„Hijueputa! Petro hat schon 400’000 Stimmen Vorsprung“, schreit Mario Laborde, springt von seinem Stuhl auf und holt ein Sixpack Bier aus dem Kühlschrank. Es ist Nachmittag und soeben hat der Fernsehsender Noticias Caracol die neusten Resultate der kolumbianischen Präsidentschaftswahlen bekannt gegeben. Zu diesem Zeitpunkt sind 48 Prozent der Stimmen ausgezählt. Kurz nach der Schliessung der Wahlbüros um 16 Uhr präsentieren die kolumbianischen TV-Sender bereits die ersten Resultate.
Der linke Kandidat Gustavo Petro liegt vorne, die Distanz zum parteilosen Gegner Rodolfo Hernández ist allerdings moderat. Alle paar Minuten werden neue Resultate publiziert und als nach einer knappen Stunde achtzig Prozent der Stimmen ausgezählt sind, hört man durch das Fenster plötzlich die Freudenschreie der Menschen, Autohupen und das Knallen von Feuerwerkskörpern. Es ist klar: Kolumbien hat zum ersten Mal in seiner Geschichte einen linken Präsidenten.
Schon am Sonntagmorgen hatte Laborde als einer der wenigen an den Sieg Gustavo Petros geglaubt. Er wohnt im historischen Zentrum von Bogotá. Auf der Nordseite des Hauses, das er sich mit Freunden teilt, erhebt sich Bogotás Hausberg, der Monserrate, durch die Fenster auf der anderen Seite sieht man auf die darunterliegende Stadt. Er trinkt den letzten Schluck seines Kaffees, bevor er sich auf den Weg zum ihm zugeteilten Wahlbüro in einem anderen Stadtteil macht.
Kaum auf der Strasse, fängt er an zu erzählen. „Es wird knapp“, meint der 32-jährige Produzent für audiovisuelle Medien. Er glaube aber, dass Gustavo Petro die kolumbianischen Präsidentschaftswahlen gewinnen könne. „Es ist jetzt oder nie“, sagt er und meint damit die Möglichkeit für einen tatsächlichen Wandel im bevölkerungsmässig zweitgrössten Land Südamerikas. Sollte der von der Rechten unterstützte Kandidat, der 77-jährige Hitler-Fan Rodolfo Hernández, gewinnen, würde das die junge linke Bewegung Kolumbiens für Jahre lahmlegen, glaubt Laborde.
„Petro ist maximal ein Sozialdemokrat“
Während des knapp 40-minütigen Spaziergangs von der Altstadt ins Viertel Teusaquillo erklärt Laborde, weshalb er für den 62-jährigen Kandidaten vom Pacto Histórico, einer Koalition aus verschiedenen linken Parteien und Bewegungen, stimmen will. Wie viele der jungen und gebildeten Einwohner*innen Bogotás hält auch er Petro nicht ansatzweise für so links, wie ihn rechte Kreise darstellen. „Er ist maximal ein Sozialdemokrat“, meint er lachend und fügt im selben Satz hinzu: „Aber das ist natürlich trotzdem bei Weitem die beste Alternative.“
Der aus Santa Marta an der karibischen Küste stammende Laborde lebt seit acht Jahren in der Hauptstadt und hat die zwei letzten Amtsjahre noch miterlebt, in denen Petro das Amt des Oberbürgermeisters von Bogotá innehatte. Eine Amtszeit, die Laborde positiv bewertet. „Er hat hier viel verändert, insbesondere im sozialen Bereich“, erzählt er und spielt damit etwa auf Erfolge im Rahmen des Programms Bogotá Humana an, das mehr Kinder ins Schulsystem integriert und den Zugang zum Gesundheitswesen für Menschen aus armen Vierteln verbessert hat. Petro würde sich auch als Präsident für mehr Chancengleichheit engagieren, glaubt der studierte Filmwissenschaftler.
Nach zehn Minuten biegt Laborde auf die Carrera Séptima ab. In der Fussgängerzone ist wie üblich viel los. Strassenverkäufer*innen bieten gebrauchte und neue Kleidung, Spielzeug und handgemachten Schmuck feil, aus unzähligen kleinen Wagen werden frischgepresste Limonade, frittierte Empanadas und Hamburger verkauft. In vielen Teilen des Landes war die Stimmung kurz vor den Wahlen extrem angespannt – oder sogar tödlich: Im Departement Cauca im Südwesten des Landes wurden am Sonntagmorgen Roberto Carlos Rivas und Jersain de Jesús Ramírez, die mit dem Pacto Histórico in Verbindung standen, ermordet.
