„Die Frei­heit für Petro zu stimmen, habe ich mir erarbeitet“

In Kolum­bien liefern sich der linke Gustavo Petro und der Unter­nehmer Rodolfo Hernández ein Kopf-an-Kopf-Rennen um die Präsi­dent­schaft. Ob das Ausscheiden des rechten Federico ‚Fico‘ Gutiérrez in der ersten Wahl­runde auch das Ende des tradi­tio­nellen kolum­bia­ni­schen Regie­rungs­sy­stems bedeutet und somit ein tatsäch­li­cher Wandel ansteht, wird sich noch zeigen. Denn die Lebens­um­stände entscheiden in Kolum­bien mass­geb­lich über die poli­ti­sche Mitbestimmung. 
Kolumbien wählt. Am Sonntag wird das Land über einen neuen Präsidenten entscheiden. (Bild: Flavia Carpio / Unsplash)

Die Tage kurz von den Wahlen sind lang, Anspan­nung liegt in der Luft. Die Kolumbianer*innen wollen wissen, ob die Stich­wahl vom kommenden Sonntag (19. Juni) den Weg für eine neue Zukunft legen wird, was sich in Gesprä­chen am Mittags­tisch sowie auf der mit Wahl­pla­katen voll­ge­pfla­sterten Strasse ausdrückt. Auch Andres Perez* (34) löst seinen Blick selbst während des Mittag­essens kaum vom Handy. Nach­richten über die beiden Kandi­daten schwirren über den kleinen Bildschirm.

Er schüt­telt den Kopf: „Unglaub­lich, was wieder für Mist gepo­stet wird, sie setzen alles daran, einen Sieg Petros zu verhin­dern“, meint er und steckt das Handy ener­gisch in seine Hosen­ta­sche. Doch auch wenn er nicht wirk­lich daran glaubt, Perez hofft auf einen Wandel: „Für mich geht es nicht um links und rechts oder einen Leader. Viel­mehr geht es um das Ende von Klien­te­lismus, Korrup­tion, histo­ri­scher Vettern­wirt­schaft und des Drogen­han­dels mit all seinen Ausläu­fern, die Jahr für Jahr den Namen dieses Landes in Verruf gebracht haben.“

Der ehema­lige Bürger­mei­ster von Bogotá Gustavo Petro kandi­diert für die progres­sive Koali­tion Pacto Histórico, mit der afro-kolum­bia­ni­schen Akti­vi­stin Francia Márquez als Vizepräsidentin.

Gustavo Petro war Mitglied der poli­ti­schen Bewe­gung Alianza Demo­crá­tica M‑19 (Movi­mi­ento 19 de abril), einer poli­tisch-mili­tä­ri­schen Guerilla, die nach dem Wahl­be­trug von 1970, der von der Regie­rung und ihren tradi­tio­nellen Parteien gegen­über der Oppo­si­tion insze­niert wurde, entstand. Er war ein unbe­waff­neter Kämpfer und beklei­dete in der Bewe­gung ein poli­ti­sches Amt.

Petros Vergan­gen­heit wird von seinen poli­ti­schen Gegner*innen gegen ihn benutzt, auch weil die M‑19 für den Anschlag auf den kolum­bia­ni­schen Justiz­pa­last in Bogotá am 6. November 1985 verant­wort­lich war.

Petro wurde 1991 in einer Volks­wahl Mitglied der Abge­ord­ne­ten­kammer für das Depar­te­ment Cundi­na­marca. Von 1994 bis 1996 arbei­tete er an der kolum­bia­ni­schen Botschaft in Belgien als diplo­ma­ti­scher Attaché für Menschen­rechte und kandi­dierte 1998 für das Abge­ord­ne­ten­haus im Wahl­kreis Bogotá. Von 2006 bis 2010 war Gustavo Petro Senats­ab­ge­ord­neter und wurde 2012 zum Bürger­mei­ster von Bogotá gewählt – ein Amt, das er bis 2015 innehatte.

Bei seiner ersten Kandi­datur für das Präsi­dent­schaftsamt im Jahr 2018 mit der Bürger­be­we­gung Colombia Humana erhielt er acht Millionen Stimmen.

