Gedanken über Gemeinschaften

Mangro­ven­wälder eignen sich als Meta­pher, um über mensch­liche Bezie­hungen nach­zu­denken. Unsere Kolum­ni­stin unter­sucht an der Küste Kenias, was wir von ihnen lernen können. 
Wie können sich Gemeinschaften vermischen, ohne sich gegenseitig zu dominieren? Ann Mbuti reflektiert anhand von Baumgeflechten über Begegnungsräume. (Bild: Kristin Hoel / Unsplash)

Während ich diese Zeilen tippe, sitze ich in einem der tradi­tio­nellen Koral­len­häuser der Swahili-Küste Kenias. Im Hinter­grund sind die Nashīd, die reli­giösen Gesänge, über die Moschee-Laut­spre­cher zu hören – es sind die letzten Tage des Rama­dans. Die Hitze ist erdrückend, jeder Hand­schlag eine Anstren­gung. Ich bin mit einer Gruppe von Künstler*innen und Forschenden unter­wegs und wir unter­su­chen Mangroven. Nicht die Pflanzen selbst, sondern das Wissen, das sich in und um sie herum ange­sam­melt hat – in den Geschichten der Anwohner*innen, den Tradi­tionen der Boots­bauern, in der Architektur.

Land­schaft, Geschichte und kultu­relle Strö­mungen prägen das Denken, ohne es einzuschränken.

Ich muss in diesen Tagen oft an Édouard Glis­sant denken. Der Schrift­steller wurde 1928 in einer Klein­stadt an der Atlan­tik­küste der Kari­bik­insel Marti­nique geboren. Er wuchs in der dama­ligen Kolonie auf, die 1635 von Frank­reich erobert, besetzt und verwaltet wurde und bis heute ein fran­zö­si­sches Über­see­ge­biet ist; also formal Teil Frank­reichs, jedoch ausser­halb Europas gelegen.

Die Poetik der Relation

Seine Theo­rien und sein lite­ra­ri­sches Werk sind stark von diesen Umständen geprägt: Er beschreibt, wie Kulturen sich durch Vermi­schung und Austausch weiter­ent­wickeln, ohne dass eine domi­nante Kultur die andere verdrängt. Diesen Prozess nennt er Kreo­li­sie­rung – da dies beson­ders in den ehema­ligen Kolo­nien geschah, wo kolo­niale und indi­gene Einflüsse mitein­ander verschmolzen. Kulturen existieren nicht isoliert, betont Glis­sant, sondern sind durch ein Netz­werk von Bezie­hungen mitein­ander verbunden. Daraus leitet sich die von ihm entwickelte “Poetik der Rela­tion” (Poétique de la Rela­tion) ab. 

Welches Wissen erwächst wohl aus dieser Umgebung?

Ein wich­tiger Teil seines Denkens ist zudem das Konzept der Opacité (Opazität). Damit meint er das Recht der Ange­hö­rigen einer nicht-west­li­chen Kultur, nicht völlig verstanden oder kate­go­ri­siert zu werden – insbe­son­dere vom Westen. In diesem Kontext erwächst Wissen. Land­schaft, Geschichte und kultu­relle Strö­mungen prägen das Denken, ohne es einzuschränken.

Vor allem aber denke ich an Glis­sant wegen seines Konzepts des archi­pe­li­schen Denkens. In einem Archipel existieren die Inseln nicht isoliert, sondern sind mitein­ander verbunden. Durch Strö­mungen, Austausch und Bewe­gung. Sie bewahren ihre Auto­nomie, ohne sich vonein­ander abzu­schotten. Dies über­trägt er auf seine Vorstel­lung von Iden­tität, die auf Vernet­zung, Bezie­hung und Durch­läs­sig­keit beruht und sich vom “konti­nen­talen Denken” unter­scheidet, das er von Zentra­lität, Einheit­lich­keit und Kontrolle geprägt sieht.

