Ausge­trock­nete Kleider

Im Norden Chiles zerstört der Klima­wandel Träume. Bei der Rück­kehr zur heimi­schen Produk­tion von Wolle bemerken Frauen: Ihr Land ist nicht mehr das gleiche. 
Seit Jahren werden hier keine Kleider mehr genäht. Nun ist die Fabrik in Valle Hermoso verlassen. (Foto: Rodrigo Salinas)

Voller Hoff­nung blickt Delia Olivares auf die Hügel rund um ihre kleine Holz­hütte. Meter­hohes Gras gibt den Hängen ein grünes Kleid. Dunkle Wolken hängen tief im Tal von Valle Hermoso. Es ist fast wie früher, als sie ihre Schafe auf den Hügeln weiden liess und deren Wolle zu Fäden spann. Schon ihre Gross­el­tern pflanzten in den nassen Winter­mo­naten Getreide und lebten von und mit den Tieren ihres kleinen Hofs. Die Ernte und die verkauften Güter ermög­lichten ihnen ein beschei­denes Überleben.

Olivares Produk­tion war der erste Schritt einer landes­weit bekannten Indu­strie: In den trockenen Sommer­mo­naten spannen schon ihre Gross­el­tern die Wolle der Schafe. Eine Nach­barin strickte Klei­dungs­stücke, die später im nahen Dorf­kern verkauft wurden. Im ganzen Tal taten es ihr die Menschen gleich. Für die Menschen war es Bestand­teil einer indi­genen Tradi­tion, später dann, im 20. Jahr­hun­dert, wurde daraus eine florie­rende Industrie.

Doch die Träume von damals sind längst zerschlagen und mit ihnen auch das chile­ni­sche Pendant zur alpinen Heidi­ro­mantik: Die Trocken­heit der letzten 15 Jahre und billi­gere Import­pro­dukte zerstören die Lebens­grund­lage der Dörfer und damit auch die tradi­tio­nelle Produk­tion von Wolle und Kleidern.

Doch erstaun­li­cher­weise erlebt das hand­werk­liche Stricken seit ein paar Jahren nur wenige Hundert Meter von Olivares entfernt eine Renais­sance als lokales Produkt für den chile­ni­schen Markt. Wie ist das möglich? Eine Spuren­suche in einer Region zwischen geschei­terter Indu­stria­li­sie­rung, Trocken­heit und der Rück­be­sin­nung auf Traditionen.

Delia Olivares auf ihrem Feld. Gab es hier einst auch Schafe, pflanzt sie nun Zitrus­früchte. (Foto: Rodrigo Salinas)

Flüsse zu Strassen

Es ist trocken, zu trocken. Im Fluss La Ligua, der die gleich­na­mige Provinz­haupt­stadt und Valle Hermoso trennt, fliesst seit Jahren kein Wasser mehr. Selbst der ausser­ge­wöhn­lich nasse Winter hat die Situa­tion kaum verändert.

Umweltaktivist*innen beklagen, es herr­sche eine ungleiche Wasser­ver­tei­lung in und um Valle Hermoso. Während grosse Plan­tagen dank tiefen Brunnen und priva­ti­siertem Zugang zu Wasser weiterhin Zitrus­früchte und Avocados bewäs­sern, landen Kleinbäuer*innen auf dem Trockenen. Durch das Abpumpen von Wasser sinkt der Grund­was­ser­spiegel, die natür­li­chen Quellen versiegen und Flüsse trocknen aus. Das Trink­wasser wird während­dessen in Valle Hermoso ratio­niert, selbst im Winter.

Die Bäuerin Olivares kümmert sich wenig darum. „Die Hügel wurden mit Regen im Winter bewäs­sert, mehr gab es nicht“, erklärt sie. Doch davon gibt es von Jahr zu Jahr weniger. Aufgrund fehlenden Regens und der Über­nut­zung der bestehenden Wasser­re­ser­voiren sind laut den offi­zi­ellen Zahlen die Wasser­be­stände im ganzen Tal von 2010 auf 2019 um 77 Prozent zurück­ge­gangen. Die Folgen sind Trocken­heit und fehlendes Futter für die Tiere.

Das betrifft Olivares ganz direkt. Sie erzählt vom Scha­fe­hüten, als ob es gestern gewesen wäre. „Wenn die Schafe in der Nacht gebären, muss man die Lämmer aus dem Leib ziehen, man muss sie regel­mässig waschen – das ist wie bei den Kleinkindern.

Doch mitt­ler­weile steht der Stall fast leer, nur ein einziges Schaf steht in einem abge­son­derten Viereck. „Die Trocken­heit“, sagt Olivares mit einem melan­cho­li­schen Klang in der Stimme. „Nach und nach musste ich meine Schafe verkaufen, um für die Verblie­benen Futter zu kaufen“, erzählt sie. Traurig schaut sie auf ihr letztes Schaf: „Ich wollte nicht alle loswerden.“

Einst ein Fluss, heute eine Strasse für Tank­last­wagen, die das übrige Wasser zu den Menschen trans­por­tieren. (Foto: Rodrigo Salinas)

Staub über Stoff

Eigent­lich war Olivares Produk­tion ein Auslauf­mo­dell, ein Über­bleibsel einer längst vergan­genen Zeit. