Massen­tou­rismus: Zwischen Verspre­chen und Verdammung

Im mexi­ka­ni­schen Yucatán boomt der Tourismus seit Jahr­zehnten. Während die Regie­rung auf noch mehr inter­na­tio­nale Gäste schielt, regt sich ander­weitig Kritik. 
Die Küste der Halbinsel Yucatan gilt als Ferienparadies für Besucher*innen aus aller Welt. (Foto: Heriberto Paredes)

Was wurde diese natur­be­las­sene flache Fläche im mexi­ka­ni­schen Südosten nicht schon alles genannt? Für den mexi­ka­ni­schen Staat war Yucatán als eine „Region von Rebellen“ verschrien, bis diese nach einem fünf­zig­jäh­rigen Krieg zu Beginn des 20. Jahr­hun­derts fast voll­ständig unter­worfen und kolo­nia­li­siert wurde. Lange bezeich­neten Anthropolog*innen und Historiker*innen die Halb­insel demnach auch als „eine abge­le­gene Welt“. Seit fast einem halben Jahr­hun­dert kennt die Welt Yucatán, das die vier­ein­halb­fache Grösse der Schweiz umfasst, als „das Land der Mayas“.

Bis heute dient die Vermark­tung der indi­genen Kultur und Sprache als erfolg­rei­cher Teil dieser Kommerzialisierungsstrategie.

In den 1970er-Jahren erschliesst die mexi­ka­ni­sche Regie­rung die traum­haft schönen, kilo­me­ter­langen Sand­strände, die archäo­lo­gi­schen Stätten und die reich­hal­tige Biodi­ver­sität für die just begin­nende globale Touris­mus­in­du­strie. Bis heute dient die Vermark­tung der indi­genen Kultur und Sprache als erfolg­rei­cher Teil dieser Kommerzialisierungsstrategie.

Seitdem ist Yucatán für einige zum Sehn­suchtsort touri­sti­scher Träu­me­reien geworden. Für viele ist es nach wie vor das Zuhause, das ein Leben in Fülle und Würde bereit­halten könnte. Für die anderen ist es indes die stäh­lerne fleisch­ge­wor­dene Projek­ti­ons­fläche eines staat­li­chen Versprechens.

Unter der Erde

Es ist Mitte August und die Schwüle in dem Dörf­chen Homún im Norden der Halb­insel Yucatán kennt kein Erbarmen. Homún liegt im gleich­na­migen Bundes­staat Yucatán und formt zusammen mit den Bundes­staaten Campeche und Quin­tana Roo den mexi­ka­ni­schen Teil der Halb­insel. Auf der weit­läu­figen über­dachten Terrasse ihres Hauses sitzt Maribel Ek’am und beob­achtet ihre Gäste. Ihre Augen spre­chen von innerer Ruhe, aber auch von Bestimmtheit. 

„Wir sind gesegnet mit Naturschätzen“

Maribel Ek’am, Hüterin einer soge­nannten Cenote, einer mexi­ka­ni­schen Wassergrotte

„Wir sind gesegnet mit Natur­schätzen“, sagt Ek’am und eine stolze Freude ist in ihrer wohl­klin­genden Stimme zu vernehmen. Die 49-Jährige wohnt wenige Meter vom Eingang einer Hunderte von Metern langen Grotte entfernt. „Ich bin eine der Wäch­te­rinnen der Cenotes“, sagt sie, „ich beschütze diesen verletz­li­chen und heiligen Ort, der voll mit Leben und sauberem Süss­wasser ist.“ Yucatán ist über­häuft von diesen halb offenen mit Grund­wasser gefüllten Karst­höhlen, die Cenotes heissen und ober- wie unter­ir­disch zu finden sind. Über 8’000 dieser Cenotes soll es auf der Halb­insel geben. Sie dienen einem Teil der Bevöl­ke­rung als spiri­tu­eller Ort und als Einkom­mens­quelle im Rahmen eines gemein­de­ba­sierten Tourismus‘.

Homún liegt im Herzen des staat­li­chen Natur­schutzs­re­ser­vates Anillo de Cenotes, dem Ring der Cenoten. Nörd­lich davon findet man den 180 Kilo­meter breiten Krater von Chic­xulub. Dort schlug laut wissen­schaft­li­cher Annahmen vor 65 Millionen Jahren der Meteo­roid ein, der das Ende der Dino­sau­rier einleiten sollte.