Perez stammt aus einer klei­neren Stadt im Depar­te­ment Cundi­na­marca in der Nähe von Bogotá. Nach der Grund­schule finan­zierte er sich sein Studium zum Buch­halter mit Über­stunden in einer Bar sowie seinem Geschick für den Klein­handel. Wie viele Kolumbianer*innen musste er seinen Heimatort aus wirt­schaft­li­chen Gründen verlassen, doch er hatte Glück: Einer seiner Chefs wurde auf ihn aufmerksam und förderte ihn – wegen seiner Pünkt­lich­keit und seines Pflicht­be­wusst­seins, wie Perez meint.

Demo­kra­ti­scher Wandel oder Neoliberalismus

Es geht um zwei Zukunfts­mo­delle: Während der progres­sive Gustavo Petro (Pacto Histórico) mit einem konkreten Programm einen demo­kra­ti­schen Wandel und bei öffent­li­chen Reden das Ende des Rechts­kon­ser­va­tismus verspricht, will der partei­lose Unter­nehmer Rodolfo Hernández (Liga de Gober­nantes Anti­cor­rup­ción) „Kolum­bien wie eine Firma führen“. Von den rund 20 Millionen abge­ge­benen Stimmen im ersten Wahl­gang gingen 8,5 Millionen an Petro und rund 5,9 Millionen an Hernández. 

Der Bauun­ter­nehmer Rodolfo Hernández Suárez war von 2016 bis 2019 Bürger­mei­ster von Buca­ra­manga im Depar­te­ment Santander. Hernández vertritt zusammen mit Marelen Castillo die Bewe­gung Liga de Gober­nantes Anticorrupción.

Er finan­zierte seinen Bürger­mei­ster­wahl­kampf selbst und hatte während seiner Amts­zeit mehrere Kontro­versen, darunter ein gewalt­tä­tiger Angriff auf ein Rats­mit­glied, der zu einer drei­mo­na­tigen Suspen­die­rung durch die Staats­an­walt­schaft führte. Natio­nale und inter­na­tio­nale Medien bezeichnen ihn stets als den „kolum­bia­ni­schen Donald Trump“. Er hat mehr­fach erklärt, dass er Kolum­bien im Falle eines Sieges wie ein „Unter­nehmen“ führen wird. Wie der ehema­lige US-Präsi­dent stellt er sich als Self­made-Millionär dar, der nichts mit der herr­schenden Elite in Kolum­bien zu tun hat, und sorgt immer wieder für Kontro­versen im Land, weil er sich als Hitler-Fan äussert oder Frauen öffent­lich diskriminiert. 

Hernández ist ein Wirt­schafts­ma­gnat, der in den letzten drei Monaten in Kolum­bien an Einfluss gewonnen hat. Er hat eine Sonn­tags­ko­lumne in der Zeitung des Depar­te­ments Buca­ra­manga Vanguardia Liberal, in der er über seine poli­ti­schen Ideen spricht. Sein Image basierte auf einer starken Anti­kor­rup­ti­ons­bot­schaft. Doch derzeit läuft gegen ihn ein Verfahren, da er angeb­lich einen Auftrag im Wert von mehr als 500 Milli­arden Pesos (125 Millionen Franken) unter der Hand vergeben haben soll. 

Laut der aktu­ellen wöchent­li­chen Wahl­um­frage von Invamer im Auftrag des kolum­bia­ni­schen Senders Caracol verlor Petro in den letzten zwei Monaten knapp zehn Prozent der Wähler*innen.

 (Screen­shot Youtube/Noticias Caracol)

Kurz nachdem Hernández über­ra­schend den zweiten Platz im ersten Wahl­gang belegt hatte, distan­zierte er sich vom Centro Demo­crá­tico, der Partei des ehema­ligen Präsi­denten Álvaro Uribe. Die Mitglieder des Centro Demo­crá­tico haben jedoch noch am selben Abend erklärt, dass sie ihn am 19. Juni unter­stützen werden. In euro­päi­schen Medi­en­be­richten wird derweil Gustavo Petros Triumph in der ersten Runde über Federico ‚Fico‘ Gutiérrez, dem Kandi­daten der herr­schenden Elite, als „Unter­gang des Uribismus und Aufkommen des Neuen“ ange­kün­digt. Doch wie zutref­fend ist diese Einschätzung? 

