SWISS FRONTEX FILES
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Nichts gesehen,
nichts gehört
Nichts gesehen,
nichts gehört
Schweizer Personal ist für Frontex an Europas Aussengrenzen im Einsatz – dort, wo Sicherheitskräfte nachweislich systematisch Menschenrechte verletzen. Dennoch berichten die Schweizer Einsatzprotokolle von keinerlei Verstössen. Wie kann das sein?

Die Schweiz schickt immer mehr Personal in den Frontex-Einsatz: Im Jahr 2025 sind rund 6883 Einsatztage geplant. (Bild: Luca Mondgenast)
Die Strassen in der Schweiz sind am 22. März 2020 wie ausgestorben – das öffentliche Leben steht still, der Corona-Lockdown hat das Land fest im Griff. Rund 1’500 Kilometer weiter südöstlich, an der Grenze zwischen Griechenland und der Türkei, ist die Lage unterdessen alles andere als ruhig.
An diesem Sonntagnachmittag spitzt sich die Situation beim Grenzübergang Kastanies/Pazarkule zu. So beschreibt es ein Schweizer Grenzschützer, der zu diesem Zeitpunkt vor Ort ist:
„Gegen 15 Uhr näherte sich ein türkisches Militärfahrzeug mit Lautsprecher dem Zaun und kündete an, das Tor werde um 17 Uhr geöffnet. Gegen 16.30 Uhr machte eine Gruppe von Migranten durch Rufe auf sich aufmerksam und versuchte, ein Loch im Zaun zu machen; dabei wurden auch Steine geworfen. Daraufhin griff ein [griechisches] Feuerwehrfahrzeug mit Wasserwerfer ein, unterstützt von der Frontex-Einheit. Die Anzahl der Migranten, die sich entlang des Zauns drängten, nahm weiter zu und erreichte ungefähr tausend Personen. Anschliessend griff auch die griechische Polizei ein, indem sie Rauch- und Tränengas einsetzte, um die Menschenmenge zu zerstreuen. Daraufhin reagierte die türkische Polizei mit einem massiven Gegenangriff und schleuderte Tränengas in Richtung der griechischen Seite. Entlang eines etwa 500 Meter breiten Abschnitts unternahmen Migranten weitere, jedoch erfolglose Versuche, den Zaun zu durchbrechen. Die griechische Polizei und Frontex konnten alle Versuche erfolgreich zurückdrängen. Mein Kollege und ich hielten wegen den Steinen aus Sicherheitsgründen einen Abstand von etwa 70 bis 80 Metern und beobachteten die Ereignisse aus der Ferne. Von meinem erhöhten Beobachtungspunkt aus sah ich den Versuch, den Zaun mit einer Schneidezange zu durchtrennen, was ich umgehend [der griechischen Polizei] meldete.”
Der Schweizer Beamte, der das Geschehen aus sicherer Entfernung verfolgt, ist von Mitte März bis Ende April 2020 im Einsatz für die EU-Grenzwachagentur Frontex. Seine Erlebnisse protokolliert er in wöchentlichen Einsatzberichten.
Diese Einsatzberichte hat das WAV Recherchekollektiv auf Grundlage des Öffentlichkeitsgesetzes angefordert. Nach einem mehrjährigen Verfahren gab das Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit (BAZG) – die Schweizer Schnittstelle zu Frontex – im letzten Dezember 900 Seiten Einsatzberichte frei. Sie stammen von Schweizer Beamt*innen, die in den Jahren 2020 und 2021 für Frontex in Griechenland, Bulgarien und Kroatien im Ausseneinsatz standen. Als Grenzwächter*innen kontrollierten und überwachten sie die Grenzen, sammelten als Befrager*innen Informationen von Migrant*innen, prüften als Dokumentenspezialist*innen die Reisedokumente auf ihre Echtheit und spürten als Hundeführer*innen versteckte Personen und Gegenstände auf.
Um die Aussengrenzen der EU zu überwachen und die Mitgliedstaaten bei der “Migrationskontrolle” zu unterstützen, ist Frontex auf die Mitarbeit der Mitgliedstaaten angewiesen – auch von Nicht-EU-Ländern wie der Schweiz. Im Jahr 2020 leisteten die Schweizer Beamt*innen 1415 Einsatztage während 36 Einsätzen, ein Jahr später waren es 2366 Tage bei 65 Einsätzen. Und die Anzahl Einsätze nimmt seither kontinuierlich zu. Im Jahr 2025 sind bereits 107 Einsätze und 6883 Einsatztage geplant.
