Es gibt die Fabel eines Hirtenjungen. Aus Langeweile ruft er „Wolf!” und die Dorfbewohner*innen eilen vergebens herbei. Als irgendwann tatsächlich ein Wolf vor ihm steht, kommt ihm niemand zur Hilfe.
Der Diskurs rund um die AHV-Finanzierung straft die Fabel Lügen. Seit Jahrzehnten warnen der Bundesrat und die bürgerlichen Parteien, dass der vermeintliche Kollaps des Sozialwerks kurz bevorsteht. Wieder und wieder rufen sie „Wolf!” in den Blätterwald und die ganze medial-politische Maschinerie stürmt ihnen zur Hilfe. Auch wenn der Kollaps nie eintritt. Mitunter, weil sich in die Prognosen ein milliardenschwerer Rechnungsfehler eingeschlichen hatte, wie die Öffentlichkeit im Spätsommer 2024 erfuhr.
Die AHV bleibt so weiterhin im Produktionsparadigma gefangen.
Andere Male, weil das zuständige Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) zu konservativ rechnet und dabei Zuwanderung und Wirtschaftswachstum unterschätzt, die beide die Einnahmen der AHV steigern. In den elf Jahren zwischen 2008 und 2019 hat das BSV für jedes Jahr ein negatives Umlageergebnis prognostiziert, nur in drei Jahren ist es tatsächlich eingetroffen. Und der AHV-Fonds, das Sicherungsnetz, ist mit 46 Milliarden. gut gefüllt.
Gefangen im Wachstumszwang
Hinter diesen ungenauen Prognosen steckt keine Verschwörung der Verwaltung, sondern teils sinnvolle finanzpolitische Vorsicht – der Staat sollte mit den hartverdienten Renten nicht leichtsinnig umgehen – und teils sinnlose politische Eitelkeit. Aus demselben Grund budgetieren Gemeinden Defizite und erzielen dann Überschüsse: Kein Gemeindepräsident, keine Bundesrätin präsentiert gerne rote Zahlen.
Das ist der Hintergrund, vor dem man die neue Stossrichtung für die AHV verstehen muss, die der Bundesrat vergangene Woche präsentiert hat. Um die Finanzlage von 2030 bis 2040 zu stabilisieren, will der Bundesrat erneut auf den bewährten Zweihänder der AHV-Finanzierung zurückgreifen: Er plant, die Mehrwertsteuer und die Lohnprozente zu erhöhen.
Der Bundesrat will weder eine Finanztransaktionssteuer noch eine Grundstückgewinn- oder Erbschaftssteuer einführen, um die AHV zu finanzieren.
Diese Stossrichtung ist aus drei Gründen problematisch. Erstens ist eine höhere Mehrwertsteuer unsolidarisch. Sie fällt bei den unteren und mittleren Einkommen stärker ins Gewicht als bei den oberen. Zweitens schwächt die Kombination aus steigender Mehrwertsteuer und höheren Lohnprozenten die Kaufkraft der Lohnarbeiter*innen, die bereits unter steigenden Krankenkassen- und Mietpreisen leiden. Umso mehr, weil auch die Finanzierung der 13. AHV, die ab Dezember 2026 erstmals ausbezahlt werden soll, offenbar über genau die gleichen Stellschrauben erfolgen soll.
Und drittens bleibt die AHV so weiterhin im Produktionsparadigma gefangen. Die Finanzierung über Lohnprozente ist zwar sozial, da sie stark Geld von oben nach unten in der Einkommensleiter umverteilt. Aber sie setzt auch ständiges Wirtschaftswachstum voraus: Nur wenn die Löhne regelmässig steigen, fliessen auch mehr Einnahmen in die AHV. Und diese sind nötig, um die Renten der wachsenden Gruppe an Rentner*innen zu finanzieren.
Schluss mit den Schulterblicken
Aus dem Produktionsparadigma bricht man so schnell auch nicht aus. Selbst anderen Finanzierungsvorschläge, die sozialverträglicher als höhere Lohnprozente und Mehrwertsteuern wären und die der Bundesrat erst gar nicht prüfen möchte, setzten mal stärker, mal schwächer auf ein Wirtschaftswachstum ab. Der Bundesrat will weder eine Finanztransaktionssteuer noch eine Grundstückgewinn- oder Erbschaftssteuer einführen, um die AHV-Finanzierung zu sichern. Auch diese Massnahmen wären keine Heilsbringer, sie würden aber – wie Lohnprozente – die Wohlhabenden stärker belasten, ohne gleichzeitig die Kaufkraft der Lohnarbeiter*innen gleichermassen zu schmälern.
Wie eine vom Produktionsparadigma entkoppelte AHV-Finanzierung aussehen könnte – dass ist eine der grossen sozialpolitischen Fragen für die Zukunft. Und wenn wir nicht ständig aus Angst vor einem Wolf über die Schulter blicken müssten, wären wir der Lösung womöglich schon einen Schritt näher.
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