Der Uribismo (Uribismus) ist in Kolum­bien die Bezeich­nung für die poli­ti­sche Bewe­gung, die auf den Ideen des ehema­ligen Präsi­denten Álvaro Uribe Vélez basiert.

Der schei­dende Präsi­dent Iván Duque, Vertreter des Demo­kra­ti­schen Zentrums, der Partei Uribes, wird auch oft Sub-Präsi­dent von Uribe genannt, weil dessen Einfluss immer noch stark ist. Während Uribes Regie­rungs­zeit von 2002 bis 2010 wurden minde­stens 6’402 Zivi­li­sten durch das kolum­bia­ni­sche Militär umge­bracht und im Nach­hinein als „Gueril­la­kämpfer“ dargestellt. 

Uribe wird von seinen Gegner*innen eben­falls „Vater des Para­mi­li­ta­rismus“ genannt, da bis heute immer wieder neue Verbin­dungen zur para­mi­li­tä­ri­schen AUC (Auto­de­fensas Unidas de Colombia) aufge­deckt werden. Medial wird wenig über die Machen­schaften von Uribe oder der poli­ti­schen Elite berichtet, weil in- und auslän­di­sche Medi­en­kon­zerne im Laufe der Jahre priva­ti­siert wurden. Unab­hän­gige Medien gibt es kaum – oder sie sind zu klein. Ein sehr aktu­elles Beispiel ist die Über­nahme der Wochen­zeit­schrift Semana durch die mäch­tige Gilinski-Gruppe. 

Die Publi­ka­tion hatte fast 40 Jahre lang mit brisanten inve­sti­ga­tiven Berichten und poli­ti­schen Analysen den Ton in der öffent­li­chen Debatte gesteuert und ist mitt­ler­weile eine Art kolum­bia­ni­sche Fox-News in Magazinform. 

Zu den Grund­sätzen des Uribismus gehören die soge­nannte demo­kra­ti­sche Sicher­heit, die Schaf­fung von Vertrauen für natio­nale und inter­na­tio­nale Privat­ka­pi­tal­in­ve­sti­tionen, der soziale Zusam­men­halt (verstanden als „Über­win­dung der Armut“), ein streng geführter Staat und der Dialog mit dem Volk.

„Die Frei­heit für Petro zu stimmen, habe ich mir erarbeitet“

Perez stimmt für Petro und weiss, dass dies vielen miss­fällt. Er arbeitet in einer öffent­li­chen Funk­tion. Das Risiko, aufgrund der poli­ti­schen Gesin­nung den Job zu verlieren, gehört in Kolum­bien zur Realität. Weil er sich aber Kennt­nisse ange­eignet hat, die ihn in seinem Job prak­tisch uner­setzbar machen, kann er sich das erlauben. Er lacht: „Diese Frei­heit habe ich mir erar­beitet.“ Perez reprä­sen­tiert in der oberen Mittel­klasse damit aber eher die Ausnahme. 

Mit den Zurecht­wei­sungen und nega­tiven Kommen­taren seiner Mitar­bei­tenden und Vorge­setzten weiss er umzu­gehen. „Viele meiner Freunde müssen ihre Stimm­karten foto­gra­fieren, um die Stimm­ab­gabe für einen der Kandi­daten nach­zu­weisen“, ergänzt Perez. Gerade in klei­neren Bezirken des Landes mit einer noch grös­seren Arbeits­lo­sig­keit und mehr konzen­trierter Macht gilt: Wer seinen Job behalten will, stimmt für den von der Firma bevor­zugten Kandidaten.

Petro Gustavo und Francia Márquez auf einem Wahl­plakat in Santa Marta, Kolum­bien. (Bild: Samina Stämpfli)

In Santa Marta an der kolum­bia­ni­schen Karibik-Küste poliert Luis Javier Rivera den Bartresen eines inter­na­tio­nalen Nobel­ho­tels. Die Fassade des kleinen Hotel-Restau­rants, in dem er als Barista arbeitet, ist in Pastell­farben gehalten und alles ist mit Rosen deko­riert. Schnell wird klar: Wer hier seinen Kaffee schlürft, hat Geld. Mit dem Einkommen eines Bari­stas gehört Reyes zur unteren Mittel­schicht. Auch er wird für Petro stimmen, weil er glaubt, dass dieser das Leben für die Menschen in Kolum­bien verbes­sern wolle.