Die Einsatzberichte enthalten Informationen zur Art der Operation – fand diese etwa an einem Grenzposten, mobil an einer Landgrenze oder auf See statt? Und sie geben Auskunft über die Arbeitsbedingungen der Mitarbeitenden und die Zusammenarbeit mit den lokalen Behörden, über die Covid-Situation, über Hotel und Unterbringung und – jeweils an erster Stelle – über die „Situation bezüglich illegaler Migration”.
Nach mehrjähriger Verhandlung erhielt das WAV Recherchekollektiv über das Öffentlichkeitsgesetz Einsicht in über 1000 Seiten Dokumente zur Schweizer Mitarbeit bei Frontex. Diese zeigen: Schweizer Frontex-Beamt*innen sind bis heute dort im Einsatz, wo systematisch Menschenrechte verletzt werden. Und: Trotz hoher Geldbeiträge hat die Schweiz wenig Mitspracherecht.
Die Frontex-Befürworter*innen und die Behörden sagten im Abstimmungskampf zum Frontex-Referendum, sie wollen die Agentur von innen heraus verbessern. Gelingt das tatsächlich? Das untersuchen wir in dieser vierteiligen Rechercheserie.
Artikel 1: Im Abstimmungskampf
Eine geheime Infonotiz zeigt: Die Bundesverwaltung hielt brisante Informationen zurück. Ein Blick auf die damaligen Versprechen und die Situation heute wirft Fragen auf. Wurde die Debatte unvollständig geführt?
Artikel 2: Im Ausseneinsatz
Schweizer Beamt*innen stehen an den Grenzen Europas im Einsatz – dort, wo Menschenrechte systematisch verletzt werden. Doch ihre Einsatzberichte erwähnen keine Verstösse. Wie kann das sein?
Artikel 3: Im Verwaltungsrat
Die Schweiz zahlt Hunderte Millionen an Frontex, hat aber kaum Mitspracherecht. Warum akzeptiert sie diesen Deal? Und: Will sie überhaupt mehr Einfluss?
Artikel 4: Am Scheideweg
Laut Menschenrechtsaktivist Amadou M’Bow ist es unmöglich, Frontex zu reformieren. Wie weiter?
Die Schweizer Frontex-Mitarbeitenden legten beim Ausfüllen der „Weekly Reports” unterschiedliche Schreibfreuden an den Tag. Manche hielten sich knapp, andere berichteten ausführlich: etwa von Patrouillenfahrten mit den lokalen Beamt*innen, den Sprachbarrieren, die es dabei manchmal gab – und wie wertvoll sie es trotzdem fanden, Kontakte zu „Kolleg*innen aus anderen Ländern zu knüpfen” und „andere Mentalitäten kennenzulernen”. Ein griechisches Hotel bot den Teams ein „Frontex-Menu” für 10 Euro an, erfährt man ebenso.
Die Berichte zeigen aber auch: Schweizer Grenzbeamt*innen waren an Orten im Einsatz, wo es wiederholt zu gut dokumentierten Menschenrechtsverletzungen kam. Gesehen haben sie laut den ausgewerteten Dokumenten aber nie etwas.
Auf Patrouille am Evros
Einer dieser umstrittenen Orte ist die Evros-Region an der Grenze zwischen Griechenland und der Türkei. 24 Schweizer Grenzwächter*innen – inklusive Hundeführer*in – waren in den Jahren 2020 und 2021 auf der griechischen Seite des gleichnamigen Grenzflusses im Einsatz.
Die interaktive Karte ist ein Ausschnitt der Evros/Meriç-Plattform von Forensic Architecture. Sie visualisiert diverse historische Ereignisse und Infrastrukturen um die Grenze im Flussgebiet Evros zwischen Griechenland und der Türkei. Quelle: https://evros.counter-investigations.org/
Genauere Ortsbezeichnungen wurden in den Einsatzberichten fast alle geschwärzt – genauso wie weitere Stellen in den Berichten. Dennoch lassen die Beschreibungen oft auf den Einsatzort schliessen. So auch im Fall des Schweizer Frontex-Beamten, der die Eskalation an einem griechisch-türkischen Grenzposten beschreibt. Medienberichte aus dieser Zeit legen nahe, dass es sich dabei um den Grenzübergang Kastanies/Pazarkule handelt.
