AHV: Kollaps­mär­chen statt Klassenpolitik

Die AHV ist nicht kurz vor dem Kollaps. Sie ist gefangen in einem poli­ti­schen Denken, das Wachstum voraus­setzt und die Kauf­kraft schwächt. 
Der Bund setzt erneut auf die Mehrwertsteuer und Lohnprozente, um die AHV zu finanzieren. (Bild: Mario Heller / Unsplash)

Es gibt die Fabel eines Hirten­jungen. Aus Lange­weile ruft er „Wolf!” und die Dorfbewohner*innen eilen verge­bens herbei. Als irgend­wann tatsäch­lich ein Wolf vor ihm steht, kommt ihm niemand zur Hilfe.

Der Diskurs rund um die AHV-Finan­zie­rung straft die Fabel Lügen. Seit Jahr­zehnten warnen der Bundesrat und die bürger­li­chen Parteien, dass der vermeint­liche Kollaps des Sozi­al­werks kurz bevor­steht. Wieder und wieder rufen sie „Wolf!” in den Blät­ter­wald und die ganze medial-poli­ti­sche Maschi­nerie stürmt ihnen zur Hilfe. Auch wenn der Kollaps nie eintritt. Mitunter, weil sich in die Prognosen ein milli­ar­den­schwerer Rech­nungs­fehler einge­schli­chen hatte, wie die Öffent­lich­keit im Spät­sommer 2024 erfuhr.

Die AHV bleibt so weiterhin im Produk­ti­ons­pa­ra­digma gefangen.

Andere Male, weil das zustän­dige Bundesamt für Sozi­al­ver­si­che­rungen (BSV) zu konser­vativ rechnet und dabei Zuwan­de­rung und Wirt­schafts­wachstum unter­schätzt, die beide die Einnahmen der AHV stei­gern. In den elf Jahren zwischen 2008 und 2019 hat das BSV für jedes Jahr ein nega­tives Umla­ge­er­gebnis progno­sti­ziert, nur in drei Jahren ist es tatsäch­lich einge­troffen. Und der AHV-Fonds, das Siche­rungs­netz, ist mit 46 Milli­arden. gut gefüllt.

Gefangen im Wachstumszwang

Hinter diesen unge­nauen Prognosen steckt keine Verschwö­rung der Verwal­tung, sondern teils sinn­volle finanz­po­li­ti­sche Vorsicht – der Staat sollte mit den hart­ver­dienten Renten nicht leicht­sinnig umgehen – und teils sinn­lose poli­ti­sche Eitel­keit. Aus demselben Grund budge­tieren Gemeinden Defi­zite und erzielen dann Über­schüsse: Kein Gemein­de­prä­si­dent, keine Bundes­rätin präsen­tiert gerne rote Zahlen.

Das ist der Hinter­grund, vor dem man die neue Stoss­rich­tung für die AHV verstehen muss, die der Bundesrat vergan­gene Woche präsen­tiert hat. Um die Finanz­lage von 2030 bis 2040 zu stabi­li­sieren, will der Bundesrat erneut auf den bewährten Zwei­händer der AHV-Finan­zie­rung zurück­greifen: Er plant, die Mehr­wert­steuer und die Lohn­pro­zente zu erhöhen.

Der Bundesrat will weder eine Finanz­trans­ak­ti­ons­steuer noch eine Grund­stück­ge­winn- oder Erbschafts­steuer einführen, um die AHV zu finanzieren.

Diese Stoss­rich­tung ist aus drei Gründen proble­ma­tisch. Erstens ist eine höhere Mehr­wert­steuer unso­li­da­risch. Sie fällt bei den unteren und mitt­leren Einkommen stärker ins Gewicht als bei den oberen. Zwei­tens schwächt die Kombi­na­tion aus stei­gender Mehr­wert­steuer und höheren Lohn­pro­zenten die Kauf­kraft der Lohnarbeiter*innen, die bereits unter stei­genden Kran­ken­kassen- und Miet­preisen leiden. Umso mehr, weil auch die Finan­zie­rung der 13. AHV, die ab Dezember 2026 erst­mals ausbe­zahlt werden soll, offenbar über genau die glei­chen Stell­schrauben erfolgen soll.

Und drit­tens bleibt die AHV so weiterhin im Produk­ti­ons­pa­ra­digma gefangen. Die Finan­zie­rung über Lohn­pro­zente ist zwar sozial, da sie stark Geld von oben nach unten in der Einkom­mens­leiter umver­teilt. Aber sie setzt auch stän­diges Wirt­schafts­wachstum voraus: Nur wenn die Löhne regel­mässig steigen, fliessen auch mehr Einnahmen in die AHV. Und diese sind nötig, um die Renten der wach­senden Gruppe an Rentner*innen zu finanzieren.

Schluss mit den Schulterblicken

Aus dem Produk­ti­ons­pa­ra­digma bricht man so schnell auch nicht aus. Selbst anderen Finan­zie­rungs­vor­schläge, die sozi­al­ver­träg­li­cher als höhere Lohn­pro­zente und Mehr­wert­steuern wären und die der Bundesrat erst gar nicht prüfen möchte, setzten mal stärker, mal schwä­cher auf ein Wirt­schafts­wachstum ab. Der Bundesrat will weder eine Finanz­trans­ak­ti­ons­steuer noch eine Grund­stück­ge­winn- oder Erbschafts­steuer einführen, um die AHV-Finan­zie­rung zu sichern. Auch diese Mass­nahmen wären keine Heils­bringer, sie würden aber – wie Lohn­pro­zente – die Wohl­ha­benden stärker bela­sten, ohne gleich­zeitig die Kauf­kraft der Lohnarbeiter*innen glei­cher­massen zu schmälern.

Wie eine vom Produk­ti­ons­pa­ra­digma entkop­pelte AHV-Finan­zie­rung aussehen könnte – dass ist eine der grossen sozi­al­po­li­ti­schen Fragen für die Zukunft. Und wenn wir nicht ständig aus Angst vor einem Wolf über die Schulter blicken müssten, wären wir der Lösung womög­lich schon einen Schritt näher.


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