SWISS FRONTEX FILES
Artikel 2 von 4

Nichts gesehen,
nichts gehört

Nichts gesehen,
nichts gehört

Schweizer Personal ist für Frontex an Europas Aussen­grenzen im Einsatz – dort, wo Sicher­heits­kräfte nach­weis­lich systematisch Menschen­rechte verletzen. Dennoch berichten die Schweizer Einsatz­pro­to­kolle von keinerlei Verstössen. Wie kann das sein?

Von

Jennifer Steiner

und 

Lorenz Naegeli, WAV Recherchekollektiv


Die Schweiz schickt immer mehr Personal in den Frontex-Einsatz: Im Jahr 2025 sind rund 6883 Einsatz­tage geplant. (Bild: Luca Mondgenast)


Die Strassen in der Schweiz sind am 22. März 2020 wie ausge­storben – das öffent­liche Leben steht still, der Corona-Lock­down hat das Land fest im Griff. Rund 1’500 Kilo­meter weiter südöst­lich, an der Grenze zwischen Grie­chen­land und der Türkei, ist die Lage unter­dessen alles andere als ruhig.

An diesem Sonn­tag­nach­mittag spitzt sich die Situa­tion beim Grenz­über­gang Kastanies/Pazarkule zu. So beschreibt es ein Schweizer Grenz­schützer, der zu diesem Zeit­punkt vor Ort ist:

„Gegen 15 Uhr näherte sich ein türki­sches Mili­tär­fahr­zeug mit Laut­spre­cher dem Zaun und kündete an, das Tor werde um 17 Uhr geöffnet. Gegen 16.30 Uhr machte eine Gruppe von Migranten durch Rufe auf sich aufmerksam und versuchte, ein Loch im Zaun zu machen; dabei wurden auch Steine geworfen. Daraufhin griff ein [grie­chi­sches] Feuer­wehr­fahr­zeug mit Wasser­werfer ein, unter­stützt von der Frontex-Einheit. Die Anzahl der Migranten, die sich entlang des Zauns drängten, nahm weiter zu und erreichte unge­fähr tausend Personen. Anschlies­send griff auch die grie­chi­sche Polizei ein, indem sie Rauch- und Tränengas einsetzte, um die Menschen­menge zu zerstreuen. Daraufhin reagierte die türki­sche Polizei mit einem massiven Gegen­an­griff und schleu­derte Tränengas in Rich­tung der grie­chi­schen Seite. Entlang eines etwa 500 Meter breiten Abschnitts unter­nahmen Migranten weitere, jedoch erfolg­lose Versuche, den Zaun zu durch­bre­chen. Die grie­chi­sche Polizei und Frontex konnten alle Versuche erfolg­reich zurück­drängen. Mein Kollege und ich hielten wegen den Steinen aus Sicher­heits­gründen einen Abstand von etwa 70 bis 80 Metern und beob­ach­teten die Ereig­nisse aus der Ferne. Von meinem erhöhten Beob­ach­tungs­punkt aus sah ich den Versuch, den Zaun mit einer Schnei­de­zange zu durch­trennen, was ich umge­hend [der grie­chi­schen Polizei] meldete.”

Der Schweizer Beamte, der das Geschehen aus sicherer Entfer­nung verfolgt, ist von Mitte März bis Ende April 2020 im Einsatz für die EU-Grenz­wach­agentur Frontex. Seine Erleb­nisse proto­kol­liert er in wöchent­li­chen Einsatzberichten.

Diese Einsatz­be­richte hat das WAV Recher­che­kol­lektiv auf Grund­lage des Öffent­lich­keits­ge­setzes ange­for­dert. Nach einem mehr­jäh­rigen Verfahren gab das Bundesamt für Zoll und Grenz­si­cher­heit (BAZG) – die Schweizer Schnitt­stelle zu Frontex – im letzten Dezember 900 Seiten Einsatz­be­richte frei. Sie stammen von Schweizer Beamt*innen, die in den Jahren 2020 und 2021 für Frontex in Grie­chen­land, Bulga­rien und Kroa­tien im Aussen­ein­satz standen. Als Grenzwächter*innen kontrol­lierten und über­wachten sie die Grenzen, sammelten als Befrager*innen Infor­ma­tionen von Migrant*innen, prüften als Dokumentenspezialist*innen die Reise­do­ku­mente auf ihre Echt­heit und spürten als Hundeführer*innen versteckte Personen und Gegen­stände auf.

