In einem zwischengenutzten Haus in Zürich klingelt ein Handy. Eine Freiwillige nimmt ab: «Hello my friend, how can I help you?» (Hallo mein*e Freund*in, wie kann ich dir helfen?) Sobald Menschen in Seenot anrufen, geben die Freiwilligen die Koordinaten des Bootes an die Küstenwache weiter, informieren die Grenzwache Frontex, die Geflüchteten-Behörde UNHCR und private Rettungsschiffe. Mit offenen Laptops versuchen sie über Stunden und Tage den Kontakt zu halten, dokumentieren die Lage und alarmieren erneut, wenn Benzin ausgeht, das Boot Luft verliert oder Wasser eindringt.
Seit zehn Jahren betreibt Alarmphone diese Notrufnummer. Rund 300 Menschen von Tunis über Marseille bis Berlin betreuen sie im Schichtbetrieb. Seit Alarmphone existiert, half die Hotline mehr als 8’000 Booten in Not. Doch sie leistet mehr als technische Hilfe. «Dass wir freundlich antworten, statt feindselig, hat in dieser von Abschottung und Abschreckung geprägten Situation eine politische Kraft», sagt Lorenz Naegeli, einer der knapp 20 Freiwilligen in Zürich. Allein dieser simple Akt der Solidarität sei zu einem störenden Element für das milliardenschwere Grenzregime Europas geworden.
Im Oktober 2013 schlossen sich verschiedene Aktivist*innen zu diesem Störelement zusammen, nachdem vor Lampedusa innert weniger Tage mehr als 500 Menschen ertranken. Die Idee, das Töten im Mittelmeer mit einer 24/7‑Hotline zu bekämpfen, geht unter anderem auf Mussie Zerai zurück. Der eritreische Priester stellte notgedrungen seine Telefonnummer für Menschen in Seenot bereit – sie wurde in libyschen Gefängnissen an die Wände geschrieben, nachdem er dort für Geflüchtete gedolmetscht hatte. Alarmphone wollte eine kollektive Antwort auf solche individuellen Kämpfe geben.
Die Vernetzung: Alarmphone Sahara
Auch fernab des Mittelmeers ist das Netzwerk aktiv: Moctar Dan Yayé gründete 2017 mit anderen Aktivist*innen Alarmphone Sahara und richtete in der Wüstenstadt Agadez in Niger ebenfalls eine Notrufnummer ein. Aber das Telefon erwies sich als ineffizient, da die Menschen auf ihrem Weg durch die Wüste oft kein Netz hatten. «Deshalb erweiterten wir die Nummer durch ein Netzwerk von Whistleblower*innen, die auf den Strassen unterwegs sind und Alarm schlagen, wenn Menschen in Not sind.»
«Der Weg durch die Wüste war nicht immer so tödlich.»
Moctar Dan Yayé, Alarmphone Sahara
Alarmphone Sahara organisiert auch Wüstenpatrouillen mit ortskundigen Personen, die etwa wissen, wo der nächste Brunnen liegt. «Denn die meisten Todesfälle gehen auf Verdursten zurück», sagt Dan Yayé.
Das Missing Migrants Project der International Organization of Migration (IOM) dokumentierte seit 2014 den Tod von 2’000 Menschen in der Sahara. Der Weg durch die Wüste war aber nicht immer so tödlich, weiss Dan Yayé. Jahrhundertelang zogen Karawanen hindurch, und bis vor Kurzem reisten Menschen von Agadez aus legal mit Bussen oder Autos nach Algerien oder Libyen. «Migration kümmerte die Politik kaum, sie war ein normales Phänomen», sagt Dan Yayé. Niger gehörte bis vor Kurzem zur westafrikanischen Wirtschaftsunion ECOWAS, die seit 1979 Personenfreizügigkeit garantiert.
Die Lage änderte sich, als Niger 2015 auf Druck der EU ein Gesetz erliess, das die Mobilität auf diesen Strassen kriminalisierte. Es verbot auch den Transport irregulärer Migrant*innen in den Norden – um sie aufzuhalten, bevor sie das Mittelmeer erreichen. «Also mussten die Menschen gefährlichere Routen nehmen, um die Polizei- und Militärkontrollen zu umgehen», sagt Dan Yayé.
