Aber ich will kein Yoga machen!

Der Lock­down schliesst uns in unsere Wohnungen ein, soziale Kontakte verla­gern sich auf Zoom oder auf umständ­liche Balkon-Gespräche. Dafür haben viele von uns einen Über­schuss an Zeit, viel­leicht zum ersten Mal in unserem erwach­senen Leben. Und was passiert? Der omni­prä­sente Produk­ti­vi­täts­druck treibt uns in die Selbst­op­ti­mie­rung: endlich lesen, backen, eine Sprache lernen. Ich bin daran gescheitert. 
Eine Yogamatte habe ich. Wenn der Abend dann aber kommt, entscheide ich mich doch immer für Netflix. (Foto: Emma-Louise Steiner)

Uuuggghhhh. Das ist das Geräusch, das mein momen­tanes Gefühl am besten beschreiben würde. Doch wieso fühle ich mich über­haupt so? Eigent­lich geht es mir doch gut. Meine Lieb­sten und ich sind gesund, ich erhalte weiterhin Lohn von meinem Arbeit­geber, ich kann als Jour­na­li­stin vergleichs­weise gut im Home­of­fice arbeiten und habe zudem in einer WG ein schönes Zimmer, in dem ich mich wohl­fühle. Angst vor einer Ansteckung habe ich keine und auch wenn ich seit Mitte März soli­da­risch zu Hause bleibe, hat sich mein Leben nicht beson­ders stark verän­dert. Und ich weiss, wie viele andere nicht dasselbe Glück haben wie ich.

Und trotzdem: Ugghhh.

Ich bin wirk­lich gerne zu Hause. In der ersten Woche unseres „Lock­down light” habe ich denn auch über die Memes auf den sozialen Netz­werken gelacht. „2019 war es asozial, allein zu Hause zu sein, 2020 ist es helden­haft”, hihi. In der zweiten Woche haben sich die Ersten in meinem Umfeld beklagt; ihnen sei lang­weilig; ich hingegen fand’s ganz gemüt­lich zu Hause. Ich hatte genug zu tun: Lohn­ar­beit, Haus­ar­beit und ‚Sachen, die ich mal erle­digen will, wenn ich endlich die Zeit habe’. Also zum Beispiel das Regal, das in der Ecke verstaubt, endlich mal aufhängen. Oder den Laptop aufräumen. Oder alte Fami­li­en­fotos sortieren.

Mit dieser „gewon­nenen Zeit”, wie sie uns von Optimist*innen verkauft wird, wollte ich aber auch mal was Schönes machen. Etwas, das nicht eine Aufgabe, sondern eine Entspan­nung ist. Struktur ist wichtig fürs Home­of­fice, hab’ ich gelesen, und dazu gehören auch Pausen. Als Orga­ni­sa­ti­ons­ta­lent und Listen-Lieb­ha­berin schrieb ich also auch gleich eine Fun-To-Do-List. Voll mit Sachen, die ich mir in den näch­sten Tagen und Wochen gönnen würde: Lesen, Yoga, meine Analog­ka­mera ausgiebig testen, backen, eigene Gesichts­masken machen. Endlich mal das Nähpro­jekt anpacken. Endlich mal all die gespei­cherten TED-Talks schauen. Endlich mal eigene Setz­linge ziehen.

Auch auf sozialen Netz­werken schlugen mir Vorschläge entgegen: ein gratis Online-Kurs hier, ein Webinar da. Etliche Portale sind während dieser Pandemie gratis zugäng­lich – was für ein Glück. Es gibt Ange­bote en masse, in fast jedem erdenk­li­chen Themen­be­reich. Wo fange ich an? Bei einem Basic-Kurs für Excel oder viel­leicht doch bei einer „Crea­tive Writing Class”? Kann ich das jetzt auf Arbeits­zeit machen oder nicht? Brav habe ich mich durch­ge­klickt, und meine Lese­zei­chen haben sich innert kürze­ster Zeit fast verdop­pelt – aber die Links geöffnet habe ich seitdem nicht.

Ich arbeite 60 Prozent beim Lamm, neuer­dings nur im Home­of­fice, plus 10–20 Prozent in einem Nebenjob, ausser Haus. Durch­schnitt­lich 30 Stunden Lohn­ar­beit pro Woche: Das klingt machbar. Daneben meine Fun-To-Do-List durch­zu­gehen, zwei, drei Online-Kurse zu absol­vieren und ein neues Hobby zu finden ebenfalls.

Falsch gedacht. Ich schaffe es einfach nicht. Ich schaffe es nicht, acht Stunden am Tag produktiv zu sein, egal, wann ich aufstehe, wie viele Kaffees ich trinke und in welchem Rhythmus ich die Pausen einbaue. Mir fallen keine Artikel-Ideen ein, und Recher­chieren fühlt sich schmerz­haft anstren­gend an. „Ich bin mir doch Home­of­fice gewöhnt!”, denke ich. „Uuuggghhhh”, schiebe ich hinterher. Mir fehlt der real-life-Austausch mit dem Redak­ti­ons­team, mir fehlt mein Alltag – mir fehlt die Inspiration.

Ich schaffe es aber auch nicht, wie geplant meine Moti­va­tion mit meiner Fun-To-Do-List aufzu­wecken. Ich, die früher mehr gelesen als geschlafen hat, mag meine 16 unge­le­senen Bücher (bald sind es 20, ich habe noch vier bestellt) nicht lesen. Ich mag mir kein entspan­nendes Yoga-Video raus­su­chen. Ich habe keine Liebe fürs Kochen entdeckt. Ich mag mein Nähpro­jekt nicht angehen und auch keinen Fitness­plan zusam­men­stellen. Und das macht mich richtig hässig, weil ich das Gefühl habe, dass mir die Zeit davon­rennt. Dass ich diese Zeit, die ich jetzt ja in meinem schönen Zuhause verbringen muss (darf; ist das Glas halb voll oder halb leer?), nicht nutze!

