Jessica hat eine neue Frisur. 120 Likes. Nicole ist am Strand im Bikini. 80 Likes. Daniel ärgert sich über die AfD. 10 Likes. Julia ist jetzt Feministin. 200 Likes. Lukas postet ein Foto von seinem Chiasamenpudding. 75 Likes. Sebastian macht sich über Donald Trump lustig. 35 Likes. Anna ist in der 20. Woche schwanger und postet ihr neustes Ultraschallbild #babylove #lovemylife #timeofmylife #welcomesunshine #OMG. 350 Likes.
Channel 4 postet ein Video aus einem Krankenhaus in Aleppo. 57’598’720 Aufrufe. Ich klicke es an und schaue es mit Ton. Ohne Ton wäre es rückblickend vielleicht erträglicher gewesen. Ein Junge trägt seinen toten Bruder, eingewickelt in ein Tuch, in den Armen. Er wurde gerade einmal vier Wochen alt. Dann tröstet der Junge seine Mutter, die bitterlich weint. Sie schiebt ihren Körper durch das Krankenhaus. Ihre Nase blutet, was sie gar nicht bemerkt. Sie klagt an. Sie ist eine gebrochene Frau.
Wenn die Kinder vor den Eltern sterben, gerät alles aus dem Takt. Der Krieg hat die Rollen vertauscht. Zwei andere Kinder suchen ihre Mutter. Keine Tränen, kein Geschrei, kein Wimmern. Gar nichts. Ihre Blicke sind leer. Was sie gesehen haben, kann ich nur erahnen. Die Gesichter der Menschen in Aleppo sind grau-weiss vom Staub. Das Blut läuft ihnen übers Gesicht. Ihre Lippen sind rissig und vom Blut vollgesogen. Als wären sie zu unheimlichen Clowns geschminkt worden. „Aleppo ist ein Ort, wo die Kinder aufgehört haben zu weinen“, steht unter dem Video. Ich schaue es dreimal hintereinander. Erst unter dem Video lese ich dann: „Warnung — Verstörende Bilder in diesem Beitrag“.
https://www.facebook.com/photo.php?fbid=1812675318972205&set=a.1386198644953210.1073741825.100006892632883&type=3&theater
SMS von Dimitri: „Nora, das war ne mega krasse Party gestern. Bombenstimmung. Du hast wirklich was verpasst.“ Und ich denke: Geht eigentlich irgendwie nicht. Bombenstimmung. Blöd natürlich, wenn man weiss, dass man was verpasst hat. Doppelt blöd, wenn der Dimitri dann gleich eine SMS hinterher schickt: „Nora, das tut mir voll leid, ich wusste gar nicht, dass dich niemand eingeladen hat.“ Ich schicke ihm das Video von Channel 4 weiter. Und schicke auch gleich eine SMS hinterher: „Hier ist auch Bombenstimmung.“ Ja, ich bin überspannt, wütend, hilflos und verzweifelt. Nicht wegen der Party. Nicht weil man mich vergessen hat. Nein. Sondern weil ich wirklich nicht weiss, wie man denn in dieser tiefen Zerrissenheit nicht verrückt wird. Seit Wochen mache ich den Spagat zwischen Katzenvideos und Bildern von entwurzelten, verstörten und verzweifelten Menschen.
Ich melde mich bei Facebook ab und stehe vor meinen Kleiderschrank. Ich sortiere Pullis aus, die ich doch nie wirklich trage. Schwarze Hosen hab ich vier Paar und lege drei davon raus. Schuhe. Es fehlt doch immer an Schuhen. Männerschuhe werden gebraucht. Hab ich aber keine. Ich rufe Dimitri an, der verkatert ins Telefon stöhnt: Zu viel Gin, einfach viel zu viel Gin auf der Party gestern. „Wie viele deiner Turnschuhe trägst du wirklich, Dimitri? Die schwarzen und die roten, oder?“ Er widerspricht mir nicht. Und er hat immer noch ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht auf die Party eingeladen wurde. „Nora, gib mir 30 Minuten. Ich bringe dir Schuhe vorbei.“ — „Hast du vielleicht auch noch eine alte Winterjacke oder Jeans oder Pullis?“ Dimitri lacht und legt auf.
Eine Stunde später steht der verkaterte Lastesel in meiner Wohnung. Auf dem Boden im Wohnzimmer sortieren wir die Kleider. „Nora, das ist deine einzige warme Winterjacke, nicht?“ Ach egal, ich lege meine Daunenjacke zu den anderen Kleidern. „Das hilft doch niemandem, wenn du selber frierst.“ Ich verdrehe die Augen. „Nora, wir sitzen doch alle im gleichen Boot und wissen nicht recht, was wir von hier aus tun können.“ Das geht auch irgendwie gar nicht: Im gleichen Boot sitzen. Ich fauche Dimitri an, dass wir doch etwas gegen die Ohnmacht tun müssen. Dass wir etwas tun müssen, damit sich irgendetwas bewegt. Damit wir nicht erstarren vor lauter Gespaltensein. Dimitri macht ein Foto der Kleider und postet es. #withAleppo.
Und gleich der erste Kommentar: Kann man mal bitte für arme Menschen in der Schweiz Kleider sammeln oder Geld spenden? Die leben hier nämlich auch unter dem Existenzminimum.
Ich fahre Dimitri an, warum er das gepostet hat. Man könne doch auch einfach etwas tun ohne sich dann die Like-Lorbeeren fürs Ego auf Facebook abzuholen. Schon kommt der zweite Kommentar: Und was ist eigentlich mit den Tieren?
Ja, was ist eigentlich mit den Tieren? An die denkt wieder gar niemand. Die armen bedrohten Elefanten, Pandas, Haie, Meeresschildkröten, Babyrobben, Wölfe, Bären, Adler, Tiger, Löwen, Nashörner, Luchse, und Schuppentiere. Für wen soll ich denn jetzt bitte als erstes eine Patenschaft übernehmen?
Dimitri steht angelehnt im Türrahmen und fragt, ob wir auf die Strasse müssten. Dann denken wir gleichzeitig: Bringt doch eh nichts, wenn wir in der Schweiz auf die Strasse gehen. Das schiebt weder dem Putin sein Gehirn wieder an den richtigen Ort, noch werden Tote wieder lebendig. Kinder bekommen ihre Eltern nicht wieder zurück und Eltern werden nicht schneller darüber hinwegkommen, dass ihre Kinder vor ihnen gestorben sind. Ich umarme Dimitri, weine ihm dramatisch in den Pulli und wische den Rotz mit meiner Hand weg. Er zieht die Türe hinter sich ins Schloss.
Lea hat gerade einen Artikel gepostet. Eine neue Dating-App lässt Tinder alt aussehen. Es reicht offenbar nicht mehr, dass wir einen Menschen aufgrund seines Fotos nach recht oder links wischen. Nein. Da ist noch Luft nach oben. Fuck. Marry. Kill. Kurz: FMK. Da werden mir also drei Fotos von drei verschiedenen Männern gezeigt, die ich der jeweiligen Kategorie zuordnen muss. Welchen will ich ficken, welchen heiraten und welchen töten. Wenn mich ein Mann der genau gleichen Kategorie zuordnet: Match! „You can do that in a fun way“, steht auf der Seite von FMK.
Ich melde mich bei Facebook ab und bezahle dem WWF den Mindestbetrag von 300 Franken. Ich schütze ab morgen für ein Jahr das Korallendreieck in Südostasien. Dann geh ich ins Bett.
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