«Neun Monate im Gefängnis – nur weil ich keine gültigen Papiere hatte»

Abge­wie­sene Asyl­su­chende werden aufgrund ihres Aufent­halts­status tagtäg­lich von der Polizei kontrol­liert, bestraft und inhaf­tiert. Zwei Betrof­fene berichten von der Gewalt, die sie erleben, und ihrem Leben zwischen Gefängnis und Rückkehrzentrum. 
Wegen ihres Aufenthaltsstatus gelten manche Menschen als illegal und können jederzeit inhaftiert werden. (Illustration: Alain Schwerzmann)

Abge­wie­sene Asyl­su­chende landen aus unter­schied­li­chen Gründen im Gefängnis. Einige werden bestraft, weil ihnen die tägli­chen 10.50 Franken nicht zum Über­leben reichen und sie in unab­ge­schlos­senen Autos nach Münz­geld suchen oder im Super­markt Essen und Bier stehlen. Andere fahren ohne ÖV-Billet, weil die Fahr­preise für sie nicht bezahlbar sind. Die Verkehrs­un­ter­nehmen stellen Straf­an­zeige und weil die abge­wie­senen Asyl­su­chenden kein Geld haben, müssen sie die Geld­strafe im Gefängnis absitzen.

Was alle abge­wie­senen Asyl­su­chenden gemeinsam haben: Wegen des Dauer­de­likts des ille­galen Aufent­halts verfolgt sie die Polizei ständig und die Staats­an­walt­schaften bestrafen sie mit hohen Geld­strafen oder bis zu einem Jahr Haft. 

Allein im Jahr 2024 hat die Schweiz 11’700 Personen ohne gültigen Aufent­halts­status wegen ille­galem Aufent­halt verurteilt.

Zudem werden abge­wie­sene Asyl­su­chende bis zu 18 Monaten im Ausschaf­fungs­ge­fängnis admi­ni­strativ inhaf­tiert –  ohne, dass sie je eine Straftat begangen haben. Auch kann das Migra­ti­onsamt ihre Bewe­gungs­frei­heit durch soge­nannte Eingren­zungen auf eine Gemeinde oder einen Bezirk stark einschränken.

Abdi Maxamed und Mabrouk Merabet, die in Wirk­lich­keit anders heissen, leben beide im Rück­kehr­zen­trum (RKZ) Urdorf und berichten über erschreckende Poli­zei­ge­walt und zermür­bende Gefängnis- und Klinikaufenthalte. 

Dieser Beitrag ist Teil der Reihe «Stimmen aus den Camps».

Abdi Maxamed

Mit sech­zehn habe ich in der Schweiz Asyl bean­tragt. Nun lebe ich seit neun Jahren hier, vier davon im RKZ Urdorf. In dieser Zeit war ich oft im Gefängnis, doch nichts war so schlimm wie meine Inhaf­tie­rung im Berner Regio­nal­ge­fängnis. Dort behan­delten sie mich absicht­lich schlecht – weil ich ein Schwarzer Mann bin, ein Ausländer ohne Papiere. 

Das soge­nannte Rück­kehr­zen­trum (RKZ) Urdorf ist eines der vier Nothilfe­camps im Kanton Zürich. Es ist ein alter Zivil­schutz­bunker am Wald­rand von Urdorf, umgeben von einem Poli­zei­stütz­punkt, einer Auto­bahn, einem Schiess­platz und einer Weih­nachts­baum-Plan­tage. Im Bunker sind 10 bis 30 allein­ste­hende Männer auf unbe­stimmte Zeit unter­ge­bracht. Brum­mende Lüftungs­an­lagen rauben den Menschen den Schlaf, frische Luft bringen sie jedoch nicht. Je sechs Männer teilen sich ein kleines Zimmer. Privat­sphäre gibt es keine, Schlä­ge­reien dafür viele. 