Zum Kontext: Ende Februar 2020 nutzte die türkische Regierung ihre Grenze zu Griechenland als politisches Druckmittel gegenüber der EU, um Unterstützung im Syrien-Konflikt zu erzwingen. Sie lenkte gezielt Tausende Geflüchtete zum Grenzzaun bei Kastanies/Pazarkule – mit dem Versprechen eines offenen Wegs nach Europa. Griechenland reagierte mit einem riesigen Polizei- und Militäraufgebot und setzte das Asylsystem aus.
Am 3. März 2020 besuchte eine EU-Delegation die Region, darunter Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Sie bezeichnete Griechenland als „Schutzschild Europas” und stärkte dem Land damit den Rücken. Bereits am Tag darauf gab es wieder Berichte über Schüsse und Verletzte. Die Türkei warf Griechenland den Einsatz scharfer Munition vor, Athen sprach von Fake News. Klar ist: Mindestens eine Person, Muhammad Gulzar aus Pakistan, starb an einer Schusswunde.
Von Grundrechtsverstössen oder nur schon entsprechenden Bedenken ist in den Einsatzberichten nirgends die Rede.
Der Besuch der EU-Delegierten blieb nicht folgenlos: Nochmals einen Tag später, am 5. März 2020, unterzeichneten Griechenland und Frontex ein Abkommen für eine neue Mission in der Region: die Rapid Border Intervention (RBI) Evros. Dies, obwohl das Frontex-eigene Grundrechtsbüro sich ausdrücklich gegen diesen Sondereinsatz ausgesprochen hatte, da er gegen internationale Pflichten zum Schutz von Menschen verstossen könne.
Die Schweiz schickte trotzdem mindestens sechs Beamt*innen in die RBI-Mission. So auch den eingangs erwähnten Beamten, der kurz nach den gewaltsamen Zusammenstössen an der Grenze seinen Dienst antrat. Der Schweizer Grenzschützer beobachtete nicht nur, wie die Situation am 22. März 2020 erneut eskalierte. Er wurde auch Zeuge einer massiven Aufrüstung in der Region, die er wie folgt dokumentierte:
- Der Grenzübergang wurde für jeglichen Verkehr geschlossen, mit Absperrungen aus drei Meter hohen Gitterbarrieren, Stacheldraht und etwa ein Kubikmeter grossen Betonblöcken auf der rechten Seite des Übergangs. […]
- Auf der linken Seite des Übergangs wurde eine Absperrung mit Stacheldraht errichtet, begleitet von der Präsenz griechischer Soldaten bis zum Fluss Evros.
- Hinter den Absperrungen befindet sich ein grosses Aufgebot an griechischer Polizei und Soldaten in Kampfmontur.
- Griechische Soldaten patrouillieren die Grenze mit gepanzerten Fahrzeugen.
- Nachts ist die gesamte Absperrung beleuchtet.
- Eine zweite technische Barriere aus festem Material und Erdwällen wurde errichtet. […] Auf griechischer Seite wird das Gebiet per Drohne überwacht.
Auch in den kommenden Monaten rüstete Griechenland weiter auf, baute für Hunderte Millionen Euro neue Zäune und Beobachtungstürme, stockte Personal und Fahrzeugflotten auf.
Währenddessen investierte Frontex in ihre Überwachungstechnologie: Drohnen, einen mit Wärmebildkameras ausgestatteten Zeppelin und sogar Satelliten. Die gesammelten Daten fliessen bis heute in das European Border Surveillance System (Eurosur) und gelangen von dort an die jeweiligen Grenzbehörden sowie an die Frontex-Teams vor Ort.
Doch den EU-Millionen und Covid-Restriktionen zum Trotz migrierten die Menschen weiter. Vereinzelt deuten die Berichte darauf hin, wie die Militarisierung der Evros-Region die Fluchtrouten immer gefährlicher machte. So schreibt eine Schweizer Frontex-Mitarbeiterin auf die Frage nach „Illegaler Migration”:
„In der Region [hat sich] eine Schmuggleraktivität etabliert. Diese Personen gehen hohe Risiken ein, um der Festnahme durch die Sicherheitskräfte zu entkommen, und bringen dabei alle Beteiligten in Gefahr. Es kam deshalb zu mehreren Unfällen mit Verletzten – und sogar zu einem Todesfall.”