Um die Aussen­grenzen der EU zu über­wa­chen und die Mitglied­staaten bei der “Migra­ti­ons­kon­trolle” zu unter­stützen, ist Frontex auf die Mitar­beit der Mitglied­staaten ange­wiesen – auch von Nicht-EU-Ländern wie der Schweiz. Im Jahr 2020 leisteten die Schweizer Beamt*innen 1415 Einsatz­tage während 36 Einsätzen, ein Jahr später waren es 2366 Tage bei 65 Einsätzen. Und die Anzahl Einsätze nimmt seither konti­nu­ier­lich zu. Im Jahr 2025 sind bereits 107 Einsätze und 6883 Einsatz­tage geplant.

Die Einsatz­be­richte enthalten Infor­ma­tionen zur Art der Opera­tion – fand diese etwa an einem Grenz­po­sten, mobil an einer Land­grenze oder auf See statt? Und sie geben Auskunft über die Arbeits­be­din­gungen der Mitar­bei­tenden und die Zusam­men­ar­beit mit den lokalen Behörden, über die Covid-Situa­tion, über Hotel und Unter­brin­gung und – jeweils an erster Stelle – über die „Situa­tion bezüg­lich ille­galer Migration”.

Nach mehr­jäh­riger Verhand­lung erhielt das WAV Recher­che­kol­lektiv über das Öffent­lich­keits­ge­setz Einsicht in über 1000 Seiten Doku­mente zur Schweizer Mitar­beit bei Frontex. Diese zeigen: Schweizer Frontex-Beamt*innen sind bis heute dort im Einsatz, wo systematisch Menschen­rechte verletzt werden. Und: Trotz hoher Geld­bei­träge hat die Schweiz wenig Mitspracherecht.

Die Frontex-Befürworter*innen und die Behörden sagten im Abstim­mungs­kampf zum Frontex-Refe­rendum, sie wollen die Agentur von innen heraus verbes­sern. Gelingt das tatsäch­lich? Das unter­su­chen wir in dieser vier­tei­ligen Rechercheserie.

Artikel 1: Im Abstimmungskampf

Eine geheime Info­notiz zeigt: Die Bundes­ver­wal­tung hielt brisante Infor­ma­tionen zurück. Ein Blick auf die dama­ligen Verspre­chen und die Situa­tion heute wirft Fragen auf. Wurde die Debatte unvoll­ständig geführt?

Artikel 2: Im Ausseneinsatz

Schweizer Beamt*innen stehen an den Grenzen Europas im Einsatz – dort, wo Menschen­rechte systematisch verletzt werden. Doch ihre Einsatz­be­richte erwähnen keine Verstösse. Wie kann das sein?

Artikel 3: Im Verwaltungsrat

Die Schweiz zahlt Hunderte Millionen an Frontex, hat aber kaum Mitspra­che­recht. Warum akzep­tiert sie diesen Deal? Und: Will sie über­haupt mehr Einfluss?

Artikel 4: Am Scheideweg

Laut Menschen­rechts­ak­ti­vist Amadou M’Bow ist es unmög­lich, Frontex zu refor­mieren. Wie weiter?

Die Schweizer Frontex-Mitar­bei­tenden legten beim Ausfüllen der „Weekly Reports” unter­schied­liche Schreib­freuden an den Tag. Manche hielten sich knapp, andere berich­teten ausführ­lich: etwa von Patrouil­len­fahrten mit den lokalen Beamt*innen, den Sprach­bar­rieren, die es dabei manchmal gab – und wie wert­voll sie es trotzdem fanden, Kontakte zu „Kolleg*innen aus anderen Ländern zu knüpfen” und „andere Menta­li­täten kennen­zu­lernen”. Ein grie­chi­sches Hotel bot den Teams ein „Frontex-Menu” für 10 Euro an, erfährt man ebenso.

Die Berichte zeigen aber auch: Schweizer Grenzbeamt*innen waren an Orten im Einsatz, wo es wieder­holt zu gut doku­men­tierten Menschen­rechts­ver­let­zungen kam. Gesehen haben sie laut den ausge­wer­teten Doku­menten aber nie etwas.

