Wie schlimm steht es wirklich um die Welt? Das weiss niemand ganz genau. Eine Nachricht jagt die nächste – wie einen Überblick gewinnen, das Chaos ordnen? Wir helfen, indem wir ausgewählte News häppchenweise servieren und einordnen. So liefern wir Ihnen einmal pro Monat Anhaltspunkte zur Lage der Welt aus Lamm-Sicht.
Heute: Frankreich verkauft bald keine Autos mit Erdölantrieb mehr. // Ein neuer Monsanto-Mais wird im Eiltempo in die Natur losgelassen.// 200 ÖkoaktivistInnen wurden 2016 umgebracht.
Good News 1: Frankreich sagt: Adieu, Auto!
Was ist passiert? Bald wird in Frankreich der letzte Auspuff eingestampft. Das hat der neue Ministre de la Transition Écologique und ehemalige Öko-Aktivist Nicolas Hulot verkündet: Ab 2040 dürfen keine Diesel- oder Benzinautos mehr verkauft werden. Paris, so schön fürs Auge, so hässlich für die Nase, wird also ab ca. 2050, nach dem letzten Dieselhusten, nur noch nach Harnstoff riechen.
Aber nicht nur das: Ab Herbst darf bei unseren Nachbarn kein Erdöl/Erdgas mehr gefördert werden, ab 2022 darf kein Kohlestrom mehr erzeugt werden, die Tonne CO2 wird über 100 Euro kosten, und 2050 ist Frankreich dann klimaneutral, wenn man Hulots Worten glauben soll.
Warum ist das wichtig? Weil sich Frankreich traut, den Klimakiller Nr. 1 in Sachen Mobilität frontal anzugreifen. Während wir hier über ein paar Gramm weniger CO2 für Neuwagen feilschen, die dann doch nicht zustandekommen (das Lamm berichtete im letzten Lage der Welt). Und: Frankreich ist damit nicht alleine. In Norwegen dürfen ab 2025 nur noch Elektro-Autos und Plug-in-Hybride über den Ladentisch, die Niederlanden denken laut über ein Verbot von Diesel- und Benzinfahrzeugen ebenfalls bis 2025 nach, einige deutsche Bundesländer wollen ab 2030 nur noch Elektrofahrzeuge zulassen, und sogar Indien gedenkt, ab 2030 den Verkauf von Benzinern und Dieslern zu verbieten. Volvo hat gar angekündigt, ab 2019 nur noch Elektro- und Hybridfahrzeuge anzubieten. Es bleibt zu hoffen, dass die Schweiz nicht erneut zum (diesmal russ-)schwarzen Herz Europas wird.
Aber? Wechseln die Franzosen damit vom Sitz auf den Sattel? Einen solchen Kulturschock kann der Minister seinen Französinnen dann doch nicht zutrauen. Auch er sich selbst nicht. In der Serie „Dis-moi en quoi tu roules, je te dirai qui tu es...“ (“Sag mir was du fährst, und ich sag dir, wer du bist...“) zeichnet die Zeitung Le Monde jeweils eine Charakterstudie einer französischen Persönlichkeit — auf Grundlage ihres Fuhrparks. Und der ist auch bei Hulot beachtlich, fährt er doch einen Citroën 2CV („nur für kurze Strecken“), einen russenden Kangoo („praktisch, um Material zu meinem Motorboot (220 PS) zu fahren“) sowie zwei Elektroautos (Renault Fluence ZE électrique und BMW i3, zu ministerialen Zwecken). Den 2CV mit dem Renault Fluence ZE électrique im französischen Nationalcharakter auszuwechseln, das könnte Hulot noch gelingen. Woher aber der Strom für die Elektroautos kommen soll, wenn Hulot, der AKW-Gegner, auf lange Sicht die 57 französischen AKWs abschalten will? Das Lamm hat eine Lösung für Sie, Monsieur Hulot: Wie wärs mit dem vélo? Das läuft mit baguette, ganz écolo!
Bad News 1: Der Mais, der Gene zum Schweigen bringt
Was ist passiert? Auf leisen Sohlen hat sich ein neuer Gentech-Mais auf US-amerikanische Felder gestohlen. „SmartStax Pro“ heisst die neue Brut von Dow und Monsanto. Sie produziert eine Ribonucleinsäure (RNA), die dem Maiswurzelbohrer, eine billion dollar plague auf US-Maisfeldern, an die Borsten rückt.
Das fiese an der neuen Maissorte: Frisst sich der Maiswurzelbohrer in die Wurzeln des SmartStax Pro, frisst er auch viele dieser RNA-Stücke. Der Effekt: Er kann ein lebenswichtiges Protein nicht mehr herstellen. Das Besondere an diesem Trick: Der Maiswurzelbohrer hätte eigentlich noch die Gene, um dieses Protein herzustellen, aber sie werden nicht mehr in Proteine „übersetzt“. Erstmals ist mit „SmartStax Pro“ eine gentechnisch modifizierte Pflanze mit einem sogenannten gene silencing gegen Insekten in den USA zugelassen worden – im Rekordtempo. Knappe 15 Tage dauerte die öffentliche Konsultationsrunde der „Environmental Protection Agency“ (EPA). Zu wenig Zeit, damit sich eine gesellschaftliche Debatte darüber hätte entfachen können.
Warum ist das wichtig? Die Debatte über die neue Biotechnologie wäre wichtig gewesen. Denn die Technologie ist im Prinzip bestechend: Man wähle ein Gen (DNA-Sequenz) aus, das für einen bestimmten Schädling und nur für diesen lebensnotwendig ist, entwerfe eine korrespondierende RNA-Sequenz, die das Gen abschalten kann – und schon hat man ein äusserst spezifisches „Gift“, das nur gegen Schädlinge vorgeht, die auf dieses Gen angewiesen sind.