Das Ausmass der Gewalt
„Illegal”. Dieses Wort wird in den Berichten inflationär gebraucht – zur Beschreibung mutmasslicher Schmuggler*innen, aber auch für Menschen auf der Flucht, die mangels legaler Alternativen eine Grenze ohne gültige Papiere überqueren. Nicht verwendet wird der Begriff dafür, wie die lokalen Behörden – Grenzwächter, Polizistinnen, Soldaten – mit den Geflüchteten umgehen. Von Grundrechtsverstössen oder nur schon entsprechenden Bedenken ist nirgends die Rede.
Das erstaunt. Denn ab März 2020 stieg in der Evros-Region die Zahl sogenannter „Pushbacks” massiv an. Das bedeutet, dass Flüchtende ohne Möglichkeit auf ein Asylgesuch in Drittstaaten wie die Türkei zurückgedrängt werden. Das ist illegal: Die Europäische Menschenrechtskonvention garantiert jeder Person das Recht, einen Asylantrag zu stellen. Und es verstösst gegen das völkerrechtliche Non-Refoulement-Prinzip, das Rückweisungen verbietet, wenn Menschen dadurch Verfolgung, Folter oder unmenschliche Behandlung droht.
„Die militärische und technologische Aufrüstung der Grenze hat es den griechischen Einsatzkräften erleichtert, Flüchtende aufzuspüren und zurückzuschieben.”
Lena Karamanidou, Migrationsforscherin beim BVMN
Im April, Mai und Juni 2020 dokumentierte das Border Violence Monitoring Network (BVMN) Pushbacks durch griechische Einsatzkräfte von rund 840 Menschen, teils unter Anwendung massiver Gewalt. Berichte sprechen von Elektroschocks, Schlagstöcken, Schusswaffen – und Menschen, die gefesselt in den Evros geworfen wurden. Eine Person schilderte BVMN das Erlebte später so:
„Zwei uniformierte Polizisten und ein ‘Kommandosoldat’ (mit einer Skimaske) brachten die Geflüchteten einzeln in einen Raum. Unabhängig davon, ob es sich um Männer oder Frauen handelte, schlugen sie sie brutal, bevor sie sie in einen dunkelgrünen Tarn-LKW luden. […] Die Polizisten zogen ihnen die Kleidung aus und liessen sie nackt zurück. Der [von BVMN] Befragte [ein Geflüchteter] wurde schwer an seinem Oberkörper, seinen Armen, Knien und seinem Kopf geschlagen. In seinem Fall war es vor allem ein ‘Kommandosoldat’, der mit zwei uniformierten Beamten zusammenarbeitete. Neben diesen dreien waren etwa 20 Polizisten und anderes Personal in der Haftanstalt anwesend. Der Befragte sagt, dass alle Griechisch sprachen und einige auch Türkisch. Der Zugang zu Toiletten, Wasser und Essen wurde während der gesamten Zeit verweigert. Nach acht Stunden in Haft brachte der Militärlastwagen sie zum Evros-Fluss. Die Fahrt dauerte etwa 30 Minuten. Sie schlugen sie erneut und fesselten sie mit Kabelbindern. Mit gefesselten Händen wurden sie ins Wasser des Evros-Flusses geworfen. Der Befragte und einige andere konnten nicht schwimmen; andere Geflüchtete halfen ihnen, sich über Wasser zu halten. Dies geschah gegen Sonnenuntergang, etwa um 21 Uhr am 21. Juni 2020.”
„2020 und 2021 waren Jahre mit schwersten Menschenrechtsverletzungen”, sagt Lena Karamanidou, Migrationsforscherin beim BVMN. Die militärische und technologische Aufrüstung der Grenze hätte es den griechischen Einsatzkräften erleichtert, Flüchtende aufzuspüren und zurückzuschieben, so die langjährige Frontex-Expertin.
Allein in diesen beiden Jahren haben die griechischen Behörden laut einer Recherche des griechischen Investigativkollektivs Solomon jeweils etwa 7000 Menschen völkerrechtswidrig in die Türkei zurückgeschoben – ein bisher unerreichter Höchststand. Die Rechercheagentur Forensic Architecture dokumentierte in einer interaktiven Karte zudem über sechzig Fälle, in denen Gruppen von Asylsuchenden auf kleinen Inseln im Grenzfluss strandeten und dort zum Teil von türkischen sowie auch von griechischen Sicherheitskräften angegriffen wurden. Viele sassen Tage oder teilweise Wochen auf den Inseln fest, ohne Nahrung oder medizinische Versorgung.