Auf Patrouille am Evros

Einer dieser umstrit­tenen Orte ist die Evros-Region an der Grenze zwischen Grie­chen­land und der Türkei. 24 Schweizer Grenzwächter*innen – inklu­sive Hundeführer*in – waren in den Jahren 2020 und 2021 auf der grie­chi­schen Seite des gleich­na­migen Grenz­flusses im Einsatz.

Die inter­ak­tive Karte ist ein Ausschnitt der Evros/­Meriç-Platt­form von Forensic Archi­tec­ture. Sie visua­li­siert diverse histo­ri­sche Ereig­nisse und Infra­struk­turen um die Grenze im Fluss­ge­biet Evros zwischen Grie­chen­land und der Türkei. Quelle: https://evros.counter-investigations.org/

Genauere Orts­be­zeich­nungen wurden in den Einsatz­be­richten fast alle geschwärzt – genauso wie weitere Stellen in den Berichten. Dennoch lassen die Beschrei­bungen oft auf den Einsatzort schliessen. So auch im Fall des Schweizer Frontex-Beamten, der die Eska­la­tion an einem grie­chisch-türki­schen Grenz­po­sten beschreibt. Medi­en­be­richte aus dieser Zeit legen nahe, dass es sich dabei um den Grenz­über­gang Kastanies/Pazarkule handelt.

Zum Kontext: Ende Februar 2020 nutzte die türki­sche Regie­rung ihre Grenze zu Grie­chen­land als poli­ti­sches Druck­mittel gegen­über der EU, um Unter­stüt­zung im Syrien-Konflikt zu erzwingen. Sie lenkte gezielt Tausende Geflüch­tete zum Grenz­zaun bei Kastanies/Pazarkule – mit dem Verspre­chen eines offenen Wegs nach Europa. Grie­chen­land reagierte mit einem riesigen Polizei- und Mili­tär­auf­gebot und setzte das Asyl­sy­stem aus.

Am 3. März 2020 besuchte eine EU-Dele­ga­tion die Region, darunter Kommis­si­ons­prä­si­dentin Ursula von der Leyen. Sie bezeich­nete Grie­chen­land als „Schutz­schild Europas” und stärkte dem Land damit den Rücken. Bereits am Tag darauf gab es wieder Berichte über Schüsse und Verletzte. Die Türkei warf Grie­chen­land den Einsatz scharfer Muni­tion vor, Athen sprach von Fake News. Klar ist: Minde­stens eine Person, Muhammad Gulzar aus Paki­stan, starb an einer Schusswunde.

Von Grund­rechts­ver­stössen oder nur schon entspre­chenden Bedenken ist in den Einsatz­be­richten nirgends die Rede.

Der Besuch der EU-Dele­gierten blieb nicht folgenlos: Noch­mals einen Tag später, am 5. März 2020, unter­zeich­neten Grie­chen­land und Frontex ein Abkommen für eine neue Mission in der Region: die Rapid Border Inter­ven­tion (RBI) Evros. Dies, obwohl das Frontex-eigene Grund­rechts­büro sich ausdrück­lich gegen diesen Sonder­ein­satz ausge­spro­chen hatte, da er gegen inter­na­tio­nale Pflichten zum Schutz von Menschen verstossen könne.

Die Schweiz schickte trotzdem minde­stens sechs Beamt*innen in die RBI-Mission. So auch den eingangs erwähnten Beamten, der kurz nach den gewalt­samen Zusam­men­stössen an der Grenze seinen Dienst antrat. Der Schweizer Grenz­schützer beob­ach­tete nicht nur, wie die Situa­tion am 22. März 2020 erneut eska­lierte. Er wurde auch Zeuge einer massiven Aufrü­stung in der Region, die er wie folgt dokumentierte:

  • Der Grenz­über­gang wurde für jegli­chen Verkehr geschlossen, mit Absper­rungen aus drei Meter hohen Gitter­bar­rieren, Stachel­draht und etwa ein Kubik­meter grossen Beton­blöcken auf der rechten Seite des Übergangs. […]
  • Auf der linken Seite des Über­gangs wurde eine Absper­rung mit Stachel­draht errichtet, begleitet von der Präsenz grie­chi­scher Soldaten bis zum Fluss Evros.
  • Hinter den Absper­rungen befindet sich ein grosses Aufgebot an grie­chi­scher Polizei und Soldaten in Kampfmontur.
  • Grie­chi­sche Soldaten patrouil­lieren die Grenze mit gepan­zerten Fahrzeugen.
  • Nachts ist die gesamte Absper­rung beleuchtet.
  • Eine zweite tech­ni­sche Barriere aus festem Mate­rial und Erdwällen wurde errichtet. […] Auf grie­chi­scher Seite wird das Gebiet per Drohne überwacht.