Im Zentrum Bogotás merkt man davon am Wahltag nicht viel, die Stimmung ist aufgeregt und fröhlich, aus kleinen Lautsprechern klingt Salsa, die Polizei und das Militär halten sich im Hintergrund. Hier waren in den vergangenen Tagen noch vereinzelt Gruppen unterwegs, die mit subversiven Methoden für den Kandidaten der Linken warben. Etwa eine Gruppe von Jugendlichen, die Lebensläufe von Gustavo Petro verteilte, ein Dutzend Velofahrer*innen, die Fähnchen des Pacto Histórico an ihren Rädern angebracht hatten.
Bogotá wählt traditionell eher links
Oder eine Gruppe junger Personen, die mit Trommeln durch die Strassen zogen und Slogans für Gustavo Petro skandierte. Subversiv mussten die Aktionen sein, weil während acht Tagen vor den Wahlen jeweils keine politischen Demonstrationen mehr erlaubt sind. Dass die erwähnten Interventionen alle den linken Kandidaten unterstützten, ist kein Zufall, wählt Bogotá doch traditionell, wie auch in diesem Jahr, eher links.
„Jetzt bin ich richtig aufgeregt“, sagt Laborde und lacht, als er beim Wahllokal eintrifft, das sich in einem Amtsgebäude befindet. Er hat seine Stimmrechtskarte dabei und zeigt sie den Polizist*innen beim Einlass, bevor er in einem der weissen Zelte verschwindet, wo er sein Kreuz für Petro setzen wird. Ein älterer Mann in der Uniform des Transportunternehmens TransMilenio nähert sich. „Könnten Sie bitte ein Foto von mir machen, mit dem Wahllokal im Hintergrund?“
Er stellt sich auf den Gehweg vor der Schule, in der Hand ein kleines Stück Papier, dass seine Teilnahme an den Wahlen bestätigt und das einige Arbeitnehmende ihren Vorgesetzten vorzeigen müssen, weil sie für die Teilnahme an den Wahlen einen halben Tag frei kriegen. Er will zunächst nicht sagen, für wen er gestimmt hat. „Das ist eine Privatsache“, sagt er und lacht verlegen. In Kolumbien üben die Arbeitgeber*innen in vielen Fällen Druck auf ihre Mitarbeitenden aus. Oft werden daher die von der Firma bevorzugte Kandidierenden gewählt, um einen Jobverlust zu vermeiden – auch wenn die Wählenden anders denken.
„Habe soeben für Petrosky gestimmt“
Als Laborde nach fünf Minuten strahlend auf die Strasse tritt, entwickelt sich ein Gespräch zwischen den beiden. Sobald der Busfahrer hört, dass Laborde für Petro gestimmt hat, entspannt er sich und meint: „Ich hoffe sehr, dass er gewinnt, aber in den Medien sind sie ständig darauf herumgeritten, dass er ein Ex-Guerillero ist.“ Nicht nur die Vergangenheit Petros in der intellektuellen Guerilla M‑19 wurde von seinen Gegner*innen betont. Er wird, seit er 2018 zum ersten Mal für die Präsidentschaftswahlen kandidierte, als Linksextremer dargestellt, als Kommunist, der die Reichen enteignen und Kolumbien in ein zweites Venezuela verwandeln will.
Laborde schickt einem Freund auf Whatsapp ein Foto seines Wahlzettels und schreibt dazu: „Habe soeben für Petrosky gestimmt.“ Seit Petro im Wahlkampf von 2018 eine Allianz mit Russland und Venezuela unterstellt wurde, kursiert unter Linken dieser scherzhaft gemeinte Spitzname, der die Absurdität der Unterstellungen unterstreicht. Petro ist aber nicht nur Ex-Guerillero, er stammt auch aus einer Bauernfamilie. Ähnlich wie seine Vize-Präsidentin Francia Márquez die aus armen Verhältnissen stammt. „Bisher hatten wir immer Präsidenten, die aus reichen Familien stammten und zum Establishment gehörten“, sagt Laborde, während er sich auf den Weg macht, um zu seiner Wohnung zurückzukehren.