Derweil macht sich die Wäch­terin Ek’am für den Eintritt in die Grotte bereit. Nach wenigen Metern in die Tiefe nimmt die Schwüle erneut zu. Fleder­mäuse hängen von den Decken, Gesteins­for­ma­tionen an den Wänden animieren die eigene Vorstel­lungs­kraft und Maribel Ek’am bewegt sich agil und kundig voran. Schon als kleines Mädchen kam sie zum Spielen und Verstecken hierher.

Heute führt sie inter­es­sierte Besucher*innen in die unter­ir­di­sche Welt. Mal lässt die Grotte eine Höhe von zehn Metern und Platz für ein einstöckiges Einfa­mi­li­en­haus mit einem gross­zü­gigen Garten, mal schrumpft sie auf einen Tunnel mit einer Höhe von 1.40 Meter. Immer wieder tauchen klei­nere und grös­sere Wasser­becken, die Cenotes auf. Maribel Ek’am führt durch sie hindurch, mal gehend, mal schwim­mend, und fährt mit ihrer Erzäh­lung fort.

Die Hüterin der Cenote, Maribel Ek’am. (Foto: Heri­berto Paredes)

Der Tourismus, erklärt sie, ermög­liche einigen Dorfbewohner*innen ein verläss­li­ches Einkommen, was sich positiv auf den Zusam­men­halt auswirke. „Aber jeder Ort ist nur für eine bestimmte Menge an Gästen in einem bestimmten Zeit­raum gedacht. Die Natur muss sich rege­ne­rieren können. Wird ihr diese Möglich­keit nicht gelassen, findet Zerstö­rung statt.“ Die Wäch­terin der Cenote spricht, als würde die Natur für sie ein komplexes Bezie­hungs­ge­flecht mit den Menschen bilden, durch das sich beide zusammen immer­fort weiter­ent­wickeln. „Weder Homún noch die komplette Region dürfen touri­stisch explo­dieren. Wir würden unsere Schön­heit verlieren.“

Die Visionen einer Regierung

Über 1’300 Kilo­meter von Homún entfernt liegt in Mexiko-Stadt der Natio­nal­pa­last des mexi­ka­ni­schen Staats- und Regie­rungs­prä­si­denten Andrés Manuel López Obrador. Fast jeden Montag erwähnt López Obrador in seiner alltäg­li­chen Pres­se­kon­fe­renz die Halb­insel Yucatán und das Vorzei­ge­pro­jekt seiner Regie­rung, den Tren Maya.

Das Projekt umfasst den Bau und die Moder­ni­sie­rung von mehr als 1’500 Kilo­meter Bahn­strecken in den drei Bundes­staaten der Halb­insel sowie in Chiapas und Tabasco, die die Südgrenze des Landes bilden. Das Eisen­bahn­pro­jekt wird mit seinen 34 Bahn­höfen grosse, mitt­lere und kleine Orte mitein­ander verbinden. Vor allem aber wird der Zug die weiten, unbe­sie­delten Gebiete des Biosphä­ren­re­ser­vates Calakmul an der Südgrenze zu Guate­mala bis zur Kari­bik­küste Riviera Maya durch­queren. Im Dezember sollen die ersten Strecken­ab­schnitte eröffnet werden.

Die Zugstrecke des Tren Maya wird mitten durch den Urwald geschlagen. Im Bild eine Baustelle, bereits im Dezember 2023 sollen die ersten Züge fahren. (Foto: Heri­berto Paredes)

Der Präsi­dent des 127-Millionen-Landes sieht sich selbst als Anführer einer „vierten Trans­for­ma­tion“ von Mexiko, wie er seine Regie­rungs­zeit zu bezeichnen pflegt. Mit seinem Infra­struk­tur­pro­jekt verspricht er den Menschen auf der Halb­insel sozialen Wohl­stand, wirt­schaft­liche Entwick­lung und gesell­schaft­liche Teil­habe. Motor dieser Prozesse soll der Tourismus sein – zusammen mit dem indu­stri­ellen Waren­ver­kehr, der im staat­li­chen Diskurs zwar so gut wie keine Erwäh­nung findet, aber über 70 Prozent der Einnahmen aus dem Tren Maya-Projekt gene­rieren soll.

Der Tren Maya soll die Tourist*innenzahlen weiter in die Höhe schnellen lassen. Bereits im Jahr 2019 empfing die Halb­insel 32 Millionen an in- und auslän­di­schen Tourist*innen. Im selben Zeit­raum flogen nach Zahlen des mexi­ka­ni­schen Mini­ste­riums für Tourismus mehr als zwei Millionen Europäer*innen nach Mexiko, davon 39’228 direkt von Zürich nach Cancún.

Doch der Tourismus-Boom, der mit weit­rei­chenden Verän­de­rungen einher­geht, bleibt nicht ohne Risiken.