Auch in den kommenden Monaten rüstete Grie­chen­land weiter auf, baute für Hunderte Millionen Euro neue Zäune und Beob­ach­tungs­türme, stockte Personal und Fahr­zeug­flotten auf.

Während­dessen inve­stierte Frontex in ihre Über­wa­chungs­tech­no­logie: Drohnen, einen mit Wärme­bild­ka­meras ausge­stat­teten Zeppelin und sogar Satel­liten. Die gesam­melten Daten fliessen bis heute in das Euro­pean Border Surveil­lance System (Eurosur) und gelangen von dort an die jewei­ligen Grenz­be­hörden sowie an die Frontex-Teams vor Ort. 

Doch den EU-Millionen und Covid-Restrik­tionen zum Trotz migrierten die Menschen weiter. Verein­zelt deuten die Berichte darauf hin, wie die Mili­ta­ri­sie­rung der Evros-Region die Flucht­routen immer gefähr­li­cher machte. So schreibt eine Schweizer Frontex-Mitar­bei­terin auf die Frage nach „Ille­galer Migration”:

„In der Region [hat sich] eine Schmugg­ler­ak­ti­vität etabliert. Diese Personen gehen hohe Risiken ein, um der Fest­nahme durch die Sicher­heits­kräfte zu entkommen, und bringen dabei alle Betei­ligten in Gefahr. Es kam deshalb zu mehreren Unfällen mit Verletzten – und sogar zu einem Todesfall.”

Das Ausmass der Gewalt

„Illegal”. Dieses Wort wird in den Berichten infla­tionär gebraucht – zur Beschrei­bung mutmass­li­cher Schmuggler*innen, aber auch für Menschen auf der Flucht, die mangels legaler Alter­na­tiven eine Grenze ohne gültige Papiere über­queren. Nicht verwendet wird der Begriff dafür, wie die lokalen Behörden – Grenz­wächter, Poli­zi­stinnen, Soldaten – mit den Geflüch­teten umgehen. Von Grund­rechts­ver­stössen oder nur schon entspre­chenden Bedenken ist nirgends die Rede.

Das erstaunt. Denn ab März 2020 stieg in der Evros-Region die Zahl soge­nannter „Push­backs” massiv an. Das bedeutet, dass Flüch­tende ohne Möglich­keit auf ein Asyl­ge­such in Dritt­staaten wie die Türkei zurück­ge­drängt werden. Das ist illegal: Die Euro­päi­sche Menschen­rechts­kon­ven­tion garan­tiert jeder Person das Recht, einen Asyl­an­trag zu stellen. Und es verstösst gegen das völker­recht­liche Non-Refou­le­ment-Prinzip, das Rück­wei­sungen verbietet, wenn Menschen dadurch Verfol­gung, Folter oder unmensch­liche Behand­lung droht.

„Die mili­tä­ri­sche und tech­no­lo­gi­sche Aufrü­stung der Grenze hat es den grie­chi­schen Einsatz­kräften erleich­tert, Flüch­tende aufzu­spüren und zurückzuschieben.”

Lena Kara­ma­nidou, Migra­ti­ons­for­scherin beim BVMN

Im April, Mai und Juni 2020 doku­men­tierte das Border Violence Moni­to­ring Network (BVMN) Push­backs durch grie­chi­sche Einsatz­kräfte von rund 840 Menschen, teils unter Anwen­dung massiver Gewalt. Berichte spre­chen von Elek­tro­schocks, Schlag­stöcken, Schuss­waffen – und Menschen, die gefes­selt in den Evros geworfen wurden. Eine Person schil­derte BVMN das Erlebte später so:

„Zwei unifor­mierte Poli­zi­sten und ein ‘Komman­do­soldat’ (mit einer Skimaske) brachten die Geflüch­teten einzeln in einen Raum. Unab­hängig davon, ob es sich um Männer oder Frauen handelte, schlugen sie sie brutal, bevor sie sie in einen dunkel­grünen Tarn-LKW luden. […] Die Poli­zi­sten zogen ihnen die Klei­dung aus und liessen sie nackt zurück. Der [von BVMN] Befragte [ein Geflüch­teter] wurde schwer an seinem Ober­körper, seinen Armen, Knien und seinem Kopf geschlagen. In seinem Fall war es vor allem ein ‘Komman­do­soldat’, der mit zwei unifor­mierten Beamten zusam­men­ar­bei­tete. Neben diesen dreien waren etwa 20 Poli­zi­sten und anderes Personal in der Haft­an­stalt anwe­send. Der Befragte sagt, dass alle Grie­chisch spra­chen und einige auch Türkisch. Der Zugang zu Toiletten, Wasser und Essen wurde während der gesamten Zeit verwei­gert. Nach acht Stunden in Haft brachte der Mili­tär­last­wagen sie zum Evros-Fluss. Die Fahrt dauerte etwa 30 Minuten. Sie schlugen sie erneut und fesselten sie mit Kabel­bin­dern. Mit gefes­selten Händen wurden sie ins Wasser des Evros-Flusses geworfen. Der Befragte und einige andere konnten nicht schwimmen; andere Geflüch­tete halfen ihnen, sich über Wasser zu halten. Dies geschah gegen Sonnen­un­ter­gang, etwa um 21 Uhr am 21. Juni 2020.”

„2020 und 2021 waren Jahre mit schwer­sten Menschen­rechts­ver­let­zungen”, sagt Lena Kara­ma­nidou, Migra­ti­ons­for­scherin beim BVMN. Die mili­tä­ri­sche und tech­no­lo­gi­sche Aufrü­stung der Grenze hätte es den grie­chi­schen Einsatz­kräften erleich­tert, Flüch­tende aufzu­spüren und zurück­zu­schieben, so die lang­jäh­rige Frontex-Expertin.

Allein in diesen beiden Jahren haben die grie­chi­schen Behörden laut einer Recherche des grie­chi­schen Inve­sti­ga­tiv­kol­lek­tivs Solomon jeweils etwa 7000 Menschen völker­rechts­widrig in die Türkei zurück­ge­schoben – ein bisher uner­reichter Höchst­stand. Die Recher­che­agentur Forensic Archi­tec­ture doku­men­tierte in einer inter­ak­tiven Karte zudem über sechzig Fälle, in denen Gruppen von Asyl­su­chenden auf kleinen Inseln im Grenz­fluss stran­deten und dort zum Teil von türki­schen sowie auch von grie­chi­schen Sicher­heits­kräften ange­griffen wurden. Viele sassen Tage oder teil­weise Wochen auf den Inseln fest, ohne Nahrung oder medi­zi­ni­sche Versorgung.

Die 900 Seiten Einsatz­be­richte stammen von Schweizer Beamt*innen, die in den Jahren 2020 und 2021 für Frontex in Grie­chen­land, Bulga­rien und Kroa­tien im Aussen­ein­satz standen. Das Recher­che­team hat diese Länder ausge­wählt, weil dort in dieser Zeit beson­ders viele Grund­rechts­ver­let­zungen doku­men­tiert sind. Die Doku­mente erlauben erst­malig einen Einblick, was das Schweizer Personal im Frontex-Einsatz genau macht. Wir haben uns für die Analyse auf die grie­chi­sche Evros-Region konzentriert.

Einsatz­be­richte 2020
Einsatz­be­richte 2021

Auch Unter­su­chungen von offi­zi­eller Seite bestä­tigten die Verbre­chen in der Evros-Region, und das Frontex-interne Grund­rechts­büro wurde aktiv. Bereits 2019 empfahl es, die Evros-Mission abzu­bre­chen, falls weiterhin Menschen­rechts­ver­stösse passierten. Nach einem Besuch am Evros im April 2021 monierte das Büro, dass Grund­rechts­ver­stösse dem Frontex-Rechen­schafts­sy­stem durch die Lappen gingen.

Wie wenig sich seither verän­dert hat, zeigt ein aktu­eller Bericht des Euro­pa­rats. Alleine 2024 wurden 248 Push­backs aus Grie­chen­land mit minde­stens 4229 Betrof­fenen gezählt. Der Bericht fordert Grie­chen­land auf, diese Praxis umge­hend zu beenden.

