Uuuggghhhh. Das ist das Geräusch, das mein momentanes Gefühl am besten beschreiben würde. Doch wieso fühle ich mich überhaupt so? Eigentlich geht es mir doch gut. Meine Liebsten und ich sind gesund, ich erhalte weiterhin Lohn von meinem Arbeitgeber, ich kann als Journalistin vergleichsweise gut im Homeoffice arbeiten und habe zudem in einer WG ein schönes Zimmer, in dem ich mich wohlfühle. Angst vor einer Ansteckung habe ich keine und auch wenn ich seit Mitte März solidarisch zu Hause bleibe, hat sich mein Leben nicht besonders stark verändert. Und ich weiss, wie viele andere nicht dasselbe Glück haben wie ich.
Und trotzdem: Ugghhh.
Ich bin wirklich gerne zu Hause. In der ersten Woche unseres „Lockdown light” habe ich denn auch über die Memes auf den sozialen Netzwerken gelacht. „2019 war es asozial, allein zu Hause zu sein, 2020 ist es heldenhaft”, hihi. In der zweiten Woche haben sich die Ersten in meinem Umfeld beklagt; ihnen sei langweilig; ich hingegen fand’s ganz gemütlich zu Hause. Ich hatte genug zu tun: Lohnarbeit, Hausarbeit und ‚Sachen, die ich mal erledigen will, wenn ich endlich die Zeit habe’. Also zum Beispiel das Regal, das in der Ecke verstaubt, endlich mal aufhängen. Oder den Laptop aufräumen. Oder alte Familienfotos sortieren.
Mit dieser „gewonnenen Zeit”, wie sie uns von Optimist*innen verkauft wird, wollte ich aber auch mal was Schönes machen. Etwas, das nicht eine Aufgabe, sondern eine Entspannung ist. Struktur ist wichtig fürs Homeoffice, hab’ ich gelesen, und dazu gehören auch Pausen. Als Organisationstalent und Listen-Liebhaberin schrieb ich also auch gleich eine Fun-To-Do-List. Voll mit Sachen, die ich mir in den nächsten Tagen und Wochen gönnen würde: Lesen, Yoga, meine Analogkamera ausgiebig testen, backen, eigene Gesichtsmasken machen. Endlich mal das Nähprojekt anpacken. Endlich mal all die gespeicherten TED-Talks schauen. Endlich mal eigene Setzlinge ziehen.
Auch auf sozialen Netzwerken schlugen mir Vorschläge entgegen: ein gratis Online-Kurs hier, ein Webinar da. Etliche Portale sind während dieser Pandemie gratis zugänglich – was für ein Glück. Es gibt Angebote en masse, in fast jedem erdenklichen Themenbereich. Wo fange ich an? Bei einem Basic-Kurs für Excel oder vielleicht doch bei einer „Creative Writing Class”? Kann ich das jetzt auf Arbeitszeit machen oder nicht? Brav habe ich mich durchgeklickt, und meine Lesezeichen haben sich innert kürzester Zeit fast verdoppelt – aber die Links geöffnet habe ich seitdem nicht.
Ich arbeite 60 Prozent beim Lamm, neuerdings nur im Homeoffice, plus 10–20 Prozent in einem Nebenjob, ausser Haus. Durchschnittlich 30 Stunden Lohnarbeit pro Woche: Das klingt machbar. Daneben meine Fun-To-Do-List durchzugehen, zwei, drei Online-Kurse zu absolvieren und ein neues Hobby zu finden ebenfalls.
Falsch gedacht. Ich schaffe es einfach nicht. Ich schaffe es nicht, acht Stunden am Tag produktiv zu sein, egal, wann ich aufstehe, wie viele Kaffees ich trinke und in welchem Rhythmus ich die Pausen einbaue. Mir fallen keine Artikel-Ideen ein, und Recherchieren fühlt sich schmerzhaft anstrengend an. „Ich bin mir doch Homeoffice gewöhnt!”, denke ich. „Uuuggghhhh”, schiebe ich hinterher. Mir fehlt der real-life-Austausch mit dem Redaktionsteam, mir fehlt mein Alltag – mir fehlt die Inspiration.