Mit seiner Arbeit­ge­berin hatte Rivera Glück. Zum Mindest­lohn zahlt ihm diese auch Renten- und Kran­ken­ver­si­che­rungs­bei­träge. Lange hat es gedauert, bis der 27-Jährige eine Anstel­lung wie diese gefunden hat. Im Gastro­be­reich läuft prak­tisch alles über Bezie­hungen. Rivera „darf“ über Politik reden und abstimmen, für wen er will. „Sie geben uns sogar frei, um stimmen zu gehen“, sagt er. Doch das war lange nicht so. Auch bei sämt­li­chen Kommu­nal­wahlen wurde ihm jeweils von früheren Arbeitgeber*innen „geraten“, für wen er stimmen sollte. 

Dass die Elite kein grosses Geheimnis um solche ille­galen Prak­tiken macht, zeigt der Fall des Lebens­mit­tel­kon­zerns Colanta. In einem Schreiben an die ganze Beleg­schaft hat der Leiter des Konzerns die Beleg­schaft wissen lassen: „Wir leben in komplexen Zeiten, ein entschei­dender Präsi­dent­schafts­wechsel steht bevor, der ein vorher und nachher in Bezug auf die Frei­heit bedeuten könnte, den Weg des Wachs­tums und der Schaf­fung von Arbeits­plätzen fort­zu­setzen.“ Das Schreiben wurde als Unter­stüt­zung für Federico Gutiérrez gewertet und sorgte landes­weit für verschie­dene Reak­tionen aus Politik und Gesell­schaft, bevor die Empö­rung – wie so oft – schnell wieder abklang.

Es handelt sich nicht um Einzelfälle

In der Privat­wirt­schaft werden die Mitar­bei­tenden als cont­ra­ti­stas ange­stellt, diese haben befri­steten Verträge bis zu einem Jahr. „Wer seinen Job behalten will, wählt den Kandi­daten, der von der Firma unter­stützt wird“, sagt Perez. Die Prak­tiken von Colanta seien auf viele Firmen landes­weit über­tragbar: Vorge­setzte würden das Gespräch mit den cont­ra­ti­stas kurz vor Ablauf von deren Verträgen persön­lich suchen. Dort werde ihnen dann mitge­teilt, welche poli­ti­sche Kandi­datur eine weitere Arbeits­be­schäf­ti­gung „gewähr­lei­stet“. 

Der Skandal um eine ehema­lige Kongress­ab­ge­ord­nete, die das Ausmass des Stim­men­kaufs und der Korrup­tion in der kolum­bia­ni­schen Politik in einem Inter­view mit dem kolum­bia­ni­schen Magazin Cambio publik machte, zeigt, dass es sich bei Perez’ Schil­de­rungen nicht um Einzel­fälle handelt. Die Ex-Geliebte von Alejandro Char beschul­digte diesen, zusammen mit anderen Abge­ord­neten Teil eines Netz­werks zu sein, dass in der ganzen Küsten­re­gion Stimmen kaufe. 

Char, ehema­liger Bürger­mei­ster von Barran­quilla, der grössten Stadt an der Karibik-Küste, ist beken­nender Uribist und vermut­lich eine der einfluss­reich­sten Persön­lich­keiten in dieser Region. In vielen Berei­chen des öffent­li­chen Lebens, behaup­tete die ehema­lige Kongress­ab­ge­ord­nete weiter, werden soge­nannte „Vermittler“ einge­setzt, die zwischen Politiker*innen und Wähler*innen vermit­teln und auch Geld dafür bezahlen. Char war nach Federico Gutiérrez in der Equipo por Colombia der zweite Anwärter auf den Präsidentschaftssitz.

Es fängt schon in der Primar­schule an

Im Vorgarten eines Hauses in Armenia, im Depar­te­ment Quindío, west­lich von Bogotá, sitzt die 11-jährige Isabel Reyes* auf einem farbigen Plastik­stuhl, während ihr Gross­vater eine Cazuela de Mariscos, einen Meeres­früchte-Eintopf für das Mittag­essen zube­reitet. Reyes kommt gerade von der Schule, der Ruck­sack liegt zu ihren Füssen. „Mein Lehrer spricht immer über seine poli­ti­sche Meinung, statt uns etwas beizu­bringen“, sagt sie, während sie aufsteht, um ihre Katze zu holen. 