Mangroven als Modell für Wissen und Gemeinschaft

Es ist bereits unser zweiter Aufent­halt auf der kleinen Insel Lamu. Vor einem halben Jahr verbrachten wir hier einige Zeit. In den engen Gassen grüssen wir bekannte Gesichter und winken ab, wenn wir das übliche Touri-Programm ange­boten bekommen. An jedem Ort, den wir besu­chen, hat man bereits vom Mangro­ven­pro­jekt gehört. Auf das Stadt­ge­flü­ster ist Verlass. Welches Wissen erwächst wohl aus dieser Umge­bung? Eines, das von engen sozialen Verbin­dungen in einer tradi­tio­nellen Lebens­weise geprägt ist? Das Vertraut­heit, Gemein­schaft, aber auch den Druck der sozialen Kontrolle in seinen laby­rin­thi­schen Gassen trägt?

Mangroven bilden ein dichtes, orga­ni­sches Geflecht, das nicht nur Verbin­dungen schafft, sondern aktiv neue Räume formt. 

Auch Lamu ist Teil eines Archi­pels, doch vor allem ist es seit Jahr­hun­derten Teil eines Geflechts aus Handels­routen, Spra­chen und Einflüssen ganz unter­schied­li­cher Kulturen. Seit dem 9. Jahr­hun­dert war Lamu eng mit der arabi­schen Welt verbunden und pflegte Handels­be­zie­hungen über den Indi­schen Ozean nach Indien oder Persien. Im 16. Jahr­hun­dert kontrol­lierten die Portu­giesen kurz­zeitig die Küste und auch die briti­sche Kolo­ni­al­zeit hinter­liess ihre Spuren. Die Swahili-Kultur der Küste ist eine Mischung aus alledem. 

In unserem Projekt unter­su­chen wir Mangro­ven­wälder. Dieses einzig­ar­tige Ökosy­stem, das zwischen Land und Meer liegt und scheinbar widrigen Bedin­gungen wie Salz­wasser, Gezeiten und sauer­stoff­armen Böden ausge­setzt ist, bietet viel­fäl­tige Lebens­räume, Küsten­schutz und Kohlen­stoff­spei­che­rung. Wir nähern uns diesem Wald auf einer meta­pho­ri­schen Ebene, weil er Glis­sants Ansatz in sich trägt. 

So wie er die Archi­pele als Modell für das Denken der Menschen benutzt, die auf und mit ihnen leben, so gilt dies auch für die Mangroven. Auch sie sind verwur­zelt und flexibel, wachsen in Bezie­hungen statt in Isola­tion. Genau wie die Gemein­schaft des Orts, der ihnen am näch­sten liegt. 

Radikal rela­tio­nales Wissen

Doch Mangroven führen den Ansatz sogar noch weiter: Sie bilden ein dichtes, orga­ni­sches Geflecht, das nicht nur Verbin­dungen schafft, sondern aktiv neue Räume formt. Ihre Wurzeln wachsen inein­ander, verweben sich und machen das Land erst bewohnbar – sie sind nicht nur Teil des Archi­pels, sondern seine Voraussetzung. 

Über­tragen auf mangro­vi­sches Denken bedeutet das nicht nur einen Austausch zwischen bestehenden Einheiten, sondern ein Wissen, das sich ständig verzweigt, verän­dert und neue Bezie­hungs­räume schafft – ein radikal rela­tio­nales Wissen, das sich dem Versuch einer klaren Abgren­zung entzieht. 

Man merkt es an der Art der Kommu­ni­ka­tion hier, die selten eindeutig ist. Nicht, weil es an Klar­heit fehlt, sondern weil sie Raum für Möglich­keiten lässt. Es zeigt sich in einer Weise des Planens, die nicht auf starren Struk­turen beruht, sondern die ersten Schritte defi­niert und dann offen bleibt für unge­ahnte Entwicklungen. 

Dieses Denken und Wissen vertraut darauf, dass sich der Weg im Gehen formt, dass sich durch Bezie­hungen, Umwege und Anpas­sungen neue Möglich­keiten eröffnen. So wie die Mangroven, die sich mit jedem Gezei­ten­wechsel der Umge­bung anpassen und dabei beständig neue Verbin­dungen schaffen.


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Berühmt und brotlos

Unsere Kolumnistin maia arson crimew ist "die berühmteste Hackerin der Schweiz". Ihre aktivistische und journalistische Arbeit schlug international grosse Wellen. Trotzdem lebt sie am Existenzminimum – und so wie ihr geht es vielen Berühmtheiten heutzutage.