehenden Einheiten, sondern ein Wissen, das sich ständig verzweigt, verändert und neue Beziehungsräume schafft – ein radikal relationales Wissen, das sich dem Versuch einer klaren Abgrenzung entzieht.
Man merkt es an der Art der Kommunikation hier, die selten eindeutig ist. Nicht, weil es an Klarheit fehlt, sondern weil sie Raum für Möglichkeiten lässt. Es zeigt sich in einer Weise des Planens, die nicht auf starren Strukturen beruht, sondern die ersten Schritte definiert und dann offen bleibt für ungeahnte Entwicklungen.
Dieses Denken und Wissen vertraut darauf, dass sich der Weg im Gehen formt, dass sich durch Beziehungen, Umwege und Anpassungen neue Möglichkeiten eröffnen. So wie die Mangroven, die sich mit jedem Gezeitenwechsel der Umgebung anpassen und dabei beständig neue Verbindungen schaffen.
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