Diesen Herbst hängen draussen überall Lachgesichter, die ins Parlament möchten. Die Zukunft des Tierschutzes wird in den Händen einiger dieser Leute liegen. Das gibt mir zu denken.
Tiere sind in der Wahlsaison nämlich kein Thema. Erst recht nicht bei mir im Agglo-Kanton Solothurn. Statements zum Tierschutz suche ich in meinem zentimeterdicken Stapel Wahlwerbung vergeblich. Das Konkreteste steht noch bei den Jungen Grünen, die „allen Menschen und Tieren ein schönes Leben ermöglichen“ möchten. So tief hängt die Messlatte.
Na gut, ein SVP-Mann nennt als Hobby „Viehzucht“ und als politischen Schwerpunkt „Bekämpfung der linken Gender- und Woke-Agenda“. Der nimmt meine politischen Ziele wenigstens wahr!
Es könnte nicht deutlicher sein: Tiere sind politisch vollkommen irrelevant. Wer jetzt die Augen verdreht und sagt, es könne im Wahlkampf halt nicht um jedes Nischenthema gehen, ist Teil des Problems. In der Schweiz leben mehr Tiere als Menschen – allein Hühner gibt es über zehn Millionen. Tiere sind somit die grösste Betroffenengruppe, die politische Entscheide zu spüren bekommt. Sie sollten nicht nebensächlich sein.
Doch genau so ist es derzeit – da sind sich die Kandidierenden mit den Wählenden einig. Letztere nannten den Tierschutz in den Wahlumfragen von Sotomo nicht als wichtige Herausforderung, zumindest kam ihnen das Stichwort nicht in den Sinn. Die meisten Leute stören sich offenbar mehr an „Klimaklebern“ (Platz 2 der grössten Ärgernisse) als am Tierquäler von Hefenhofen.
Und das, obwohl Tierfragen seit den letzten Wahlen immer wieder kontrovers diskutiert wurden. Zum Beispiel wurde über die Trinkwasser‑, Massentierhaltungs‑, Tierversuchsverbots- und Primatengrundrechte-Initiative abgestimmt. Stichworte wie Fleisch und Wolf sorgen schweizweit für hohen Blutdruck. Und trotzdem hält sich das Gefühl hartnäckig, dass der Tierschutz politisch nachrangig ist.
Wer Kandidierende wählen will, die sich zu diesen Themen überhaupt Gedanken machen, braucht geradezu wissenschaftliche Methoden.
Tierfreundlich wählen ist nicht einfach
Der Fragebogen, auf dem die Wahlempfehlungen von Smartvote beruhen, enthält genau zwei Fragen zu Tieren:
- „Befürworten Sie eine weitere Lockerung der Schutzbestimmungen für Grossraubtiere (Luchs, Wolf, Bär)?“
- „Befürworten Sie strengere Tierschutzregelungen für die Haltung von Nutztieren (z.B. permanenter Zugang zum Aussenbereich)?“
Das ist besser als nichts, aber auch nicht besonders informativ. Der Ansatz von Smartvote ist, dass wir unsere politischen Doppelgänger*innen wählen sollen. Die sitzen dann für uns im Parlament und drücken jeweils das Knöpfchen für „Ja“, „Nein“ oder „Enthaltung“, das wir auch drücken würden.
Dieser Ansatz ist aber vollkommen witzlos, wenn es um unterrepräsentierte Themen wie den Tierschutz geht. Werden nämlich im Parlament kaum Tierschutzvorstösse eingereicht, kann auch meine exakteste Doppelgängerin nichts bewirken. Wichtig ist also nicht unbedingt die gleiche Meinung, sondern Interesse und Engagement. Die Gewählten müssten sich für Tiere im Parlament aktiv einsetzen wollen. Doch das misst Smartvote nicht.
Anders macht es Animaux Politique Suisse, eine vom Tierschutz in der Romandie lancierte Webseite für Wahlempfehlungen. Zwar wird auch hier die Tierschutz-Einstellung der Politiker*innen mittels Fragebogen erhoben, und dies erheblich detaillierter als bei Smartvote. Zusätzlich wird aber auch ihr tatsächliches Verhalten ausgewertet. Jeder eingereichte Vorstoss, jede Abstimmung und jede Interessenbindung zählt. Aufgrund all dieser Daten ermittelt ein ausgeklügelter Algorithmus dann einen „idealen Stimmzettel“ für den eigenen Kanton.
Die Webseite generiert auch spannende Ranglisten. Unter den bisherigen Parlamentarier*innen ist Meret Schneider (Grüne/ZH) mit 48 tierfreundlichen Vorstössen klare Spitzenreiterin, gefolgt von Martina Munz (SP/SH) mit 30, dann Irène Kälin (Grüne/AG) und Tiana Angelina Moser (Grünliberale/ZH) mit je 10.