Alarmphone Sahara klagte gegen dieses Gesetz vor dem Menschenrechtsgerichtshof der ECOWAS zunächst erfolglos. Doch nach dem Militärputsch im Juli 2023 hob Niger das Gesetz auf. Seither ist Fluchthilfe wieder erlaubt. Doch daraufhin änderte die EU ihre Strategie. «Die Menschen können Niger zwar nun problemlos durchqueren, aber an den nördlichen Grenzen werden sie von tunesischen und algerischen Sicherheitskräften brutal in die Wüste zurückgedrängt», sagt Dan Yayé.
2024 zählte Alarmphone Sahara 30’000 Menschen, die algerische Behörden im nigrischen Teil der Sahara aussetzten – zusammengepfercht auf Pickups, unter unmenschlichen Bedingungen. «Von dort müssen sie fast 15 Kilometer laufen, um das nächste Dorf zu erreichen.» Unter ihnen befinden sich oft Verletzte und Kranke in lebensbedrohlichem Zustand.
Die Dokumentation: «Niemand kann jemals sagen, nichts davon gewusst zu haben»
«Wir alle starren immer wieder in diesen tiefen Abgrund, stossen immer wieder an die Grenzen des Vorstellbaren.» Charles Hellner moderiert das Podium im Theater Neumarkt, das Alarmphone zu seinem zehnjährigen Bestehen organisiert hat. Der Investigativforscher der Agentur Border Forensics dokumentiert immer wieder dieses Unvorstellbare: das rassistische Massaker vom 24. Juni 2022 an der Grenze zwischen Nador in Marokko und der spanischen Enklave Melilla, wo marokkanische und spanische Sicherheitskräfte 27 Schwarze Menschen töteten, die über den Grenzzaun kletterten, und mehr als 70 verschwinden liessen. Oder die zwei Schiffsbrüche im April 2015 im Mittelmeer, die innerhalb von Minuten über tausend Todesopfer forderten.
«Es handelt sich um eine staatlich organisierte Serie brutaler Angriffe auf Flüchtende.»
Lorenz Naegeli, Alarmphone Zürich
Das Missing Migrants Project hat in den letzten zehn Jahren den Tod von fast 75’000 Migrant*innen weltweit erfasst, die wegen Grenzen starben – fast die Hälfte davon im Mittelmeer. Besonders in der Ägäis im östlichen Mittelmeer hat die Brutalität des europäischen Grenzregimes zugenommen.
«Es handelt sich um eine staatlich organisierte Serie brutaler Angriffe auf Flüchtende, die öffentlich gezeigt werden, um sie zu normalisieren», sagt Naegeli von Alarmphone Zürich. Gewalt, die einst als extrem und menschenrechtswidrig galt, wird durch ihre regelmässige Anwendung und Begriffe wie «Sicherheit» oder «Grenzschutz» zunehmend als legitim präsentiert.
Ende Januar lud Alarmphone ins Theater Neumarkt zu der Veranstaltung «Underground Railroad of Migration» ein. Auf dem Podium sassen Marion Bayer, Moctar Dan Yayé, Lorenz Naegeli und Charles Hellner. Dieser Artikel stützt sich auf die Aufzeichnung des Events.
In diesem Booklet blickt Alarmphone auf seine 10-jährige Geschichte zurück.
Wie sich diese Gewalt in der Ägäis zeigt, schildern Berichte von Betroffenen: Um sie in türkische Gewässer zurückzudrängen, attackierten Sicherheitskräfte ihre Schlauchboote mit Harpunen und schossen auf sie. Noch schlimmer ist es am Fluss Evros, der die Türkei von Griechenland trennt. Menschen berichteten, wie griechische Grenzsoldaten sie massenhaft inhaftierten, brutal misshandelten, ihnen Kleidung und die wenigen Habseligkeiten raubten und sie schutzlos den türkischen Grenzsoldaten auslieferten.
«Rechtsexpert*innen sprechen von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die auf europäischem Boden begangen werden und sehr gut dokumentiert sind», sagt Naegeli. «Niemand kann jemals sagen, nichts davon gewusst zu haben.»
Der Widerstand: Underground Railroad of Migration
Neben der Dokumentation und praktischen Hilfe tut Alarmphone vor allem eins: Es baut mit anderen Projekten eine Gegengemeinschaft gegen das brutale Grenzregime auf. Die Aktivist*innen sprechen von einer «Underground Railroad of Migration».