Unter­ge­bracht würden hier nur «straf­fällig gewor­dene» abge­wie­sene Asyl­su­chende, behauptet der Zürcher Regie­rungsrat Mario Fehr wieder­holt. Die Biogra­fien der Bewoh­nenden beweisen jedoch das Gegen­teil, immer wieder sind Asyl­su­chende über Jahre im Bunker, ohne jemals eine Straftat begangen zu haben. Trotzdem hat der Bunker in Urdorf eine Diszi­pli­nie­rungs­rolle inner­halb des Camp­sy­stems. Wer in einem anderen Camp Stress macht oder ein Haus­verbot kassiert, wird nach Urdorf unter die Erde verlegt.

Eine Über­sichts­karte zu allen Camps im Kanton Zürich findest du hier. 

Im Regio­nal­ge­fängnis sass ich in einer Einzel­zelle. Jeden Morgen durfte ich um sieben Uhr für eine Stunde allein im Gefäng­nishof spazieren. Die Zelle hatte kein Fenster, keine frische Luft. Ich wurde für etwas beschul­digt, dass ich nie getan habe. Bis zum Schluss wusste ich nicht, wie lange ich in Unter­su­chungs­haft sitzen werde. Insge­samt lebte ich so fast sechs Monate in völliger Isolation. 

Irgend­wann hielt ich es nicht mehr aus. Ich hörte Stimmen in meinem Kopf, zerstörte die Toilette und den Fern­seher in meiner Zelle. Daraufhin sperrten mich die Wärter in die Bunkerzelle. 

Dort gab es nichts: keine Decke, kein rich­tiges Bett, keine rich­tige Toilette. Eine Kamera über­wachte mich rund um die Uhr. Nach einer Woche brachten sie mich in die psych­ia­tri­sche Klinik. Dort lag ich in einem Einzel­zimmer mit einem kleinen Bett und einer dünnen Decke, aber auch hier gab es kein Fenster. 

Eines Tages kamen mehrere Personen in mein Zimmer. Ein Mann drückte sein Knie auf meinen Hals, eine Person setzte sich auf meinen Fuss, eine andere hielt meinen zweiten Fuss und meine Hand fest. Dann spritzten sie mir zwei Injek­tionen in den Ober­schenkel. Zwei Tage später wieder­holten sie das Gleiche. 

Zehn Tage lang fühlte ich mich wie gelähmt. Ich konnte mich nicht bewegen, meinen Körper nicht spüren. Laufen, sitzen, schlafen – nichts ging mehr. Ich lag einfach da, völlig erschöpft. 

Man sagte mir, ich müsse so ausharren, bis der Arzt käme. Einein­halb Wochen wartete ich, bis er endlich kam. Der Arzt versprach, mir keine Spritzen mehr zu geben und brachte mich in ein anderes Zimmer mit einem normalen Bett. Dort durfte ich zwei Stunden am Tag mit anderen Pati­enten sprechen.

Der Arzt half mir und gab mir Medi­ka­mente, darunter Queti­apin. Fast zwei Monate blieb ich in der Klinik. Doch auch sie fühlte sich an wie ein Gefängnis. Danach brachten sie mich zurück ins Berner Regio­nal­ge­fängnis, in dieselbe Zelle ohne Fenster. 

Queti­apin ist ein Neuro­lep­tikum, das bei der Behand­lung von Schi­zo­phrenie und manisch-depres­siven Episoden zum Einsatz kommt, aber auch als «Stim­mungs­sta­bi­li­sator» und als Schlaf­mittel verwendet wird. Im Schweizer Gefäng­nis­re­gime ist Queti­apin beliebt, um die vielen Inhaf­tierten ruhig zu stellen, die depressiv sind und nicht schlafen können. Über die gesund­heit­liche und psych­ia­tri­sche Versor­gung in den Schweizer Gefäng­nissen berich­teten das Recher­che­kol­lektiv WAV und Reflekt in Zusam­men­ar­beit mit der WOZ ausführ­lich in ihrem «Gefän­gis­re­port».

