Erfolg haben und Schei­tern im Kapitalismus

Während andere studierten, sass unser Kolum­nist an der Super­markt­kasse. Gesell­schaft­lich schien er geschei­tert zu sein – dabei repro­du­zierte er damit nur die Regel seiner sozialen Klasse. 
Dinge, die schieflaufen, werden oft individualisiert. (Bild: Dasha Yukhymyuk / Unsplash)

Wer denkt, wird sich seiner Irrwege bewusst. Ich glaube, das eine – Denken – kann nicht ohne das andere – sich irren – funk­tio­nieren. Und da sind wir schon mitten im Thema: Schei­tern. Wer denkt, kann auch an einem Gedanken schei­tern oder einem Thema nicht gerecht werden.

In meinem ersten Buch „Keine Aufstiegs­ge­schichte“ habe ich geschrieben: „Durch [das geflü­gelte Wort] ‚Schei­tern als Chance‘ wird das Schei­tern, die Nieder­lage mit einem posi­tiven Sinn aufge­laden, der dem Schei­ternden eine Perspek­tive bietet, einen Neuan­fang. In den aller­mei­sten Fällen besteht die Chance in der Möglich­keit noch mal zu scheitern.“

Was ich damit meine: In meinen Zwan­zi­ger­jahren habe ich mich nach verpatztem Fach­ab­itur mit einer ganzen Palette aus Jobs herum­ge­schlagen. Ich war das, was man weit­läufig als Multi­jobber bezeichnet. Immerzu hatte ich minde­stens zwei, manchmal drei Jobs gleich­zeitig, weil ein Job allein mich nie ernähren konnte.

War ich aber gescheitert? 

Im Vergleich zu meinen Mitschüler*innen von der Privat­schule, auf die ich ging, absolut. Aber was soll das für ein Vergleich sein, einen Jungen aus der Armuts­klasse mit Kindern aus dem Bürgertum zu verglei­chen? Während ich bekifft an der Super­markt­kasse sass, nahmen diese ihr Studium auf oder erkun­deten Austra­lien. Wenn mich ihre Eltern dann im Super­markt sahen, in dem sie einkauften, bekam ich nicht selten einen Spruch wie diesen zu hören: „Olivier, du bist doch so ein feiner Kerl, mach doch was aus deinen Talenten.“

Mein Werde­gang war, sozi­al­wis­sen­schaft­lich betrachtet, erwartbar. Demnach kann von Schei­tern nicht die Rede sein.

Dabei repro­du­zierte ich meine soziale Klasse und war damit die Regel. Meine Eltern hatten jeweils ihren Real­schul­ab­schluss gemacht, so auch ich. Mein Vater hatte Drogen­pro­bleme, ich hatte eben­falls mit Sucht zu kämpfen. Mein Werde­gang war, sozi­al­wis­sen­schaft­lich betrachtet, erwartbar. Demnach kann von Schei­tern nicht die Rede sein.

„David gegen Goliath“ ist hier Programm: Olivier David gegen die Goli­aths dieser Welt. Anstatt nach unten wird nach oben getreten. Es geht um die Lage und den Facet­ten­reichtum der unteren Klasse. Die Kolumne dient als Ort, um Aspekte der Armut, Preka­rität und Gegen­kultur zu reflek­tieren, zu bespre­chen, einzu­ordnen. „David gegen Goliath“ ist der Versuch eines Schrei­bens mit Klas­sen­stand­punkt, damit aus der Klasse an sich eine Klasse für sich wird. Die Kolumne erscheint eben­falls als Newsletter.

Seit einigen Wochen nun denke ich auf diesem Begriff herum. Schei­tern. Ich bin mir mitt­ler­weile nicht mehr sicher, ob man das Schei­tern so zurück­weisen sollte, wie ich es noch in meinem Debüt getan habe. Steckt nicht viel­leicht doch eine Art allge­mein­gül­tiges Poten­zial im Scheitern?

Gutes Schei­tern, schlechtes Scheitern

Wir müssen das wirk­liche Schei­tern trennen von dem „Schei­tern“, das nur der Logik der Repro­duk­tion unserer Klas­sen­ge­sell­schaft folgt und dieser inhä­rent ist. Nicht überall, wo Leute nicht vom Fleck kommen, kann man vom Schei­tern spre­chen. Wenn Schulen, Univer­si­täten und der Staat Ausschlüsse produ­zieren, dann können wir den Menschen, die ausge­schlossen werden, nicht sagen: Du bist geschei­tert. Das wäre pure Indi­vi­dua­li­sie­rung oder sogar victim blaming.

Wir müssen das wirk­liche Schei­tern trennen von dem „Schei­tern“, das nur der Logik der Repro­duk­tion unserer Klas­sen­ge­sell­schaft folgt.

Bei anderen Fällen denke ich mitt­ler­weile, dass Schei­tern aber viel­leicht doch eine Chance bietet. Eine Möglich­keit, gesell­schaft­liche Erzäh­lungen wie die des Aufstiegs zurück­zu­weisen. Viel­leicht müssen wir uns sogar darin üben, schei­tern zu dürfen. Das Schei­tern entstig­ma­ti­sieren und sogar kulti­vieren, um zu etwas vorzu­dringen, das man als innere Wahr­heit bezeichnen könnte.

Anders gesagt: Wenn ich nicht da ankomme, in meiner Karriere, in meiner Kunst, im Sport, wo auch immer ich mal hinwollte, dann ist das sicher schmerz­haft. Aber es bietet die Chance, ein Bild von sich zu korri­gieren, dass mögli­cher­weise unrea­li­stisch ist.