Mit dem Tier im Arm kommt sie zurück und ist sicht­lich genervt: „Ich finde das nicht gut, heute hat er auch wieder mit Uribe ange­fangen.“ Reyes Lieb­lings­fach ist „Mathe­matik und Tech­no­logie“, sie will Stati­sti­kerin werden – wie ihre Mutter. Wenn der Lehrer über Politik spreche, sagt sie, „werden wir faul und lang­weilen uns, denn wir sind Kinder und können ja nicht einmal wählen.“ 

Obwohl solche Szenen in vielen Berei­chen des kolum­bia­ni­schen Lebens statt­finden, sei es schwierig, daran etwas zu ändern, sagt der Barista Rivera. Auch was den Stim­men­kauf angehe. „Es handelt es sich zwar um ein offenes Geheimnis, doch was wird dagegen gemacht?“, fragt er. Im Land werden immer Depar­te­mente ausge­wiesen, bei denen Wahl­un­re­gel­mäs­sig­keiten beob­achtet wurden. Rivera bestä­tigt: „Unter­su­chungen werden zwar einge­leitet, aber laufen dann ins Leere.“ Er fühlt sich wie viele andere Kolumbianer*innen schlicht und einfach „verarscht“. 

Vor der ersten Wahl­runde am 29. Mai kam Kritik an den demo­kra­ti­schen Grund­lagen im Land auf. Doch anstatt inter­na­tio­nale Beobachter*innen ins Land zu lassen, wurde den vom Natio­nalen Wahlrat (CNE) einge­la­denen Beobachter*innen Ende Mai die Einreise nach Kolum­bien von der kolum­bia­ni­schen Migra­ti­ons­be­hörde verwei­gert. Der Natio­nale Wahlrat (CNE) und die Wahl­be­hörde (Regi­stra­duría) schlossen zudem die Beauf­tra­gung eines inter­na­tio­nalen Audits der Soft­ware aus, die für die Auszäh­lung der Stimmen bei den Wahlen am kommenden Sonntag verwendet werden soll.

„In jeder Familie gibt es eine*n Uribista“

„Gestern bin ich aus dem Fami­lien-Chat ausge­treten“, lacht Andres Perez, der inzwi­schen wieder mit seinem Handy beschäf­tigt ist. „In Kolum­bien sagt man in jeder Familie gibt es eine*n Uribista, in meiner sind es fünf.“ Er ist erschöpft. Nicht nur im Berufs­leben muss er sich immer wieder für seinen Wahl­ent­scheid recht­fer­tigen. Auch im privaten Umfeld hat er es sich zur Aufgabe gemacht, die Leute aufzu­klären, wenn sie „einmal mehr das Gefühl haben, dass es bei einem Wahl­sieg Petros zu Enteig­nungen kommen würde“, so Perez und rollt mit den Augen. 

Seiner Meinung nach läuft auf den sozialen Medien poli­tisch so viel, dass das Wesent­liche, also das tatsäch­liche Wahl­pro­gramm der Kandi­die­renden, entweder igno­riert oder über­sehen wird. Rivera bestä­tigt: „Die Leute verbringen lieber den ganzen Tag auf Insta­gram und schauen Videos von Hernández, der auf TikTok pola­ri­siert, als die Wahl­pro­gramme zu lesen und zu entscheiden, was das Beste für sie ist.“ Die Igno­ranz sei gross, viele seiner Freunde hätten resi­gniert und würden sich die Mühe nicht mehr machen, weil sie entweder unter dem Druck der Arbeitgeber*innen stehen oder der Politik über­drüssig sind. In jahre­langer Tradi­tion nimmt jeweils nur die Hälfte der 50 Millionen Einwohner*innen an den Präsi­dent­schafts­wahlen teil.

In Kolum­bien gibt es nicht nur, wie in vielen anderen Ländern, die Wahl zwischen zwei oder mehreren Kandidat*innen. Es gibt zusätz­lich eine „weisse Stimme“. Diese kann abge­geben werden, wenn die stim­mende Person für keine Kandidat*in wählen, aber trotzdem stimmen möchte. 