Die 900 Seiten Einsatzberichte stammen von Schweizer Beamt*innen, die in den Jahren 2020 und 2021 für Frontex in Griechenland, Bulgarien und Kroatien im Ausseneinsatz standen. Das Rechercheteam hat diese Länder ausgewählt, weil dort in dieser Zeit besonders viele Grundrechtsverletzungen dokumentiert sind. Die Dokumente erlauben erstmalig einen Einblick, was das Schweizer Personal im Frontex-Einsatz genau macht. Wir haben uns für die Analyse auf die griechische Evros-Region konzentriert.
Auch Untersuchungen von offizieller Seite bestätigten die Verbrechen in der Evros-Region, und das Frontex-interne Grundrechtsbüro wurde aktiv. Bereits 2019 empfahl es, die Evros-Mission abzubrechen, falls weiterhin Menschenrechtsverstösse passierten. Nach einem Besuch am Evros im April 2021 monierte das Büro, dass Grundrechtsverstösse dem Frontex-Rechenschaftssystem durch die Lappen gingen.
Wie wenig sich seither verändert hat, zeigt ein aktueller Bericht des Europarats. Alleine 2024 wurden 248 Pushbacks aus Griechenland mit mindestens 4229 Betroffenen gezählt. Der Bericht fordert Griechenland auf, diese Praxis umgehend zu beenden.
Die Schweizer Frontex-Beamt*innen bekamen von der Gewalt an der Grenze offenbar nichts mit. Weder 2020 und 2021, noch in den Jahren danach.
Wie kann das sein? Wie ist es möglich, dass Schweizer Grenzbeamt*innen über Jahre hinweg in einer Region im Einsatz sind, in der wiederholt Menschenrechtsverletzungen dokumentiert werden – ohne diese in ihren Berichten zu erwähnen?
Das BAZG verweist auf einen Bericht des Frontex-Grundrechtsbüros: Dieses nennt die begrenzte Präsenz der Agentur an bestimmten Orten als Grund, warum Grundrechtsverletzungen nicht systematisch gemeldet würden. Gerne hätten wir darüber direkt mit einer Person gesprochen, die für die Schweiz im Frontex-Einsatz war. Das lehnte das Bundesamt jedoch ab.
Keine Verstösse dokumentiert
Liest man die Einsatzberichte der Schweizer Frontex-Mitarbeitenden, fällt auf: Sie sind sowohl direkt als auch indirekt daran beteiligt, Menschen am Grenzübertritt zu hindern. Auf Patrouille mit lokalen Einsatzkräften greifen sie von ihnen als „Migrant*innen” identifizierte Personen auf und übergeben sie den lokalen Sicherheitskräften – am Evros, aber beispielsweise auch an der nordmazedonischen Grenze oder im kroatisch-bosnischen Grenzgebiet. Noch öfter schildern sie in den Einsatzberichten aber, wie sie Gruppen von Menschen beobachten und den lokalen Behörden melden, die dann übernehmen. So etwa im folgenden Fall:
„Am 27.02.2021 um 21.10 Uhr, auf dem Weg vom Hotel zur BCU [Border Control Unit] von [geschwärzt], sahen wir […] am Strassenrand in der Gegenrichtung drei oder vier Personen – sie wirkten wie Migranten und trugen Taschen und Rucksäcke. Wir informierten unseren griechischen Kollegen, der hinten im Auto sass und nichts gesehen hatte. Er reagierte nicht mit einer Kontrolle, sondern sagte, wir sollten weiterfahren, da die Polizei von [geschwärzt] für solche Kontrollen zuständig sei. [...] Später fragte ich unseren griechischen Kollegen, was mit diesen Personen passiert sei; er sagte, die Polizei von [geschwärzt] habe sie mitgenommen. Wir haben den Vorfall mit FTSO [Frontex Tactical Support Officer] besprochen und warten nun auf eine Rückmeldung.”
