Das Hefen­hofen-System

Zu viele Verfah­rens­fehler: Der berüch­tigte „Tier­quäler von Hefen­hofen“ wurde im März weit­ge­hend frei­ge­spro­chen. Tier­schutz, Medien und Politik spre­chen von einma­ligem Behör­den­ver­sagen. Doch die Probleme gehen viel tiefer, denn das Tier­schutz-Versagen hat System. 
Das Tierschutzgesetz ist fundamental fehlkonzipiert und heisst die meiste Gewalt an Tieren gut. Da bringt auch der strengste Vollzug nicht viel. (Bild: Marcus Lunay / Unsplash)

Wir über­schätzen manchmal, wie viel der Staat eigent­lich tut, schrieb der Anthro­po­loge und Anar­chist David Graeber in seinem Buch „The Utopia of Rules“ von 2015. Oft sei der Staat nichts weiter als eine büro­kra­ti­sche Fassade.

Im länd­li­chen Mada­gaskar, wo Graeber in den 1980er-Jahren arbei­tete, gab es keine Polizei und keine Ämter. Niemand kontrol­lierte, ob Bauvor­schriften und Verkehrs­re­geln einge­halten wurden. Der Staat erfüllte hier keine Funk­tion mehr. „Aber alle spra­chen über die Regie­rung, als ob sie wirk­lich existierte, in der Hoff­nung, dass niemand Aussen­ste­hendes etwas bemerkt. Sonst könnte irgendein Amt in der Haupt­stadt noch auf die Idee kommen, sich einzumischen.“

An diese Anek­dote musste ich am 21. März denken, als der „Tier­quäler von Hefen­hofen“ vom Arboner Bezirks­ge­richt weit­ge­hend frei­ge­spro­chen wurde. In der Schweiz gibt es ein staat­li­ches Tier­schutz­sy­stem, aber wir über­schätzen manchmal, wie viel es eigent­lich tut. Vieles daran ist nur Fassade.

Aber alles der Reihe nach.

Was im „Fall Hefen­hofen“ passiert ist

Im Juli 2017 erhielt das Thur­gauer Vete­ri­näramt schlimme Fotos miss­han­delter Tiere, darunter auch abge­ma­gerte, sicht­lich kranke und teils tot dalie­gende Pferde. Die Aufnahmen stammten von einer Ex-Mitar­bei­terin des Züch­ters und Land­wirts Ulrich K., einem vorbe­straften Gewalt­täter gegen Tiere und Menschen. In früheren Jahren wurde er zum Beispiel gewalt­tätig gegen einen Kontrol­leur des Vete­ri­när­amts. Ein andermal tötete er ein Fohlen mit einem Bolzen­schuss­gerät, als das Amt es ihm wegnehmen wollte.

Schaut einmal zum Fenster raus, wahr­schein­lich seht ihr bald ein Tier. Sie sind die Mehr­heit der Bevöl­ke­rung. Doch in der Schweizer Medi­en­land­schaft werden sie meist igno­riert. Animal Poli­tique gibt Gegen­steuer. Nico Müller schreibt über Macht­sy­steme, Medien, Forschung und Lobby­ismus. Und denkt nicht, es gehe immer „nur“ um Tiere. Ihre Unter­drückung hängt oft mit der Unter­drückung von Menschen zusammen. Animal Poli­tique macht das sichtbar.

Nico Müller hat den Doktor in Tier­ethik gemacht und arbeitet an der Uni Basel. Daneben setzt er sich poli­tisch für Tier­schutz und ‑rechte ein, beson­ders mit dem Verein Animal Rights Switzerland.

Etwa zwei Wochen nachdem das Amt die neuen Tier­quä­lerei-Fotos erhalten hatte, veröf­fent­lichte der Blick eine Auswahl von ihnen – und plötz­lich wurden Behörden und Politik tätig. In einer Hauruck-Aktion wurden 93 Pferde, 50 Kühe, vier Lamas und 80 Schweine, Ziegen und Schafe vom Hof geräumt. Konkret hiess das für viele von ihnen, dass sie einge­schlä­fert, notge­schlachtet oder in die weitere Nutzung verstei­gert wurden. Zwei Drittel der Kühe wurden zudem laut einem Kantons­spre­cher „aus wirt­schaft­li­chen Gründen“ getötet.