«Heute wirkt es unvorstellbar, dass das Ende der Sklaverei einst als Utopie galt.»
Marion Bayer, Alarmphone Hanau
Eine solches Netzwerk der Solidarität, das Fluchtwege öffnet, gab es bereits in den 1780er-Jahren in den USA: Die Underground Railroad war ein organisiertes Netz aus Geheimwegen und sicheren Unterkünften, das versklavten Menschen half, in den abolitionistischen Norden der USA zu fliehen.
«Heute wirkt es unvorstellbar, dass das Ende der Sklaverei einst als Utopie galt», sagt Marion Bayer, die seit der Gründung von Alarmphone im deutschen Hanau mitwirkt. Der Blick zurück habe gezeigt: Wer etwas abschaffen will, muss Neues schaffen. Über Jahre ist so ein solidarisches Netzwerk gewachsen: zivile Rettungsschiffe und Flugzeuge im Mittelmeer, solidarische Projekte auf den Routen durch den Balkan oder Marokko, in Italien oder der Schweiz, wenn die Menschen ankommen.
Doch die Arbeit wird schwieriger. Die Personen hinter Alarmphone spüren dies etwa im Kontakt mit den Küstenwachen. «Wir kennen die Warteschleifenmelodien der Küstenwachen inzwischen besser als die Stimmen ihrer Offiziere», sagt Bayer. Und immer öfter verlieren sie den Kontakt zu Menschen in Seenot, da die Fluchtrouten gefährlicher werden.
Bayer berichtet auch von Begegnungen mit Angehörigen der Toten und Vermissten. «All die Mütter und Väter, die Brüder, Schwestern, Freund*innen und Nachbar*innen – man ist mit einem so grossen Ausmass an Trauer und Verlust konfrontiert.» Um damit umzugehen, haben sie mit den Hinterbliebenen das Konzept «Commemoraction» geschaffen. Diese regelmässigen Treffen, deren Name sich aus «commemorate» (Gedenken) und «action» (Handlung) zusammensetzt, würdigen die Toten und Verschwundenen mit Kerzen, Bildern und Gedichten – und machen die täglichen Verbrechen des europäischen Grenzregimes sichtbar.
Die Vision: Grenzen dürfen nicht gefährlich sein
Moctar Dan Yayé, Marion Bayer, Lorenz Naegeli und Charles Hellner haben alle auf unterschiedliche Art und Weise erlebt, wie Bewegungsfreiheit aussehen könnte. Bayer erinnert sich an den Sommer 2015 auf der griechischen Insel Lesbos: «Damals kam ein Boot nach dem anderen an. Die Strände waren voll mit Freiwilligen, die den Menschen die Hand reichten und ‹Willkommen in Europa› sagten.» Diese Sommermonate waren die Zeit mit den wenigsten Todesopfern im Mittelmeer. Das zeigt: Migration ist möglich ohne Todesopfer und ohne die horrenden Kosten, die Menschen heute für ihr Recht auf Bewegung zahlen.
In vielen afrikanischen Ländern sei eine solche Bewegungsfreiheit selbstverständlich, sagt Dan Yayé. Er fordert: «Europa muss aufhören zu glauben, dass alle Menschen aus dem Süden kommen, wenn es keine Barrieren und Kontrollen mehr gibt.» Viele wollen nach Europa, um eine würdige Arbeit zu finden und nicht, weil sie politisch verfolgt werden. Etwa ein Visa-System, das mehrfache Einreisen erlaubt, könnte zirkuläre Migration ermöglichen – wie sie zwischen westafrikanischen Staaten besteht oder in den 1960er-Jahren an der US-mexikanischen Grenze existierte. «Es bedeutet nur die Möglichkeit, zu gehen und wieder zurückkehren zu können», sagt Dan Yayé.
Viele Wissenschaftler*innen, darunter die Wirtschaftsnobelpreisträgerin Esther Duflo, sehen in offenen Grenzen das wirksamste Mittel gegen Armut. Gleichzeitig ist das milliardenschwere europäische Grenzregime äusserst ineffizient. «All die Verschärfungen, um Asyl zu erhalten, all die neuen Gesetze und Massnahmen gegen Migration – nichts davon hat Migration je gestoppt», sagt Dan Yayé.
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