Anders als Insektizide wie Nikotin, die auch menschliche Nervenzellen angreifen, oder unspezifische Herbizide wie Glyphosat, die (fast) alle Pflanzen töten, könnte man den Schädling ausser Gefecht setzen, ohne zugleich Nützlinge zu töten. Im Prinzip. In der Realität sieht es bereits anders aus. Und genau deswegen wäre ein Debatte darüber so wichtig gewesen. Ein ForscherInnenteam der Universität Kentucky hat festgestellt, dass diese RNA im SmartStax Pro nicht nur den gierigen Maiswurzelbohrer tötet, sondern auch den nützlichen Marienkäfer. Ausserdem ist unklar, wie bekömmlich die RNA für den menschlichen Körper ist. Das mindeste, was man hier sagen kann: Die WissenschafterInnen streiten sich heftig. Wieder einmal wurde das Vorsorgeprinzip umgestülpt, und die US-Coke-TrinkerInnen (Ja, da hats Mais drin!) müssen als Versuchskaninchen herhalten.
Aber? Es ginge wohl auch ohne Dr. Monsantosteins neuem Kind. Der Fortpflanzungszyklus des Maiswurzelbohrers liesse sich einfach dadurch bekämpfen, dass man nicht jedes Jahr auf dem selben Feld Mais anpflanzt. In diesen Maisflauten hat der Bohrer weniger zu fressen – und sein Bestand wird auf ein erträgliches Mass dezimiert. Aber mit dieser Idee lässt sich kein Geld verdienen. Denn sie ist so alt wie die Landwirtschaft selbst — die Patentrechte darauf wären längst abgelaufen. Dafür wüsste man um die Nebenwirkungen. Es gibt nämlich keine.
Bad News 2: 2016 starben so viele Ökoaktivisten wie nie zuvor — aber 2017 könnte noch schlimmer werden
Was ist passiert? Carlos Maaz Coc war Fischer in Guatemala. Der See, von dem er lebte, wurde von Abwassern aus Minen vergiftet. Dagegen hat er protestiert. Und dafür hat er mit seinem Leben bezahlt. Carlos Cod war damit einer von 98 Menschen, die dieses Jahr ermordet wurden, weil sie gegen vergiftete Fischgründe kämpften, weil sie WildererInnen im Weg standen, weil sie ihr Stückchen Land für ihr Vieh und Gemüse behalten wollten oder weil sie sich gegen die Plünderung ihrer kulturellen oder natürlichen Schätze wehrten. Gemäss der NGO Global Witness sind wir 2017 auf Kurs mit dem bisher tödlichsten Jahr 2016, bei dem 200 ÖkoaktivistInnen umkamen.
Warum ist das wichtig? Hier in der Schweiz oder in Deutschland stirbt niemand, der sich aufs Gleis kettet, um einen Castor-Transport zu stoppen. Dennoch können die AktivistInnen mit einer guten medialen Abdeckung rechnen.
In Brasilien, in Kolumbien und in den Philippinen sterben Kleinbäuerinnen und Fischer zu Dutzenden, während sie gegen Minenprojekte ankämpfen, die sie um ihre Lebensgrundlage bringen. Aber es spricht niemand über sie. Nicht einmal die RichterInnen. Denn diese Morde finden in Gebieten statt, in denen die Justiz keinen Empfang mehr hat.
Und das hat System: Gerade in solchen Randgebieten, wo der Rechtsstaat abwesend und die Medien schwach sind, können Grossprojekte, die anderswo die mühsame demokratische Zustimmung erforderten, rasch und notfalls auch mit Gewalt abgewickelt werden. Gerade deshalb ist es wichtig, dass diese Menschen in den Radius unserer Aufmerksamkeit gerettet werden. Auch wenn sie schon tot sind. Damit Projekte, die hier niemals akzeptieren würden, nicht einfach in Länder ausgelagert werden können, in denen Menschenrechte kaum etwas zählen. Und in denen Umweltgesetze oft nur pro forma existieren.
Aber? Allerdings liegen die Ursachen tiefer. Und hängen manchmal mit scheinbar harmlosen Produkten zusammen. Weil Soja im brasilianischen Norden billiger angepflanzt werden kann als bei uns, wird das „Schweizer Fleisch“-Huhn mit solchem Soja gemästet. Und wieso ist das brasilianische Soja so günstig? Nebst dem günstigen Klima und laschen Umweltgesetzen ist es eben auch die ungestrafte Gewalt an Landlosen und Kleinbauern, die eine reibungslose Expansion der Anbauflächen erlaubt – und damit die Produktionspreise senkt. Eben wurden am 24. Mai in Brasilien 10 LandlosenaktivistInnen während einer Konfrontation mit der Polizei getötet. Auch, weil Grossgrundbesitzer durch Geld aus dem Norden, eben durch den Verkauf an uns Schweizer PouletkonsumentInnen, mächtig werden – so mächtig, dass sie die Schwachen beiseite schieben und notfalls töten können. Mit oder ohne staatliche Beihilfe.
Einen winzigen Lichtblick in die grosse Misere verschafft uns die Sonnenblume: In den Bio-Eiern von der Migros hat sie letztes Jahr das blutige Soja ersetzt. Statt 4.75 Fr. pro Schachtel kosten die 6 Eier nun 4.85 Fr. Das soll es uns wert sein.
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