Was mit den aufgegriffenen Personen geschieht, bleibt unklar – nicht nur in diesem Fall, sondern in fast allen dokumentierten Situationen. Nur vereinzelt notieren Schweizer Beamt*innen, bei den lokalen Behörden überhaupt nachgefragt zu haben. Und nur eine einzige Person, eine Grenzwächterin, die im Sommer 2020 in der Evros-Region im Einsatz war, thematisiert den Mangel an Informationen offen:
„Wir brauchen mehr Rückmeldungen darüber, was während unseres Einsatzes passiert. Beim Debriefing wurde uns zum Beispiel mitgeteilt, dass 103 irreguläre Migranten festgenommen wurden – vorher hatten wir keinerlei Informationen darüber.”
Ein Schweizer Beamter, der von der Situation an der Grenze zwischen Kroatien und Bosnien-Herzegowina berichtet, spricht zwar als einziger explizit von Pushbacks, distanziert sich jedoch von einer Mitverantwortung:
„Grosse Probleme mit Migranten an der grünen Grenze (wurde auch in den Medien berichtet). Sie kommen über die Balkanroute aus Bosnien-Herzegowina und wollen nach Europa weiterreisen. Frontex-Beamte sind in diesen Fällen nicht beteiligt (Pushbacks).”
In der Vergangenheit wurde unter anderem aus dem EU-Parlament der Vorwurf laut, dass Griechenland Frontex-Teams gezielt aus besonders sensiblen Einsatzorten fernhalten würde, um zu verhindern, dass diese Zeugen von Pushbacks wird. Das könnte auch erklären, warum gewisse Schweizer Frontex-Beamt*innen gemäss ihren Berichten nach März 2020 bei ihren mehrwöchigen Einsätzen teilweise „keinen Migrant*innen” begegnen – und entsprechend kaum etwas beobachtet haben.
Welche Handlungsmöglichkeiten haben die Frontex-Einsatzkräfte überhaupt?
Frontex wie auch die Schweizer Behörden betonen immer wieder, dass nur eine Präsenz vor Ort zur Verbesserung der Situation beitragen könne – etwa, um rechtswidrige Rückweisungen zu verhindern. Doch wie ist das möglich, wenn scheinbar keine Verstösse dokumentiert werden? Und: Welche Handlungsmöglichkeiten haben die Frontex-Einsatzkräfte überhaupt?
Das BAZG teilt auf Anfrage mit, dass die Schweizer Einsatzkräfte allfällige Grundrechtsverletzungen sowohl über den Frontex-internen Meldemechanismus als auch direkt ans Bundesamt melden müssen. Kurz vor Redaktionsschluss bestätigte die Behörde, dass in jüngerer Zeit solche Meldungen eingegangen sind. Details gibt das BAZG aber nicht bekannt. Und sagt: Weitere Ermittlungen gehören nicht zur Aufgabe der Schweizer „Grenzschutzexperten”.
Die Kompetenzen der Schweizer Grenzschutzbeamt*innen sind begrenzt. „Das Frontex-Personal nimmt seine Aufgaben und Befugnisse nur auf Anweisung und in der Regel in Anwesenheit des Grenzschutzpersonals des Einsatzlandes wahr”. In anderen Worten: Sie unterstehen dem Kommando der lokalen Behörden, ihr Handlungsspielraum ist beschränkt.
Das zeigte sich exemplarisch in den Fällen, in denen Geflüchtete auf kleinen Inseln im Grenzfluss festsassen. Frontex wusste darüber Bescheid, leitete die Informationen an die griechischen Grenzschutzbehörden weiter und bot in Einzelfällen sogar an, selbst einzugreifen – was von griechischer Seite jedoch abgelehnt wurde. Fast alle dieser Fälle endeten in Pushbacks.
Genau darin sieht Migrationsforscherin Lena Karamanidou ein grundlegendes Problem. Frontex liefere die Überwachungstechnologie und Informationen, die nationalen Behörden dabei helfe, völkerrechtswidrige Einsätze durchzuführen – ohne dass Frontex selbst unmittelbar eingreift.
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Der Druck steigt
Welche Verantwortung trägt die Schweiz, wenn sie Grenzbeamt*innen in Regionen entsendet, in denen systematisch Menschenrechte verletzt werden? Die Analyse der internen Einsatzberichte zeigt erstmals: Schweizer Frontex-Personal liefert den lokalen Behörden Informationen, die potenziell Pushbacks auslösen können. Und: Obwohl solche illegalen Rückweisungen in ihrem Einsatzgebiet hundertfach passieren, bekommen die Frontex-Mitarbeitenden aus der Schweiz davon offenbar nichts mit.