Ein fragiles Gleichgewicht

Deut­lich wird dies etwa in Mérida, der Haupt­stadt des Bundes­staates Yucatán. Dort ist inzwi­schen die Nacht über das Haus von Fernanda Lases Hernández herein­ge­bro­chen. Schwüle Hitze und unbe­weg­liche Luft umhüllen das Leben in dieser beschau­li­chen Stadt, dessen histo­ri­sches Zentrum gleiche Essens­preise kennt wie die euro­päi­schen Metropolen.

Lases Hernández, die als Forscherin an der Fakultät für Chemie der Natio­nalen Auto­nomen Univer­sität Mexiko (UNAM) in Mérida arbeitet, ist eine fein­füh­lige Expertin, wenn es um die unter­ir­di­sche Welt der Halb­insel geht. Dort, unter der Erde, beginnt ihr Kosmos. Ein subtiles und beschei­denes Lächeln auf ihrem Mund ist zu erkennen, wenn sie das Karst­sy­stem erklärt, das die gesamte Halb­insel unter ihrer Ober­fläche durchzieht. 

In der Tat gleicht die Welt unter der Erde einem Schweizer Käse: Eine durch­läs­sige Masse, die durch eine Viel­zahl von Tunneln unter­teilt ist und überall in der Region mitein­ander verbunden sind.

Dieses Karst­sy­stem beher­bergt zudem mit dem Sistema Sac Atun das grösste unter­ir­di­sche Wasser­re­ser­voir der Welt.

Die Grotte von Maribel Ek’am ist nur ein kleiner Baustein darin. Dieses Karst­sy­stem beher­bergt zudem mit dem Sistema Sac Atun das grösste unter­ir­di­sche Wasser­re­ser­voir der Welt. „Aufgrund der Durch­läs­sig­keit des Gesteins besteht ein Gleich­ge­wicht zwischen dem Süss­wasser, das ins Meer fliesst, und dem Salz­wasser, das in das Karst­sy­stem eindringt. 

Je näher man sich der Küste nähert, desto salziger wird das Wasser“, so die Wissen­schaft­lerin Lases Hernández. Sie warnt davor, dass dieses fragile Gleich­ge­wicht bei einer Über­nut­zung des Wasser­sy­stems durch eine verstärkte Land­wirt­schafts- oder Immo­bi­li­en­in­du­strie, oder durch das Aufbohren des Gesteins für den Bau von Eisen­bahn­strecken gestört werden würde. Dadurch entstehe die Gefahr, dass mehr Salz­wasser in das unter­ir­di­sche System gelange. „Die Folge ist, dass wir kein Süss­wasser mehr haben werden, von dem sich das Ökosy­stem an der Ober­fläche ernährt“, schliesst sie ihre Über­le­gungen ab. Ihr Haus, Mérida und die ganze Halb­insel sind zu dem Zeit­punkt schon in finstere Dunkel­heit eingetaucht.

Zu viel Tourismus

Auch anderswo auf der Halb­insel werden die Pläne der Regie­rung kritisch beäugt. Zu sehr habe der Tourismus schon das Leben der indi­genen Bevöl­ke­rung bestimmt, urteilt Ángel Sulub. „In der Grund- und Sekun­dar­schule wird uns beigebracht, dass der Tourismus das Beste sei, was uns indi­genen Gemein­schaften passieren kann. Wir lernen dort in Hotels, Bars und Restau­rants zu arbeiten“, erklärt er mit Blick auf seine eigene Schul­zeit. Ángel Sulub ist gross geworden und wohn­haft in Felipe Carrillo Puerto, eine Klein­stadt im Süden von Quin­tana Roo. Seinem Wohnort stehe das bevor, was andere an der Kari­bik­küste gele­genen Orte wie Playa del Carmen, Tulúm oder Maha­hual bereits wider­fahren ist. Dort habe die Touris­mus­in­du­strie die indi­gene Iden­tität und die Kultur der Maya weit­ge­hend in sich einver­leibt und zugun­sten ökono­mi­scher Krite­rien an jene Indu­strie angepasst.

Er wehrt sich gegen zu viel Tourismus, Ángel Sulub, ein Bewohner der Ortschaft Felipe Carrillo Puerto. (Foto: Heri­berto Paredes)

Die Ortschaft Felipe Carrillo Puerto wirkt zwar leicht verschlafen, doch unter der Ober­fläche brodelt es. Nach der Verkün­dung des Baus des Zugpro­jektes Ende 2018 nahm die Gewalt erschreckend zu. Allein 13 Morde wurden hier im Jahr 2019 verübt, berichtet Sulub mit trüber Mine und verweist auf die Nieder­las­sung einer auf natio­naler Ebene operie­renden Frak­tion des orga­ni­sierten Verbre­chens in der Region.