Genau diese Hauruck-Aktion hat sich nun für die Staats­an­walt­schaft gerächt. Denn laut dem Bezirks­richter hat man die eigent­liche Tier­quä­lerei nie richtig doku­men­tiert – weder nach den ersten Fotos noch bei der Hofräu­mung. Was an Beweisen vorliege, sei juri­stisch nicht verwertbar. Ulrich K. wurde in den Haupt­an­kla­ge­punkten frei­ge­spro­chen und erhielt sogar eine Genug­tuung von 6’000 Franken – eine Ohrfeige an die Staats­an­walt­schaft. Diese hat ange­kün­digt, Beru­fung einzulegen.

Wie auch immer der Fall ausgehen wird: Das juri­sti­sche Hin und Her erweckt den Eindruck, dass der Tier­schutz­vollzug im Thurgau komplett desor­ga­ni­siert ist.

Was ist da bloss los? Ich frage bei einer Juri­stin nach.

Vollzug funk­tio­niert nirgends so richtig

„Fehler und Über­for­de­rung sehen wir in den meisten Kantonen in gewissem Ausmass“, sagt mir Vanessa Gerritsen von der Stif­tung für das Tier im Recht. Kaum ein Kanton sei im Tier­schutz­vollzug konse­quent genug.

„In vielen Kantonen arbeiten zum Beispiel keine im Tier­schutz­recht ausge­bil­deten Personen bei Polizei oder Staats­an­walt­schaft“, sagt Gerritsen. So würden Beamte mit Tier­schutz­er­mitt­lungen beauf­tragt, die sich mit den komplexen Vorschriften nicht auskennen – und die sich auch oftmals nicht beson­ders dafür inter­es­sieren. „Fehler sind prak­tisch vorpro­gram­miert.“ Und selbst wo es Fach­stellen gäbe, würden diese inner­halb von Polizei und Staats­an­walt­schaft nicht immer einbezogen.

Wohin das führt, kann man in einem Buch derselben Stif­tung nach­lesen. Demnach verfolgte der Staat in den letzten dreissig Jahren zwar immer mehr Tier­schutz-Straf­fälle, statt sie direkt unter den Teppich zu wischen. Aber die Dunkel­ziffer sei nach wie vor hoch und die ausge­spro­chenen Strafen überaus mild. Wer über­haupt wegen eines Tier­schutz­de­likts verur­teilt werde, erhalte in der Schweiz meist nur eine Busse und selbst in schweren Fällen von Tier­quä­lerei häufig nur eine Geldstrafe.

Zudem, so erklärt ein weiteres Buch der Stif­tung, unter­laufen den Behörden immer wieder „teil­weise ekla­tante juri­sti­sche Fehler – meist zugun­sten der Täter“. Der Thurgau ist also keines­wegs der einzige Kanton, wo für die Umset­zung des Tier­schutz­rechts die Struk­turen und Kompe­tenzen fehlen.

Aber auch das ist nicht das einzige Problem.

Tier­schutz­recht mit para­doxem Auftrag

Das Stich­wort „Behör­den­ver­sagen“ domi­niert die mediale Diskus­sion über den Fall Hefen­hofen. Die NZZ schreibt etwa über den „Staat als Dilet­tant“. Von einem mögli­chen Versagen der Justiz liest man hingegen kaum. Die meisten Journalist*innen scheinen die Meinung des Bezirks­ge­richts unkri­tisch zu über­nehmen, dass die Beweise im Fall Hefen­hofen alle­samt nicht verwertbar sind.

Bei einem digi­talen Austausch­treffen von Tierschützer*innen – darunter auch Jurist*innen – höre ich den gegen­tei­ligen Konsens: „Völlig über­ris­sene Ansprüche“ habe das Gericht gestellt. „Wie sollen wir denn Tier­quä­lerei beweisen, wenn nicht einmal Fotos zählen?!“ Man speku­liert, der Richter habe den Behörden womög­lich einen Denk­zettel verpassen wollen, weil sie bereits in früheren Fällen nicht nach seinen Ansprü­chen arbeiteten.

Vor lauter Behörden- und Justiz­kritik geht jedoch eines unter: Wenn kein Kanton ein Gesetz so richtig umsetzen kann, ist ein Teil des Problems viel­leicht auch das Gesetz.

Grund­sätz­lich fusst das Schweizer Tier­schutz­recht auf der Annahme, dass Menschen Tiere ausbeuten dürfen, solange sie gewisse Grenzen der Grau­sam­keit nicht über­schreiten. Es soll zum Beispiel erlaubt sein, en masse Fleisch, Eier und Milch zu produ­zieren – auch auf Kosten des Tier­wohls, solange die Gewalt auf das wirt­schaft­lich Nötige beschränkt bleibt.

