Er setzt sich direkt mir gegenüber ans Fenster im Viererabteil. Alt, untersetzt, einsam. Es sind gerade einmal sieben Menschen im gleichen Wagen, es gäbe also genug andere Plätze. Auch am Fenster. Obwohl aus dem Fenster zu schauen im Dunkeln eh nicht so hot ist. Gleich filetiert er mich, frisst er mich auf, denke ich. Wie furchtbar schweizerisch dieser Gedanke doch ist!
Seine Kinder haben ihm sicher sein erstes Smartphone geschenkt und er ist heillos überfordert, wie er das schicke Gerät auf der Höhe seiner Augen hält, die Arme im rechten Winkel zum Körper. Der arme Mann.
Ich erhalte eine SMS, ob ich zum Opening des 25hours-Hotel komme, da steppe der Bär und es sei ja quasi auf meinem Heimweg. Dann kommt ein unscharfes Selfie eines rührend besoffenen Freundes. Ich sage ab, schalte mein Handy in den Flugmodus.
Als ich wieder aufschaue, hält der Mann mir gegenüber sein Telefon immer noch hoch, dann quer, dabei beugt er sich zu mir nach vorne und lehnt sich wieder zurück. Er grinst ganz ekelhaft. Oha, er will mich offenbar nicht filetieren, er hat mich gefilmt! Du armer, verzweifelter, untersetzter, notgeiler Arsch, denke ich, stehe auf, flüchte in den vorderen Wagen und setze mich zu einem Mann mit sanftem Blick ins Abteil.
00:05, Bahnhof Altstetten. Ich steige aus und schaue kurz zurück. Er kommt aus der Türe hinter mir. Wo sind die auf Krawall gebürsteten Jugendlichen, wenn man sie braucht?
„Ich kenne Sie“, ruft er mir zu. Spätestens jetzt wird es ungemütlich. Ein Fan? Ein Spinner? Die Trennung ist im Kulturbetrieb immer etwas unscharf.
Ich bleibe stehen, er schliesst auf, bis er dicht vor mir steht. Stolz zeigt er mir sein verwackeltes Video. Jetzt müsste ich gehen, aber ich kann nicht. Das Blut schiesst mir in den Kopf. Meine Hände zucken. Er packt mich am linken Oberarm, hält mich mit der Sturheit eines Hundes, der sich in einem Ball festbeisst und nicht loslässt, bis er diesen zerfetzt hat. Ich balle die Faust, bis sie ganz weiss ist, hole aus und schlage ihn in den Bauch. Er schwankt, krümmt sich. Wenn er auf die Gleise fallen würde, wäre es mir ganz angenehm.
Meine Hand sei verstaucht, meint der Apotheker. Der erste, dem ich am nächsten Tag vom Vorfall erzähle. Er bringt Verbände. Rote, grüne und blaue. Toll! Wunderbar! Ich lache hysterisch. Dann muss ich mir gar kein Opfer-Schild mehr um den Hals hängen! Er hat noch einen schwarzen. Der passe gut zu meinem roten Nagellack. Der Apotheker verbindet mir die Hand. Da schnürt sich mein Hals zu, bis ich keine Luft mehr bekomme. Ich japse und weine für zwei Minuten heftig. Contenance, Zukker! (Der Nagellack heisst übrigens „Unrepentantly Red“). Der Apotheker legt den Kopf mitleidig zur Seite.
Abends bin ich zum Essen beim Japaner verabredet. Ich will keine dunkle Stimmung verbreiten. Aber essen Sie mal mit Stäbchen, wenn die Hand eingebunden ist! Unter dem Tisch wickle ich meine Hand aus dem Verband. Zu spät. Meine Freundin mir gegenüber fragt, was passiert sei. Fast lüge ich: Sehnenscheidenentzündung vom Schreiben! Nein, jetzt muss ich erzählen und die Spirale durchbrechen. Ich trage keine Schuld! Dieses Wegignorieren schlägt sonst früher oder später zurück, und dann werde ich manisch oder depressiv.