In ihrer Kolumne „Saure Zeiten“ spricht die Autorin Sibel Schick über das Gefühl, erfolglos zu sein. Vom Schreiben, sagt sie, könne kaum jemand leben, in den sozialen Medien fände jedoch eine Insze­nie­rung statt, die vorgibt, dass viele Schrei­bende mit dem, was sie tun, erfolg­reich sind.

Schick schreibt:

„Aber auf Insta­gram sieht es irgendwie so aus, als ginge es allen supergut. Sonnen­durch­flu­tete Wohnungen, Reisen, Desi­gner-Klei­dung, ein Meilen­stein nach dem anderen. Warum? Warum bekomme ich auf Insta­gram dein Eindruck, dass ich die Einzige bin, der es beruf­lich nicht gut geht? Warum spre­chen nicht mehr Menschen über die Erfah­rung, erfolglos zu sein, sich kaum über Wasser halten zu können, jeden Monat Dispo zu haben? Können wir es bitte norma­li­sieren, darüber zu spre­chen, wenn es uns finan­ziell nicht ganz gut geht?“

Was ich mich frage: Brau­chen wir diese Insze­nie­rung – oder würde es uns nicht sogar guttun, wenn wir uns ehrlich machen würden, indem wir sagen: „Die letzten Monate waren hart. Ich habe mit meinem Buch nicht das erreicht, was ich wollte?“

Ich stellte mir vor, wie pein­lich es wäre, meinem Umfeld einzu­ge­stehen, dass ich mich verkal­ku­liert hatte, dass ich mich damit kaum finan­ziell über Wasser halten könnte.

Als ich ange­fangen habe, an meinem ersten Buch zu schreiben, dachte ich mir, ich versuche, vom Schreiben zu leben. Wenn ich es mit dem ersten Buch nicht schaffen sollte, wäre ich geschei­tert. Ich stellte mir vor, wie pein­lich es wäre, meinem Umfeld einzu­ge­stehen, dass ich mich verkal­ku­liert hatte, dass ich mich damit kaum finan­ziell über Wasser halten könnte. Undenkbar. Dann lieber aufhören.

Natür­lich wäre es toll, von dem zu leben, was man liebt, und womit man gerne den ganzen Tag verbringt. Aber bin ich, ist Sibel Schick geschei­tert, weil wir daran arbeiten, von unserem Beruf zu leben, es manchmal aber nicht funk­tio­niert? Ich bin mir nicht sicher. 

Statt­dessen täte es gut, mit mehr Ehrlich­keit über seinen Beruf zu sprechen.

Ehrli­ches Scheitern

Fangen wir gleich damit an. Ich habe Angst vor den Sommer­mo­naten, in denen ich nur wenige Lesungen und Podien habe, die meine Rech­nungen bezahlen. Auch im Januar und Februar war es finan­ziell schwierig für mich, über die Runden zu kommen. Um mich zu finan­zieren, arbeite ich zwei Tage die Woche für ein Medium und bereite Texte auf. Mein Schreiben und der Versuch, mich zu finan­zieren, läuft nicht so, wie ich es geplant hatte.

In einem System zu leben, das uns entfremdet und uns ausbeutet, ist es schwer, bei sich zu bleiben. Für meinen Essay­band, der im Mai erscheint, habe ich mit einigen Menschen in meinem Umfeld – alle aus der unteren Klasse – über ihr Leben gespro­chen und darüber, wie sie darauf schauen. 

Einer von ihnen, sein Künst­ler­name ist Yaso, zieht nachts um die Häuser und bemalt Wände und Häuser­fas­saden. Wird er geschnappt, ist er ein erneu­erter Beweis dafür, dass Menschen aus der unteren Klasse nicht voran­kommen, dass sie Stress mit Gerichten und Buss­gel­dern haben. Wird er geschnappt, gilt er gesell­schaft­lich als jemand, der geschei­tert ist.

Was Yaso aber macht: Er weist diese Logik zurück. Er weigert sich, sein Tun als Schei­tern zu begreifen. Malen ist für ihn ein Projekt der Selbst­ver­wirk­li­chung, da kann er derje­nige sein, der er wirk­lich ist. Diese Deutungs­ho­heit über sein Leben kann jeder­zeit verloren gehen, aber wichtig ist erst mal, dass er für sich einen Mehr­wert aus seiner Entschei­dung zieht, nachts um die Häuser zu ziehen.

Die Folgen der ausbeu­te­ri­schen Gesell­schaft, in der wir leben, werden uns als persön­li­ches Schei­tern ange­la­stet und individualisiert.

Wenn man Yaso, Sibel Schick oder mich fragen würde, ob wir uns ein besseres Leben vorstellen könnten, würde viel­leicht der ein oder die andere von uns sagen: mehr Geld, mehr Respekt, das wäre es. Und dennoch ziehen wir es durch, den Wider­ständen zum Trotz und versu­chen ein Maximum an Selbst­be­stim­mung zu errei­chen, da wo es für uns nicht vorge­sehen ist. Und das ist es, worauf es ankommt.

Die Folgen der ausbeu­te­ri­schen Gesell­schaft, in der wir leben, werden uns als persön­li­ches Schei­tern ange­la­stet und indi­vi­dua­li­siert. Es liegt nicht an Schick, dass sie Phasen hat, in denen sie nicht genug Geld verdient.

Dies können wir gleich­zeitig unter­laufen, indem wir uns sagen: Zwischen meiner Vorstel­lung und der Realität klafft eine Lücke, die sich nur schliessen lässt, wenn ich mir ab und an einge­stehe, dass ich manche Dinge, die ich mir vorge­nommen habe, nicht erreicht habe. Viel­leicht auch gar nicht errei­chen kann. Das geht besser, wenn wir Menschen, die diese Form der Ehrlich­keit prak­ti­zieren, dafür nicht auch noch abwerten.


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