Sechs Stunden später steht bereits fest, dass das, was auch viele von Petros Unterstützer:innen nicht für möglich gehalten hätten, tatsächlich Wirklichkeit wird. Auch wenn das Resultat mit rund drei Prozentpunkten Vorsprung eher knapp ist, steht fest: Kolumbien hat seine erste linke Regierung. Das Fernsehen zeigt Bilder jubelnder Menschen aus verschiedenen grossen Städten im Südwesten, der Küste und aus der Hauptstadt. In Bogotá blockieren Autos die Strassen und Hauptverkehrsachsen wie die Avenida Caracas, und obwohl um 17 Uhr ein starker Regen einsetzt, kursieren schon nach kurzer Zeit Videos, die zeigen, wie Leute in den verschiedensten Vierteln auf die Strasse strömen und tanzen, auf Autos herumspringen und Feuerwerkskörper zünden.
Politik „der Liebe und des Friedens“
In der Movistar Arena, einem Stadion im Zentrum Bogotás, wo sich die Anhänger:innen des Pacto Histórico versammelt haben, treten der neue Präsident und seine Vize-Präsidentin um 19.30 endlich ans Mikrofon, um sich zu bedanken, um zu bekräftigen, dass sie sich für soziale Gerechtigkeit einsetzen und für eine Politik „der Liebe und des Friedens“ einstehen wollen. Viel Pathos, das findet auch Laborde, der die Reden am Computer verfolgt, vor dem er seit mehreren Stunden sitzt und Wahl-TV schaut, währenddem er gleichzeitig an seinem Handy unzählige Text- und Sprachnachrichten verschickt und empfängt, mit Freund*innen und seiner Mutter in Santa Marta telefoniert.
Laborde wartet zu Hause ungeduldig auf einen Freund, der bei ihm übernachten soll, und geht immer mal wieder ans Fenster, um zu beobachten, was draussen passiert. Um halb zehn Uhr tritt er schliesslich auf die Strasse, um zum rund fünf Minuten entfernten Plaza Bolivar zu gelangen. Am östlichen Rand des Platzes trifft er auf eine Gruppe von Freund*innen, die meisten sind Musiker*innen oder Künstler*innen. Einer von ihnen, der wie so viele hier trotz des landesweiten Trinkverbots während der Wahlen eine Flasche Whisky in der Hand hält, ist Larry Paipa.
Der Afrokolumbianer ist Filmemacher und hat sich in den vergangenen fünfzehn Jahren immer wieder für Petro eingesetzt, wie er erzählt. „Nicht für Geld, einfach so, ich habe immer mal wieder Filme gemacht, um seine Kampagnen zu unterstützen.“ Es sei ein unglaublich glücklicher Tag für ihn, sagt er. Und betont: „Egal, was in den nächsten vier Jahren passiert, die Tatsache, dass diese zwei Leute heute gewählt wurden, ist ein Zeichen dafür, dass Kolumbien sich bereits verändert hat.“ Insbesondere die Bedeutung der Wahl von Francia Márquez, die damit als erste Afrokolumbianerin ins Amt der Vizepräsidentin tritt, sei gar nicht zu überschätzen, meint der Filmemacher.
„Sie hat auch Teller gewaschen“
Er holt sein Handy hervor und zeigt ein Bild einer älteren Schwarzen Frau. Es ist seine Mutter. „Siehst du, was ich meine?“ Seine Mutter sei bitterarm aufgewachsen, diskriminiert worden, habe ihr Leben lang die Kleidung anderer Leute gewaschen. „Genau wie Francia Márquez, sie hat auch Teller gewaschen“, so Paipa. Und genau wie Márquez habe auch seine Mutter den sozialen Aufstieg geschafft und nach ihrer Pensionierung ein eigenes Geschäft gegründet. „Sie ist jetzt Chefin“, sagt Paipa, sichtlich gerührt. Er zeigt ein Video seiner Mutter im weissen Kleid, die auf der Strasse zwischen Autos tanzt, bevor er sich verabschiedet und mit seinen Freund*innen losgeht, um zu Hause weiterzufeiern.
Nach Bekanntgabe des Resultats sind von überall her Leute auf den Plaza Bolivar vor dem Regierungsgebäude geströmt, auf dem Schätzungen zufolge über 45’000 Menschen Platz haben. Als Mario Laborde eintrifft, regnet es wieder stärker. Der Platz hat sich geleert und doch sind immer noch mehrere Tausend Menschen vor Ort. Einige tanzen Salsa, andere haben sich um ein paar Musiker*innen geschart, die laut und rhythmisch auf ihre Trommeln schlagen. Trotz des starken Regens hüpfen sie auf und ab und schreien im Chor: „Si se puede“ – Ja, es ist möglich. Laborde macht sich, immer noch auf dem ganzen Gesicht strahlend, langsam auf den Rückweg. Obwohl er müde ist von diesem historischen Tag, wird er zu Hause weiterfeiern.
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