Hier waren es nicht die Europäer*innen, die die indi­gene Bevöl­ke­rung auslöschten, sondern die Mexikaner*innen selbst, die – in den Worten des Gemein­de­zen­trums – einen Genozid begingen.

Gemeinsam mit anderen Gefährt*innen grün­dete Ángel Sulub das Gemein­de­zen­trum U kúuchil k Ch’i’i­ba­lo’on. Erbaut am Rande der Stadt und im Dschungel gelegen, treffen hier Kultur, Gemein­schaft, Bildung sowie poli­ti­sche Diskus­sionen aufein­ander. „Vor der mili­tä­ri­schen Inva­sion des mexi­ka­ni­schen Staates in der ersten Hälfte des 20. Jahr­hun­derts fungierte Felipe Carrillo Puerto als Haupt­stadt der letzten Maya-Auto­nomie“, erklärt er vor einer Bilder­serie stehend, die die Wider­stands­ge­schichte der Region porträ­tiert. Hier waren es nicht die Europäer*innen, die die indi­gene Bevöl­ke­rung auslöschten, sondern die Mexikaner*innen selbst, die – in den Worten des Gemein­de­zen­trums – einen Genozid begingen.

Unter dem Dach des Versamm­lungs­hauses macht es sich Sulub auf einem breiten Stuhl bequem. Wände gibt es hier keine, so gibt es trotz der stickigen Hitze eine ange­nehme Luft­zir­ku­la­tion. Sulubs Gross­el­tern waren Teil des letzten bewaff­neten Wider­stands, der sich bis zur Mitte des 20. Jahr­hun­derts ausdehnte. 

Als Enkel führt er heute den Kampf seiner Vorfahren fort. Er vertritt als poli­ti­scher Dele­gierter das Gemein­de­zen­trum in dem landes­weiten Zusam­men­hang Natio­naler Indi­gener Kongress (CNI). Nüch­tern konsta­tiert er, dass eine verfälschte Geschichte erzählt werde. Statt dass das Wissen um die eigene Vergan­gen­heit Teil des offi­zi­ellen Narra­tivs wird, plant die Bundes­re­gie­rung rund um den Tren Maya-Bahnhof in Felipe Carrillo Puerto die Eröff­nung von Shops, die typi­sche Maya-Souve­nirs wie Kopien der Pyra­mide von Chichén Itzá oder des Kopfes des Herr­schers Pakal verkaufen.

Trübe Aussichten

Mitt­ler­weile ist Maribel Ek’am aus der Grotte neben ihrer Terrasse wieder heraus­ge­treten. Die Stunden unter der Erde wärmten ihren Körper so sehr, dass sie draussen Kälte verspürt. Abschlies­send formu­liert sie eine so prag­ma­ti­sche wie verant­wor­tungs­volle Perspek­tive auf die Tätig­keit ihrer Gemeinde: „Für uns steht der Tourismus für ein Einkommen, das andere Perspek­tiven ermög­licht, zum Beispiel, dass wir unseren Kindern ein Studium finan­zieren können. Wir haben nicht vor, den Tourismus an unsere nach­fol­genden Gene­ra­tionen als einzig mögliche Beschäf­ti­gung zu vererben“, schliesst sie sanft und hüllt sich in ein Handtuch.

Denn wirkt der Tourismus als einzige Quelle des Unter­halts, so kann sich dieser schnell als Falle entpuppen

Denn wirkt der Tourismus als einzige Quelle des Unter­halts, so kann sich dieser schnell als Falle entpuppen, aus der weite Teile der Bevöl­ke­rung nicht mehr heraus­kämen. So sieht es zumin­dest Ángel Sulub, der Vertreter des CNI. Die Inbe­trieb­nahme des Tren Maya führe dazu, dass Indi­gene die Tourist*innen bei ihren Parties und in ihren Hotels auch in Zukunft als billige Arbeits­kräfte bedienen werden. „Was von unserer Kultur übrig ist, wird vom Tourismus verein­nahmt und in etwas Folk­lo­ri­sti­sches verwan­delt“, resü­miert Ángel Sulub und behält seine beru­hi­gende Ausstrah­lung auch dann bei, als wenige Zenti­meter neben ihm eine hand­flä­chen­grosse Tarantel gemäch­lich das Gemein­de­haus durchstreift.

Diese Repor­tage wurde finan­ziell durch den Medi­en­fonds „real21 — die Welt verstehen“ unter­stützt. Wir danken!


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