Die Schweizer Frontex-Beamt*innen bekamen von der Gewalt an der Grenze offenbar nichts mit. Weder 2020 und 2021, noch in den Jahren danach.

Wie kann das sein? Wie ist es möglich, dass Schweizer Grenzbeamt*innen über Jahre hinweg in einer Region im Einsatz sind, in der wieder­holt Menschen­rechts­ver­let­zungen doku­men­tiert werden – ohne diese in ihren Berichten zu erwähnen?

Das BAZG verweist auf einen Bericht des Frontex-Grund­rechts­büros: Dieses nennt die begrenzte Präsenz der Agentur an bestimmten Orten als Grund, warum Grund­rechts­ver­let­zungen nicht systematisch gemeldet würden. Gerne hätten wir darüber direkt mit einer Person gespro­chen, die für die Schweiz im Frontex-Einsatz war. Das lehnte das Bundesamt jedoch ab.

Keine Verstösse dokumentiert

Liest man die Einsatz­be­richte der Schweizer Frontex-Mitar­bei­tenden, fällt auf: Sie sind sowohl direkt als auch indi­rekt daran betei­ligt, Menschen am Grenz­über­tritt zu hindern. Auf Patrouille mit lokalen Einsatz­kräften greifen sie von ihnen als „Migrant*innen” iden­ti­fi­zierte Personen auf und über­geben sie den lokalen Sicher­heits­kräften – am Evros, aber beispiels­weise auch an der nord­ma­ze­do­ni­schen Grenze oder im kroa­tisch-bosni­schen Grenz­ge­biet. Noch öfter schil­dern sie in den Einsatz­be­richten aber, wie sie Gruppen von Menschen beob­achten und den lokalen Behörden melden, die dann über­nehmen. So etwa im folgenden Fall:

„Am 27.02.2021 um 21.10 Uhr, auf dem Weg vom Hotel zur BCU [Border Control Unit] von [geschwärzt], sahen wir […] am Stras­sen­rand in der Gegen­rich­tung drei oder vier Personen – sie wirkten wie Migranten und trugen Taschen und Ruck­säcke. Wir infor­mierten unseren grie­chi­schen Kollegen, der hinten im Auto sass und nichts gesehen hatte. Er reagierte nicht mit einer Kontrolle, sondern sagte, wir sollten weiter­fahren, da die Polizei von [geschwärzt] für solche Kontrollen zuständig sei. [...] Später fragte ich unseren grie­chi­schen Kollegen, was mit diesen Personen passiert sei; er sagte, die Polizei von [geschwärzt] habe sie mitge­nommen. Wir haben den Vorfall mit FTSO [Frontex Tactical Support Officer] bespro­chen und warten nun auf eine Rückmeldung.”

Was mit den aufge­grif­fenen Personen geschieht, bleibt unklar – nicht nur in diesem Fall, sondern in fast allen doku­men­tierten Situa­tionen. Nur verein­zelt notieren Schweizer Beamt*innen, bei den lokalen Behörden über­haupt nach­ge­fragt zu haben. Und nur eine einzige Person, eine Grenz­wäch­terin, die im Sommer 2020 in der Evros-Region im Einsatz war, thema­ti­siert den Mangel an Infor­ma­tionen offen: 

„Wir brau­chen mehr Rück­mel­dungen darüber, was während unseres Einsatzes passiert. Beim Debrie­fing wurde uns zum Beispiel mitge­teilt, dass 103 irre­gu­läre Migranten fest­ge­nommen wurden – vorher hatten wir keinerlei Infor­ma­tionen darüber.”

Ein Schweizer Beamter, der von der Situa­tion an der Grenze zwischen Kroa­tien und Bosnien-Herze­go­wina berichtet, spricht zwar als einziger explizit von Push­backs, distan­ziert sich jedoch von einer Mitverantwortung: 

„Grosse Probleme mit Migranten an der grünen Grenze (wurde auch in den Medien berichtet). Sie kommen über die Balkan­route aus Bosnien-Herze­go­wina und wollen nach Europa weiter­reisen. Frontex-Beamte sind in diesen Fällen nicht betei­ligt (Push­backs).”