Nüchtern fasse ich zusammen wie in einem Protokoll, die Freunde und Freundinnen am Tisch schaudert es. Ich höre mir beim Reden von aussen zu, als hätte das alles nichts mit mir zu tun. Die Freundin gratuliert mir! Man möchte hoffen, dass dieses Schwein sowas nie wieder mache mit anderen Frauen. Den zwei Männer am Tisch fällt das Essen zwischen den Stäbchen auf den Teller. Ich trinke viel gegen die Leere und das wattige Ohnmachtsgefühl und rede über anderes. Was kann man dazu noch sagen? Ich fühle mich einsam in der Runde, die Einsamkeit in Gesellschaft ist eines der hässlichsten Gefühle überhaupt. Ich bin abgetrennt und langsam wächst sie, die Wut, die Verzweiflung, dass ich es hinnehmen muss, was geschah, was bleibt mir anderes übrig.
Auf dem Weg nach Hause fühle ich mich, als würde ich eine offene eiternde Wunde durch die Gegend tragen. Die Menschen wechseln die Strassenseite, genauer hinsehen will man dann doch nicht. Gleichzeitig fühlt es sich ledrig an, weil es mir nicht zum ersten Mal passiert ist, dass man sich über mich hinwegsetzte. Da ist mir weiss Gott schon Furchtbareres widerfahren. Was den gestrigen Abend in einer absurden Dimension relativiert. Aber zum ersten Mal habe ich mich gewehrt. So leicht ging mir der Schlag von der Hand.
Es wird einen Moment dauern, bis ich wieder zurechtkomme. Bis dahin werde ich zum Boxtraining gehen, mein Essen zwei Mal salzen, oder vier oder sechs Mal — jedenfalls muss es eine gerade Zahl sein. Und ich werde Listen schreiben auf denen auch Duschen und Schlafen steht. Hauptsache, ich kann es von der Liste streichen.
Während ich diese Kolumne schreibe, kommt es mir vor, als sei dieser Abend eine Ewigkeit her, als wäre ich eine andere geworden. Eine, die wieder in der vollen S‑Bahn fahren kann, ohne Schweissausbrüche zu bekommen, eine die stark ist, eine, die hinsieht und anklagt, weil wir es nicht zulassen dürfen, dass sich das Unrecht einschleicht, dass man als Frau damit rechnen muss. Damit darf man nicht rechnen.
Nur wenn ich nicht damit rechne, erschrecke ich mich. Nur dann kann ich mich wehren.
[info-box post_id=„7796“]Journalismus kostet
Die Produktion dieses Artikels nahm 8 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 676 einnehmen.
Als Leser*in von das Lamm konsumierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demokratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produktion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rechnung sieht so aus:
Wir haben einen Lohndeckel bei CHF 22. Die gewerkschaftliche Empfehlung wäre CHF 35 pro Stunde.
CHF 280 → 35 CHF/h für Lohn der Schreibenden, Redigat, Korrektorat (Produktion)
CHF 136 → 17 CHF/h für Fixkosten (Raum- & Servermiete, Programme usw.)
CHF 260 pro Artikel → Backoffice, Kommunikation, IT, Bildredaktion, Marketing usw.
Weitere Informationen zu unseren Finanzen findest du hier.
Solidarisches Abo
Nur durch Abos erhalten wir finanzielle Sicherheit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unterstützt du uns nachhaltig und machst Journalismus demokratisch zugänglich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.
Ihr unterstützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorgfältig recherchierte Informationen, kritisch aufbereitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unabhängig von ihren finanziellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Journalismus abseits von schnellen News und Clickbait erhalten.
In der kriselnden Medienwelt ist es ohnehin fast unmöglich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkommerziell ausgerichtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugänglich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure solidarischen Abos angewiesen. Unser Lohn ist unmittelbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kritischen Journalismus für alle.
Einzelspende
Ihr wollt uns lieber einmalig unterstützen?