Im Ranking der Parteien schneiden die Grünen am besten ab. Sollten sie auch, immerhin stehen Tierrechte in ihrem Wahlprogramm. Danach kommen SP, Grünliberale und EVP. Das Schlusslicht bilden die FDP, die Mitte und natürlich die Wurst-und-Käse-Partei SVP.
Das alles macht die Wahlprognosen umso deprimierender: Laut Sotomo werden die Grünen und Grünliberalen zusammen drei Prozentpunkte verlieren, SVP und Mitte zusammen drei Prozentpunkte gewinnen. Andere Prognosen fallen noch deutlicher aus. Uns steht wohl ein Cervelatrutsch bevor.
Tiere haben keine Lobby
Tierfreund*innen müssen sich auf vier mühsame Jahre einstellen. Leider ist es seit den letzten Wahlen nicht gelungen, eine echte Lobby für Tiere aufzubauen, auf die man sich jetzt stützen könnte.
Schuld daran ist in erster Linie die Ressourcenknappheit. Die meisten Tierschutz- und Tierrechtsvereine haben wenig Geld, mit Ausnahme der industriefreundlichen Organisation Schweizer Tierschutz STS, die jedoch wenig mit dem Rest der Bewegung kooperiert. Vor diesem Hintergrund kann es sich der grösste Teil der Szene nicht leisten, Leute fürs Lobbying zu bezahlen.
Weil die Tierrechtsbewegung kaum konkrete politische Arbeit leistet – zum Beispiel Politiker*innen berät oder Vorstösse ausarbeitet – fehlt es ihr an Erfahrung. Das Wenige, das sie an politischen Ideen hat, entsteht oft im Vakuum der Theorie und hält dem Druck der Praxis nicht stand. Ohne politische Erfolge ist es dann schwer, mehr Leute zu mobilisieren und Finanzierung zu gewinnen. Und so weiter. Zusätzlich hat die Pandemie ihre Spuren hinterlassen: Tierrechtsgruppen in den Parteien sind in dieser Zeit eingeschlafen.
Die Situation ist verfahren und die politischen Aussichten sind mies. Aber vielleicht wird die Tierrechtsbewegung durch ein tierfeindliches Parlament auch aufgerüttelt und aktiviert.
Wir müssen lernen, wie tierfreundliche Politik geht
Ganz klar: Wir stehen immer noch auf Feld eins, nämlich bei der politischen Aufbauarbeit. Eine Bewegung, die ernsthaften Druck gegen eine tierfeindliche Politik machen kann, muss erst noch entstehen.
Immerhin tagt bei den Jungen Grünen mittlerweile wieder eine Arbeitsgruppe zum Thema Tierrechte. Solche Strukturen gehören auch bei den anderen tierfreundlicheren Parteien aufgebaut. Allen voran bei den „alten“ Grünen und Grünliberalen, dann sicher auch bei JUSO und SP. Letztere hätte auf Papier sogar schon eine Arbeitsgruppe Tierschutz, von der man allerdings seit 2016 nicht viel gehört hat. Vielleicht findet man da wieder einen Puls?
Eine wichtige Chance sind ausserdem die diversen Tier-Initiativen, die zurzeit im Sammelstadium sind. Im Moment sind zum Beispiel Initiativen für ein Importverbot für Pelz und Stopfleber, für weniger Fleischsubventionen und für die Einschränkung von Feuerwerk hängig. Für Letztere ist jetzt im Oktober die allerletzte Gelegenheit, um Unterschriften einzuschicken, bevor die Sammelfrist abläuft. Es wird extrem knapp. Hier kann man in Echtzeit beobachten, wie die Tierschutz- und Tierrechtsbewegung dazulernt – und wie viel sie leider noch lernen muss.
Es ist aber auch an Vereinen für Tierschutz und Tierrechte, ihre Arbeit stärker politisch auszurichten. Das bedeutet zum einen, Gegensteuer zu geben gegen die zerstörerischen und tierfeindlichen Impulse, die ein noch bürgerlicheres Parlament wahrscheinlich geben wird. Es braucht agile Medienarbeit und schlagkräftige Kampagnen, um Tiere und ihre normalisierte Misshandlung sichtbar zu machen.
Zum anderen muss man den tierfreundlicheren Parteien und Politiker*innen möglichst konkrete Unterstützungsangebote machen – Bildungstage, Textvorschläge, Recherchen. Das wird ein „Learning by Doing“, doch daran führt kein Weg vorbei. Die Politik und die Tierrechtsbewegung müssen gemeinsam lernen, wie tierfreundliche Politik überhaupt geht.
Wer das hier liest und noch nicht gewählt hat, tut das am besten gemäss den Tipps von Animaux Politique Suisse. Noch wichtiger ist aber, dass wir die nächsten vier Jahre nicht schlafen. Wenn wir Glück im Unglück haben, gibt es mit der Zuspitzung der Klimakrise irgendwann wieder Links- und Grünrutsche. Wenn wir bis dahin nicht bereit sind, um politisch etwas für Tiere zu bewirken, sind wir selbst schuld.
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