Ich schaffe es aber auch nicht, wie geplant meine Motivation mit meiner Fun-To-Do-List aufzuwecken. Ich, die früher mehr gelesen als geschlafen hat, mag meine 16 ungelesenen Bücher (bald sind es 20, ich habe noch vier bestellt) nicht lesen. Ich mag mir kein entspannendes Yoga-Video raussuchen. Ich habe keine Liebe fürs Kochen entdeckt. Ich mag mein Nähprojekt nicht angehen und auch keinen Fitnessplan zusammenstellen. Und das macht mich richtig hässig, weil ich das Gefühl habe, dass mir die Zeit davonrennt. Dass ich diese Zeit, die ich jetzt ja in meinem schönen Zuhause verbringen muss (darf; ist das Glas halb voll oder halb leer?), nicht nutze!
Ich nutze die Zeit eigentlich schon. Ich nutze sie fürs Schlafen und – ganz ehrlich – vor allem für Netflix. Aber ich nutze die Zeit nicht produktiv. Diese verflixte Produktivität: ein nahezu unerreichbares Ideal, denn jeden Tag wird der ‘Fortschritt’ wieder auf null zurückgedreht. In Zeiten wie diesen, wo Tage nur noch Wörter sind und nicht mehr voneinander abgrenzbare zeitliche Einheiten, ist das nervtötend.
Ein Problem war es eigentlich schon immer, jetzt wird es mir einfach umso bewusster: dass wir uns nur gut fühlen, wenn wir produktiv gewesen sind. Natürlich haben wir eine Daseinsberechtigung, auch wenn wir unproduktiv sind. Natürlich wird unser Wert als Mensch nicht nur an unserer Produktivität gemessen. Aber das geht leider ziemlich schnell vergessen in unserer kapitalistischen Welt. So fest sogar, dass ich, als antikapitalistische Feministin, mich unzufrieden fühle, wenn ich am Tag vier Mails beantwortet und zwei Seiten Text geschrieben habe – denn ich hätte ja mehr machen können.
Dieser Produktivitätsquatsch ist so fest in unseren Köpfen verankert, dass ich mir sogar eine Fun-To-Do-Liste schreibe. Die Produktivität ist auf meine Freizeit übergeschwappt: Ich versuche mich selbst so fest in die „richtige Richtung” zu schieben, also meine Freizeit intellektuell und kulturell zu gestalten (und am besten analog, gell), dass ich aus Trotz nichts davon mache und den Abend mit fünf Stunden Netflix verbringe.
Neben Netflix bin ich natürlich auch immer am Handy. Und was sehe ich da? Instagram-Stories von Leuten, die Muffins backen, Velotouren machen, sich im Garten sonnen, Bilder malen und ein Buch nach dem anderen lesen. Allesamt glücklich, dass sie den silver lining dieser Pandemie gefunden haben. Das zu sehen, während ich mit dem Laptop auf dem Bauch auf dem Sofa liege und Chips esse, gibt mir noch ein schlechteres Gefühl: Ich bin nicht nur bei der Lohnarbeit unproduktiv, ich bin es auch in der Freizeit.
Hört ihr auch, wie lächerlich das tönt? Insbesondere wenn man an all die Menschen denkt, die momentan mit existenziellen Ängsten zu kämpfen haben, zum Beispiel weil sie aktuell keinen oder weniger Lohn bekommen und darum die Miete oder die Krankenkasse nicht mehr zahlen können. Oder weil sie selbst oder jemand in der Familie schwer erkrankt ist.
All dessen bin ich mir schmerzlich bewusst – und genau, weil ich in einer privilegierten Stellung bin, möchte ich darüber informiert sein und das Wissen weitertragen. Aber ich schaffe es momentan nicht, und das zu akzeptieren, fällt mir unheimlich schwer.
Auch uns, denen es gut geht, geht es eben nicht so gut. Egal, ob wir unseren Tag mit möglichst viel fun zu füllen versuchen (und das stolz auf Instagram präsentieren) oder ob wir die meiste Zeit horizontal verbringen. Beide Varianten sind wahrscheinlich nicht der ideale Weg, um die Zeit zu Hause zu überstehen. Statt das mit einem „Du bist so privilegiert” abzustempeln, könnten wir einfach ansprechen, worum es geht: um einen krankhaften Produktivitätsdruck gepaart mit relativ wenig Wissen, was psychische Gesundheit genau ist und wie wir sie unterstützen können.
Was mir hilft? Darüber reden, darüber schreiben. Und Nachsicht zu haben. Sowohl mit anderen wie auch mit mir selbst.
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