Ich nutze die Zeit eigent­lich schon. Ich nutze sie fürs Schlafen und – ganz ehrlich – vor allem für Netflix. Aber ich nutze die Zeit nicht produktiv. Diese verflixte Produk­ti­vität: ein nahezu uner­reich­bares Ideal, denn jeden Tag wird der ‘Fort­schritt’ wieder auf null zurück­ge­dreht. In Zeiten wie diesen, wo Tage nur noch Wörter sind und nicht mehr vonein­ander abgrenz­bare zeit­liche Einheiten, ist das nervtötend.

Ein Problem war es eigent­lich schon immer, jetzt wird es mir einfach umso bewusster: dass wir uns nur gut fühlen, wenn wir produktiv gewesen sind. Natür­lich haben wir eine Daseins­be­rech­ti­gung, auch wenn wir unpro­duktiv sind. Natür­lich wird unser Wert als Mensch nicht nur an unserer Produk­ti­vität gemessen. Aber das geht leider ziem­lich schnell vergessen in unserer kapi­ta­li­sti­schen Welt. So fest sogar, dass ich, als anti­ka­pi­ta­li­sti­sche Femi­ni­stin, mich unzu­frieden fühle, wenn ich am Tag vier Mails beant­wortet und zwei Seiten Text geschrieben habe – denn ich hätte ja mehr machen können.

Dieser Produk­ti­vi­täts­quatsch ist so fest in unseren Köpfen veran­kert, dass ich mir sogar eine Fun-To-Do-Liste schreibe. Die Produk­ti­vität ist auf meine Frei­zeit über­ge­schwappt: Ich versuche mich selbst so fest in die „rich­tige Rich­tung” zu schieben, also meine Frei­zeit intel­lek­tuell und kultu­rell zu gestalten (und am besten analog, gell), dass ich aus Trotz nichts davon mache und den Abend mit fünf Stunden Netflix verbringe.

Neben Netflix bin ich natür­lich auch immer am Handy. Und was sehe ich da? Insta­gram-Stories von Leuten, die Muffins backen, Velo­touren machen, sich im Garten sonnen, Bilder malen und ein Buch nach dem anderen lesen. Alle­samt glück­lich, dass sie den silver lining dieser Pandemie gefunden haben. Das zu sehen, während ich mit dem Laptop auf dem Bauch auf dem Sofa liege und Chips esse, gibt mir noch ein schlech­teres Gefühl: Ich bin nicht nur bei der Lohn­ar­beit unpro­duktiv, ich bin es auch in der Freizeit.

Hört ihr auch, wie lächer­lich das tönt? Insbe­son­dere wenn man an all die Menschen denkt, die momentan mit existen­zi­ellen Ängsten zu kämpfen haben, zum Beispiel weil sie aktuell keinen oder weniger Lohn bekommen und darum die Miete oder die Kran­ken­kasse nicht mehr zahlen können. Oder weil sie selbst oder jemand in der Familie schwer erkrankt ist.

All dessen bin ich mir schmerz­lich bewusst – und genau, weil ich in einer privi­le­gierten Stel­lung bin, möchte ich darüber infor­miert sein und das Wissen weiter­tragen. Aber ich schaffe es momentan nicht, und das zu akzep­tieren, fällt mir unheim­lich schwer.

Auch uns, denen es gut geht, geht es eben nicht so gut. Egal, ob wir unseren Tag mit möglichst viel fun zu füllen versu­chen (und das stolz auf Insta­gram präsen­tieren) oder ob wir die meiste Zeit hori­zontal verbringen. Beide Vari­anten sind wahr­schein­lich nicht der ideale Weg, um die Zeit zu Hause zu über­stehen. Statt das mit einem „Du bist so privi­le­giert” abzu­stem­peln, könnten wir einfach anspre­chen, worum es geht: um einen krank­haften Produk­ti­vi­täts­druck gepaart mit relativ wenig Wissen, was psychi­sche Gesund­heit genau ist und wie wir sie unter­stützen können.

Was mir hilft? Darüber reden, darüber schreiben. Und Nach­sicht zu haben. Sowohl mit anderen wie auch mit mir selbst.


Jour­na­lismus kostet

Die Produk­tion dieses Arti­kels nahm 6 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 572 einnehmen.

Als Leser*in von das Lamm konsu­mierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demo­kratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produk­tion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rech­nung sieht so aus:

Soli­da­ri­sches Abo

Nur durch Abos erhalten wir finan­zi­elle Sicher­heit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unter­stützt du uns nach­haltig und machst Jour­na­lismus demo­kra­tisch zugäng­lich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.

Ihr unter­stützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorg­fältig recher­chierte Infor­ma­tionen, kritisch aufbe­reitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unab­hängig von ihren finan­zi­ellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Jour­na­lismus abseits von schnellen News und Click­bait erhalten.

In der kriselnden Medi­en­welt ist es ohnehin fast unmög­lich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkom­mer­ziell ausge­richtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugäng­lich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure soli­da­ri­schen Abos ange­wiesen. Unser Lohn ist unmit­telbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kriti­schen Jour­na­lismus für alle.

Ähnliche Artikel