In der Vergan­gen­heit wurde unter anderem aus dem EU-Parla­ment der Vorwurf laut, dass Grie­chen­land Frontex-Teams gezielt aus beson­ders sensi­blen Einsatz­orten fern­halten würde, um zu verhin­dern, dass diese Zeugen von Push­backs wird. Das könnte auch erklären, warum gewisse Schweizer Frontex-Beamt*innen gemäss ihren Berichten nach März 2020 bei ihren mehr­wö­chigen Einsätzen teil­weise „keinen Migrant*innen” begegnen – und entspre­chend kaum etwas beob­achtet haben.

Welche Hand­lungs­mög­lich­keiten haben die Frontex-Einsatz­kräfte überhaupt?

Frontex wie auch die Schweizer Behörden betonen immer wieder, dass nur eine Präsenz vor Ort zur Verbes­se­rung der Situa­tion beitragen könne – etwa, um rechts­wid­rige Rück­wei­sungen zu verhin­dern. Doch wie ist das möglich, wenn scheinbar keine Verstösse doku­men­tiert werden? Und: Welche Hand­lungs­mög­lich­keiten haben die Frontex-Einsatz­kräfte überhaupt?

Das BAZG teilt auf Anfrage mit, dass die Schweizer Einsatz­kräfte allfäl­lige Grund­rechts­ver­let­zungen sowohl über den Frontex-internen Melde­me­cha­nismus als auch direkt ans Bundesamt melden müssen. Kurz vor Redak­ti­ons­schluss bestä­tigte die Behörde, dass in jüngerer Zeit solche Meldungen einge­gangen sind. Details gibt das BAZG aber nicht bekannt. Und sagt: Weitere Ermitt­lungen gehören nicht zur Aufgabe der Schweizer „Grenz­schutz­ex­perten”.

Die Kompe­tenzen der Schweizer Grenzschutzbeamt*innen sind begrenzt. „Das Frontex-Personal nimmt seine Aufgaben und Befug­nisse nur auf Anwei­sung und in der Regel in Anwe­sen­heit des Grenz­schutz­per­so­nals des Einsatz­landes wahr”. In anderen Worten: Sie unter­stehen dem Kommando der lokalen Behörden, ihr Hand­lungs­spiel­raum ist beschränkt.

Das zeigte sich exem­pla­risch in den Fällen, in denen Geflüch­tete auf kleinen Inseln im Grenz­fluss fest­sassen. Frontex wusste darüber Bescheid, leitete die Infor­ma­tionen an die grie­chi­schen Grenz­schutz­be­hörden weiter und bot in Einzel­fällen sogar an, selbst einzu­greifen – was von grie­chi­scher Seite jedoch abge­lehnt wurde. Fast alle dieser Fälle endeten in Pushbacks.

Genau darin sieht Migra­ti­ons­for­scherin Lena Kara­ma­nidou ein grund­le­gendes Problem. Frontex liefere die Über­wa­chungs­tech­no­logie und Infor­ma­tionen, die natio­nalen Behörden dabei helfe, völker­rechts­wid­rige Einsätze durch­zu­führen – ohne dass Frontex selbst unmit­telbar eingreift.

Der Druck steigt

Welche Verant­wor­tung trägt die Schweiz, wenn sie Grenzbeamt*innen in Regionen entsendet, in denen systematisch Menschen­rechte verletzt werden? Die Analyse der internen Einsatz­be­richte zeigt erst­mals: Schweizer Frontex-Personal liefert den lokalen Behörden Infor­ma­tionen, die poten­ziell Push­backs auslösen können. Und: Obwohl solche ille­galen Rück­wei­sungen in ihrem Einsatz­ge­biet hundert­fach passieren, bekommen die Frontex-Mitar­bei­tenden aus der Schweiz davon offenbar nichts mit.

Trotzdem hält der Bund an den Einsätzen fest – auch in der Evros-Region, wo der Euro­päi­sche Gerichtshof für Menschen­rechte (EGMR) Anfang 2025 fest­stellte, dass dort in der Vergan­gen­heit eine „syste­ma­ti­sche Praxis der Push­backs” herrschte. Er entsandte zwischen 2022 und 2024 erneut 10 Schweizer Beamt*innen in den Einsatz in der Region.