Später stellte sich heraus, dass die Vorwürfe gegen mich falsch waren. Der Staat musste mir eine Entschä­di­gung für meine Zeit in Haft zahlen. Doch das Geld bringt mir meine Gesund­heit nicht zurück. Ich höre noch immer Stimmen, schlafe kaum und bin auf Medi­ka­mente ange­wiesen. Ich bin nicht mehr derselbe.

Die Polizei verfolgt mich weiterhin, denn bei jeder Poli­zei­kon­trolle kann ich für meinen «ille­galen» Aufent­halt bestraft werden. Zuletzt nahmen sie mich am Berner Haupt­bahnhof fest. Ein Poli­zist sagte: «Das ist mein Land, was machst du hier?» Dann sperrte er mich für acht Stunden in eine kleine Zelle – ohne Bett und ohne Decke und verwei­gerte mir, auf die Toilette zu gehen. Es gibt Polizist*innen, die sich normal verhalten, aber dieser war ein Rassist. 

Auch in Zürich kontrol­lieren mich Polizist*innen ständig. Oft wollen sie mich gleich mitnehmen. Wenn ich sage, dass ich zuerst mit ihnen reden möchte, schlagen sie mich plötz­lich. Liege ich am Boden, treten sie auf mich ein. Es kümmert sie nicht, ob sie mich verletzen. Ich bin ihnen ausgeliefert. 

Aufge­zeichnet am 7. Februar 2025

Mabrouk Merabet

Nach einer Schlä­gerei landete ich für drei Jahre und sechs Monate im Gefängnis. Dort war das Leben im Vergleich zum Rück­kehr­zen­trum erträg­lich. Es gab Fenster, die frische Luft brachten. Ich konnte arbeiten, bekam Essen und – wenn auch mangel­hafte – ärzt­liche Betreuung. Im Camp herrscht dagegen stän­diger Stress: Auf engstem Raum ohne Privat­sphäre will der eine Drogen, der andere schlafen, ein dritter hört laut Musik und trinkt Alkohol. Wie soll man hier leben? 

Im Gefängnis wusste ich, warum ich dort war. Aber warum bin ich hier im Camp? Es ist schlimmer als im Gefängnis, obwohl ich nichts getan habe. Dieser Ort ist wie ein Grab, in das man uns legt – das Leben endet hier. 

Das Leben im Camp ist trostlos. Ich schlafe den ganzen Tag und fühle mich inner­lich leer. Nach Jahren im Gefängnis wurde ich hierher abge­schoben. Mehr­mals pro Woche kommt die Polizei, durch­sucht unsere Sachen und nimmt uns ohne Grund fest. Nach der letzten Kontrolle erhielt ich eine Eingren­zung, weil ich «illegal» bin und nicht frei­willig nach Alge­rien gehe. Seitdem darf ich die Gemeinde Urdorf nicht mehr verlassen – ich bin hier gefangen. 

Alle paar Tage taucht die Polizei im Rück­kehr­zen­trum Urdorf auf und durch­sucht die Bewohner bis auf die Unter­hose. Danach erhalten einige von ihnen einen Straf­be­fehl. Das Delikt: rechts­wid­riger Aufent­halt mit einer Strafe von bis zu einem Jahr Haft. Correctiv und das Lamm haben die Straf­be­fehle der Bewohner gesichtet und die Praxis dahinter beleuchtet – eine Praxis der Schi­kane, die nur funk­tio­niert, solange niemand hinsieht. In der bald bei das Lamm erschei­nenden mehr­tei­ligen Recherche „Zwischen Gefängnis und Nothilfe“ gehen wir den Hinter­gründen der absurden Repres­sion gegen abge­wie­sene Asyl­su­chende auf die Spur.