Die ungül­tige Stimme ist ein demo­kra­ti­scher Mecha­nismus, der geschaffen wurde, um schlechte Kandi­da­turen abzu­lehnen, und der in Artikel 258 der Verfas­sung vorge­sehen ist. Wenn es bei einer Wahl eine Mehr­heit von leeren Stimmen gibt, wird dies so inter­pre­tiert, dass das Volk die Kandi­da­turen abge­lehnt hat, die Veran­stal­tung darf nur einmal wieder­holt werden und die ange­foch­tenen Kandidat*innen dürfen nicht erneut kandidieren.

Die leere Stimme gewinnt, wenn die Summe der gültigen Stimmen „eine Mehr­heit“ ergibt. In diesem Fall wird die Wahl wieder­holt und dieselben Kandidat*innen können nicht mehr kandidieren.

Eigent­lich ist laut Verfas­sung bei einer Stich­wahl keine „weisse Stimme“ vorge­sehen. Trotzdem kündigte der Wahl­leiter Alex­ander Vega Anfang Juni an, dass sich die Bürger*innen im zweiten Wahl­gang zwischen drei Optionen entscheiden könnten: Gustavo Petro, Rodolfo Hernández und die weisse Stimme.

Die Meinungs­ma­schine greift in Kolum­bien in sämt­liche Bereiche des Lebens ein, die poli­ti­sche Meinung entscheidet oftmals über Freund­schaften und sozialen Stand. Auch wenn die euro­päi­sche Bericht­erstat­tung zu den Wahlen sowie die Diskurse der poli­ti­schen Klasse in Kolum­bien den Schein erwecken, dass es sich um demo­kra­ti­sche Wahlen handelt, wirft die Meinungs­frei­heit in Kolum­bien Fragen auf.

Die tradi­tio­nellen Parteien verfügen nach wie vor über die Mehr­heit im Parlament

Sollte Petro die Präsi­dent­schafts­wahlen gewinnen, wäre es das erste Mal in der jüngeren Geschichte Kolum­biens, dass die Linke an die Macht kommt. Was das tatsäch­liche Regieren betrifft, wird er ohne Kompro­misse mit der Oppo­si­tion im Kongress grund­le­gende Reformen nicht durch­setzen können. Denn die tradi­tio­nellen Parteien (Libe­rale, Konser­va­tive, la U, Centro Demo­crá­tico und Cambio Radical) haben im Parla­ment nach wie vor die Mehrheit. 

Gewinnt Hernández, weiss wohl niemand so genau, was vom Unter­nehmer zu erwarten ist. Mehrere Abge­ord­nete der tradi­tio­nellen Parteien haben jedoch bereits ihre Unter­stüt­zung für ihn bekundet – vermut­lich aber eher, um einen Sieg Petros zu verhin­dern als aus Zustim­mung für Hernández’ Programm.

Ein grosser Teil der kolum­bia­ni­schen Bevöl­ke­rung will eine Verän­de­rung. Die Unzu­frie­den­heit über die aktu­elle Regie­rung unter Iván Duque und mehr als zwei Jahr­zehnte Rechts­kon­ser­va­tismus hat sich 2019 und 2021 in landes­weiten Demon­stra­tionen ausge­drückt. Die zuneh­mende Gewalt im Land sowie die pande­mie­be­dingte Verschlech­te­rung der wirt­schaft­li­chen Situa­tion für fast die Hälfte aller Kolumbianer*innen sind Gründe dafür. 

Unter Anbe­tracht der fehlenden Garan­tien für eine unab­hän­gige Stimm­ab­gabe sind die Wahl­um­fragen mit Vorsicht zu geniessen. Welcher der beiden Kandi­daten schliess­lich am meisten Stimmen macht, wird sich am Sonntag zeigen. Fest steht nur: Andres Reyes wird nach den Wahlen wohl wieder mehr Zeit seinem Mittag­essen widmen, anstatt am Handy seinem Umfeld zu erklären, was Enteig­nungen bedeuten. 

*Name von der Redak­tion geän­dert.
Bei der minder­jäh­rigen Person wurde zudem das Einver­ständnis der Eltern eingeholt.


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