Doch der Druck steigt. Das Frontex-Grund­rechts­büro stellte wieder­holt einen Rückzug aus Grie­chen­land zur Debatte. Selbst Frontex-Direktor Hans Leij­tens kriti­sierte öffent­lich die mangelnde Koope­ra­tion Athens.

Das BAZG stellt sich weiter auf den Stand­punkt, dass es nicht ziel­füh­rend sei, Einsätze in bestimmten Staaten zu suspen­dieren. Zudem entsende die Schweiz einen Grund­rechts­spe­zia­li­sten zur Unter­stüt­zung des Grund­rechts­büros – und setze sich im Verwal­tungsrat für die lücken­lose Aufar­bei­tung von Grund­rechts­ver­let­zungen ein.

Ist das Schweizer Enga­ge­ment für Grund­rechte ein Lippenbekenntnis?

„Das reicht nicht”, findet Balthasar Glättli. Der Grünen-Natio­nalrat sprach sich 2022 im Abstim­mungs­kampf gegen eine stär­kere Betei­li­gung an Frontex aus. Nun fordert er: Wo das Grund­rechts­büro dies empfehle, solle die Schweiz sofort jegli­ches Personal abziehen. „Wenn der Grund­rechts­be­auf­tragte fest­stellt, dass es ein Problem gibt, sollten wir keine Beamt*innen mehr hinschicken – sondern Beobachter*innen”, so Glättli.

Das wäre nicht nur poli­tisch konse­quent, sondern hätte auch eine recht­liche Grund­lage in der Frontex-Verord­nung: Artikel 46 erlaubt den Abbruch von Missionen bei syste­ma­ti­schen Menschen­rechts­ver­let­zungen. Bisher wurde er nur einmal ange­wandt – 2021 in Ungarn, als direkte Folge eines EGMR-Urteils gegen das Land wegen syste­ma­ti­schen Push­backs. Genau diese Situa­tion gibt es bei Grie­chen­land heute. 

Doch während die Schweiz stets die Bedeu­tung des Frontex-Grund­rechts­büros betont, hat sie dessen Empfeh­lung zur Anwen­dung von Artikel 46 im Fall von Grie­chen­land bislang nicht unterstützt. 

Ist das Schweizer Enga­ge­ment für Grund­rechte damit ein Lippenbekenntnis?Ja, meint Glättli: „Warum schicken wir jemanden ins Grund­rechts­büro, wenn wir dann nicht umsetzen, was dieses empfiehlt?” Das Vorgehen sei die „reinste Scha­rade”, sagt er – und kündigt für die kommende Session einen parla­men­ta­ri­schen Vorstoss an, um die Schweiz zu einer glaub­wür­di­geren Menschen­rechts­po­litik zu verpflichten.

Doch auch das würde ein grund­le­gendes Problem nicht lösen: Die Rechen­schafts­me­cha­nismen von Frontex – darunter auch das Grund­rechts­büro – sind alle interner Natur und haben keine bindenden Kompe­tenzen. „Sie dienen als Feigen­blatt einer Rechen­schafts­pflicht, die es faktisch nicht gibt”, sagt Migra­ti­ons­for­scherin Lena Karamanidou.

Um daran etwas zu ändern, bräuchte es tief­grei­fende, struk­tu­relle Reformen bei Frontex: „Doch solange Staaten wie die Schweiz wegsehen und sich trotzdem betei­ligen, tragen sie Mitver­ant­wor­tung für die Zustände, die dadurch fort­be­stehen”, so Karamanidou.

Diese Recherche wurde durch zweck­ge­bun­dene Beiträge vom Euro­päi­schen Bürger*innen Forum (EBF) und Soli­da­rité sans fron­tières (SOSF) unter­stützt. Die Unter­stüt­zung ermög­lichte die Auswer­tung von den über 1000 Seiten Doku­menten, die via Öffent­lich­keits­prinzip offen­ge­legt werden konnten. Die Arti­kel­serie wurde redak­tio­nell unab­hängig nach jour­na­li­sti­schen Stan­dards produ­ziert. Jegliche Einfluss­nahme auf den redak­tio­nellen Prozess ist laut Verein­ba­rung ausge­schlossen. Die Recherche wie auch die redak­tio­nelle Umset­zung erfolgte in Zusam­men­ar­beit zwischen dem WAV Recher­che­kol­lektiv und das Lamm.

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