Seit meiner Ankunft in der Schweiz habe ich schlechte Erfah­rungen mit der Polizei gemacht. Eine davon bela­stet mich bis heute beson­ders. Nach einer Schlä­gerei im Bundes­asyl­zen­trum brachte man mich mit Verdacht auf ein Schädel-Hirn-Trauma ins Unispital. Dort kam ich ins Gefäng­nis­zimmer, ständig bewacht von mehreren Poli­zi­sten. Am Nach­mittag erschienen fünf weitere Beamte, die auf Deutsch mit mir spra­chen – eine Sprache, die ich nicht verstehe. Sie ketteten meine linke Hand und meinen rechten Fuss ans Bett. Ich begriff nicht, warum. 

Aus Protest verwei­gerte ich am Abend die Medi­ka­mente und riss die Infu­sion aus meinem Arm. Es ging mir sehr schlecht, und in meiner Verzweif­lung versuchte ich, mich mit einem Elek­tro­kabel zu stran­gu­lieren. Die beiden Poli­zi­sten im Zimmer stürmten auf mich zu, um mich daran zu hindern. Einer hielt mein Bein fest, der andere schlug mir mit der Faust mehr­mals ins Gesicht, bis ich aus Nase und Mund blutete. 

Eine Pfle­gerin, die die Geräu­sche vom Gang aus hörte, griff ein. Sie befahl den Poli­zi­sten, mich nur fest­zu­halten, und entfernte das Kabel von meinem Hals. Kaum war ich frei, sprang ich auf und griff nach der Urin­fla­sche auf dem Nacht­tisch. Die Poli­zi­sten und die Pfle­gerin flohen aus dem Zimmer, doch ich traf den Poli­zi­sten, der mich geschlagen hatte, mit der Flasche Urin. Leider spritzte etwas Urin auch auf die Pfle­gerin, was mir sehr leidtut. 

Später zeigte ich den Poli­zi­sten an, der mich ins Gesicht geschlagen hatte. Dank der Aussage der Pfle­gerin erkannte die Staats­an­walt­schaft die Tat an, doch konnte nicht fest­stellen, dass der Poli­zist mir vorsätz­lich ins Gesicht schlug. Ich legte Beru­fung ein, doch das Verfahren wurde nichts­de­sto­trotz einge­stellt – der Poli­zist wurde bis heute nicht für die Gewalt verur­teilt, die er mir antat. 

Wegen dieser Miss­hand­lung durch die Schweizer Polizei weigerte sich Alge­rien, während des laufenden Gerichts­ver­fah­rens ein Reise­do­ku­ment für meine Ausschaf­fung auszustellen. 

Obwohl meine Abschie­bung ohne dieses Doku­ment unmög­lich war, verbrachte ich in dieser Zeit insge­samt neun Monate in Ausschaffungshaft. 

Neun Monate im Gefängnis – für nichts, nur weil ich keine gültigen Papiere hatte.

Für die Ausschaf­fung von Asyl­su­chenden braucht der Schweizer Staat eine Einwil­li­gung des Herkunfts­staates. Dieser muss ein tempo­räres Reise­do­ku­ment (Laissez-Passer) ausstellen, damit die Schweiz einen Flug buchen kann. Die Zustim­mung des Herkunfts­staates wird oft mit soge­nannten Rück­über­nahme-Abkommen geregelt. 

Die Schweiz erkauft sich die Zustim­mung der Länder mit Geld, Entwick­lungs­hilfe oder Handels­ab­kommen, doch nicht alle Staaten machen bei den brutalen Zwangs­aus­schaf­fungen mit. So verwei­gert Marokko, abge­wie­sene Asyl­su­chende zurück­zu­nehmen, die gefes­selt in einem Sonder­flug ausge­schafft werden. Das Staats­se­kre­ta­riat für Migra­tion (SEM) bleibt bei der Gewalt ihrer Ausschaf­fungen kreativ und brachte im Fall von Marokko die abge­wiesen Asyl­su­chenden gefes­selt in einem Linien-Schiff nach Marokko.

Aufge­zeichnet am 7. Februar 2025


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