Trotzdem hält der Bund an den Einsätzen fest – auch in der Evros-Region, wo der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Anfang 2025 feststellte, dass dort in der Vergangenheit eine „systematische Praxis der Pushbacks” herrschte. Er entsandte zwischen 2022 und 2024 erneut 10 Schweizer Beamt*innen in den Einsatz in der Region.
Doch der Druck steigt. Das Frontex-Grundrechtsbüro stellte wiederholt einen Rückzug aus Griechenland zur Debatte. Selbst Frontex-Direktor Hans Leijtens kritisierte öffentlich die mangelnde Kooperation Athens.
Das BAZG stellt sich weiter auf den Standpunkt, dass es nicht zielführend sei, Einsätze in bestimmten Staaten zu suspendieren. Zudem entsende die Schweiz einen Grundrechtsspezialisten zur Unterstützung des Grundrechtsbüros – und setze sich im Verwaltungsrat für die lückenlose Aufarbeitung von Grundrechtsverletzungen ein.
Ist das Schweizer Engagement für Grundrechte ein Lippenbekenntnis?
„Das reicht nicht”, findet Balthasar Glättli. Der Grünen-Nationalrat sprach sich 2022 im Abstimmungskampf gegen eine stärkere Beteiligung an Frontex aus. Nun fordert er: Wo das Grundrechtsbüro dies empfehle, solle die Schweiz sofort jegliches Personal abziehen. „Wenn der Grundrechtsbeauftragte feststellt, dass es ein Problem gibt, sollten wir keine Beamt*innen mehr hinschicken – sondern Beobachter*innen”, so Glättli.
Das wäre nicht nur politisch konsequent, sondern hätte auch eine rechtliche Grundlage in der Frontex-Verordnung: Artikel 46 erlaubt den Abbruch von Missionen bei systematischen Menschenrechtsverletzungen. Bisher wurde er nur einmal angewandt – 2021 in Ungarn, als direkte Folge eines EGMR-Urteils gegen das Land wegen systematischen Pushbacks. Genau diese Situation gibt es bei Griechenland heute.
Doch während die Schweiz stets die Bedeutung des Frontex-Grundrechtsbüros betont, hat sie dessen Empfehlung zur Anwendung von Artikel 46 im Fall von Griechenland bislang nicht unterstützt.
Ist das Schweizer Engagement für Grundrechte damit ein Lippenbekenntnis?Ja, meint Glättli: „Warum schicken wir jemanden ins Grundrechtsbüro, wenn wir dann nicht umsetzen, was dieses empfiehlt?” Das Vorgehen sei die „reinste Scharade”, sagt er – und kündigt für die kommende Session einen parlamentarischen Vorstoss an, um die Schweiz zu einer glaubwürdigeren Menschenrechtspolitik zu verpflichten.
Doch auch das würde ein grundlegendes Problem nicht lösen: Die Rechenschaftsmechanismen von Frontex – darunter auch das Grundrechtsbüro – sind alle interner Natur und haben keine bindenden Kompetenzen. „Sie dienen als Feigenblatt einer Rechenschaftspflicht, die es faktisch nicht gibt”, sagt Migrationsforscherin Lena Karamanidou.
Um daran etwas zu ändern, bräuchte es tiefgreifende, strukturelle Reformen bei Frontex: „Doch solange Staaten wie die Schweiz wegsehen und sich trotzdem beteiligen, tragen sie Mitverantwortung für die Zustände, die dadurch fortbestehen”, so Karamanidou.
Diese Recherche wurde durch zweckgebundene Beiträge vom Europäischen Bürger*innen Forum (EBF) und Solidarité sans frontières (SOSF) unterstützt. Die Unterstützung ermöglichte die Auswertung von den über 1000 Seiten Dokumenten, die via Öffentlichkeitsprinzip offengelegt werden konnten. Die Artikelserie wurde redaktionell unabhängig nach journalistischen Standards produziert. Jegliche Einflussnahme auf den redaktionellen Prozess ist laut Vereinbarung ausgeschlossen. Die Recherche wie auch die redaktionelle Umsetzung erfolgte in Zusammenarbeit zwischen dem WAV Recherchekollektiv und das Lamm.
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