So verlangt das Tier­schutz­ge­setz nur, dass das Wohl­ergehen der Tiere sicher­ge­stellt wird, „soweit es der Verwen­dungs­zweck zulässt“. Man darf also Mutter­kühe von ihrem Nach­wuchs trennen, Hühner in riesigen Gruppen ohne Sozi­al­struktur halten, Schweine in CO2-Kammern unter Erstickung­s­panik zusam­men­bre­chen lassen und so weiter. Alles normal, alles legal. Der Verwen­dungs­zweck geht vor.

Der Auftrag des Tier­schutz­rechts ist damit paradox: Es soll Tiere schützen, dies aber nur inner­halb eines Produk­ti­ons­sy­stems, das auf ihrem Leiden und Sterben beruht. Der Staat soll eine Grenze durch­setzen zwischen ille­galer Miss­hand­lung, die unter Strafe steht, und der legalen Miss­hand­lung, die zur Tier­in­du­strie selbst­ver­ständ­lich dazugehört.

Kein Wunder, ist so ein para­doxer Auftrag in der Praxis schwer umzusetzen.

Wie geht Systemverbesserung?

Es gibt viele Ansätze, wie man das Voll­zugs­sy­stem im Thurgau und anderswo verbes­sern könnte. Als ich den Verein Global Animal Law für Inputs anfrage, erhalte ich umge­hend ein drei­hun­dert­sei­tiges Gutachten voller Vorschläge.

Man könnte zum Beispiel Weiter­bil­dungen durch­führen, die Kommu­ni­ka­tion zwischen verschie­denen Behörden verbes­sern und Fach­stellen für den Tier­schutz einrichten. Man könnte auch grösser denken und dem gemein­nüt­zigen Tier­schutz ein Verbands­be­schwer­de­recht geben, analog zum Umwelt­schutz. Oder man könnte ein unab­hän­giges Amt einführen, das es im Kanton Zürich früher einmal gab: die „Rechts­an­wältin für Tier­schutz in Strafsachen“.

Klingt alles gut, ich bin dafür. Wir sind so weit von einem funk­tio­nie­renden Tier­schutz­sy­stem entfernt, dass wir expe­ri­men­tieren müssen. Doch ob Hefen­hofen hilft, dafür den poli­ti­schen Willen zu schaffen, ist frag­lich. Womög­lich hat der sensa­tio­nelle Fall sogar eine unnötig hohe Mess­latte gesetzt, welche Tier­quä­lerei unsere Aufmerk­sam­keit verdient. Über zwei andere Fälle – einer im Kanton Fribourg und einer im Rheintal – wurde im März nur ganz am Rande berichtet. Von einer Grund­satz­dis­kus­sion über den Tier­schutz in der Schweiz fehlt bisher jede Spur.

Und ich muss zugeben: Als Tier­rechtler bin ich pessi­mi­stisch, wie viel wir allein durch Verbes­se­rungen am bestehenden Tier­schutz­sy­stem errei­chen können. Das Tier­schutz­ge­setz ist funda­mental fehl­kon­zi­piert und heisst die meiste Gewalt an Tieren gut. Da bringt auch der strengste Vollzug nicht viel.

Tier­leid nicht aktiv fördern

Um nach­haltig etwas zu verbes­sern, müssen wir nicht nur beim Tier­schutz ansetzen, wo der Staat weit­ge­hend Fassade ist. Wir müssen auch dort ansetzen, wo der Staat tatsäch­lich etwas tut und Einfluss darauf nimmt, was mit Tieren geschieht.

Das tut er zum Beispiel über Subven­tionen. Der Bund gibt massive Fehl­an­reize, die den Konsum und die Produk­tion tieri­scher Lebens­mittel über­mässig fördern, wie neulich eine Studie von Vision Land­wirt­schaft aufzeigte. Der Schweizer Staat ist also nicht nur zu passiv im Tier­schutz, er fördert auch aktiv tier­schäd­li­ches Verhalten.

Zufällig just am Tag der Urteils­ver­kün­dung traf ich mich mit Fran­ziska Herren, dem Kopf der Trink­wasser-Initia­tive. Mit einer neuen Initia­tive wird Herren fordern, dass genau die erwähnten Fehl­an­reize behoben werden. „Wenn wir Tiere wirk­lich schützen wollen, müssen wir viel weniger Fleisch und mehr Pflanzen essen“, sagt sie mir. Ich bin genau ihrer Meinung.

Käme Herrens neue Initia­tive durch, würde die tieri­sche Land­wirt­schaft schrumpfen, die pflanz­liche wachsen. So gäbe es auch weniger Nähr­boden für das Elend von Tieren und Menschen, das im Fall Hefen­hofen sichtbar wurde. Der nächste Ulrich K. wäre dann viel­leicht nur ein reni­tenter Ackerbohnenbauer.


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