Dienstagvormittag einer beliebigen Woche. Im Kiosk am Bahnhof Altstetten in Zürich hole ich eine Packung Zigaretten und zünde mir draussen eine an.
Da springt er mir in den Weg und fragt, ob ich kurz Zeit hätte. Ein drahtiger junger Mann Mitte Zwanzig mit Dreadlocks, die er auf dem Kopf zusammengebunden hat. Kurz staune ich: Sein Dutt ist genauso hoch wie sein Gesicht lang ist. Nein, ich habe keine Zeit. „Nur drei Minuten, während du rauchst, möchte ich dir etwas erzählen.“ Er ist hartnäckig. Er bekommt Geld dafür, dass er mir im Weg steht. „Du kannst für 20.- im Monat die Kindersterblichkeit senken. Das sind nicht einmal drei Packungen Zigaretten. Wieviel rauchst du eigentlich?“
Ich bin so perplex, dass ich ihm sage, dass ich pro Tag eine Packung rauche, wenn ich besonders gestresst sei, könnten das aber ganz schnell auch mehr werden. Das schreckt ihn überhaupt nicht ab. Im Gegenteil, er zückt seine Infomappe und beginnt mit seinem eingeübten Vortrag. Dabei blättert er durch die laminierten Seiten und zeigt mir ausgehungerte Kinder mit Wasserbäuchen.
Ich klappe ihm die Mappe zu und sage, dass ich bereits für Terre des Femmes und für Terre des Hommes spende. Und früher einmal für Vier Pfoten, denen ich dabei geholfen hätte, die Tanzbären zu befreien. Er schenkt mir nur ein müdes Lächeln. „Aber die Kinder! Hast du Kinder?“ Ich sage nein, und dass ich auch nie Kinder möchte und dass ich jetzt dringend auf den Zug müsse, weil mir sonst ein wirklich wichtiger Auftrag verlorengehe. „Sei doch froh, dass du Arbeit hast.“
Bevor ich ungehalten werde, sage ich: „Also gut, dann spende ich gerne 20.- im Monat.“ Das sind 240.- im Jahr, das ist für mich viel Geld, aber es liegt drin.
Er zückt aus seiner Infomappe das Formular, notiert meine IBAN, fragt, ob ich wirklich nur den Mindestbetrag zahlen möchte. Mit einer höheren Spende könnte ich natürlich noch mehr bewirken. Bei den Kleinsten, den Schwächsten auf dieser Welt. Ich schaue ihn richtig böse an und sage, dass er jetzt bitte die Luft anhalten soll, und dann unterschreibe ich das Formular. „Du bist jetzt eine Schutzengel-Projektpatin“, strahlt er. Öffnet seine Arme und fragt, ob ich zum Abschied eine Umarmung möchte.
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Dienstagabend der gleichen beliebigen Woche. Bahnhofstrasse Zürich.
Ich komme aus dem Globus mit einem Blumenstrauss und einer neuen Kugelschreibermine (Caran d‘Ache, Fine, Black). Da springen sie mir in den Weg und fragen, ob ich kurz Zeit hätte. Zwei Männer Mitte Zwanzig. Der eine mit Schlafzimmerfrisur, der andere mit Glatze. Ich bleibe einfach stehen und lache. Das irritiert sie, und sie nützen die Gelegenheit dazu, mir zu sagen, dass ich schöne Augen hätte.
Ich lache noch etwas weiter und sage, ohne dass sie mich fragen, dass ich schon Terre des Femmes, Terrre des Hommes, früher Vier Pfoten und seit heute morgen Save the Children unterstütze. Der eine gratuliert mir, der andere schaut mir tief in die Augen und sagt: „Das sind Katzenaugen, golden, fast bernsteinig.“ Da setzt der andere an und sagt: „Apropos Gold, ein grosser Teil des Goldes wird in der Schweiz veredelt. Vier der neun grössten Raffinerien stehen in der Schweiz. Und die Schweiz muss ihre Verantwortung im Kampf gegen das schmutzige Gold wahrnehmen.“ Da holt der andere Luft und ergänzt, dass die Auswirkungen des Rohstoffabbaus die Menschenrechte der indigenen Gemeinschaften in Peru verletzten.
Jetzt hole ich Luft und sage, dass ich sofort unterschreiben möchte und den Mindestbetrag spende. Die beiden freuen sich. Dabei will ich nur nach Hause und die Blumen ins Wasser stellen. Der eine holt das Formular aus der Infomappe, der andere sagt mir, dass ichs ja dann von den Steuern abziehen kann. „Also wirklich nur 100.- im Jahr“, wollen sie nochmals wissen. Ich unterschreibe das Formular und wehre mich auch hier wieder gegen Free Hugs.
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Zuhause bin ich genervt. Genervt und wütend, weil ich eigentlich alle unterstützen möchte. Die Tiere, die Frauen, die Männer, die Kinder und natürlich will ich, dass die Schweiz ihre Verantwortung im Kampf gegen das schmutzige Gold wahrnimmt. Aber ich muss mich entscheiden, weil es meine Finanzen nicht zulassen, dass ich vor lauter Grossmütigkeit meine Miete, Krankenkasse und SVA-Rechnung nicht mehr zahlen kann.
Ich weiss auch, dass die SpendensammlerInnen nur ihre Arbeit machen. Sie finanzieren sich so ihr Studium, stehen bei jeder Witterung im Freien und müssen offensiv und penetrant Menschen anquatschen. Und WWF, Save the Children, Vier Pfoten, Terre des X & Y, die grundsätzlich wichtige Arbeit leisten und die man unbedingt unterstützen sollte, brauchen neue SpenderInnen. Aber auf der Strasse? Mit einer Argumentation, die keine ist, ausser mir ein schlechtes Gefühl reinzudrücken? Zu Terre des Femmes und Terre des Hommes bin ich auch nicht auf der Strasse gekommen. Da haben mir Freunde von konkreten Projekten erzählt, dann hab’ ich angerufen und mich angemeldet.
Ich fahre den Computer hoch, schreibe an Save the Children und der Gesellschaft für bedrohte Völker eine Mail, dass ich meine Unterstützung wieder zurückziehen möchte. Ich möchte mir selber aussuchen können, welche Hilfswerke ich unterstütze. Klein beigeben, um von den Vorträgen der SammlerInnen loszukommen, kann es ja nicht sein. Das ist nicht nachhaltig. Trotzdem gehe ich mit einem schlechten Gewissen ins Bett.
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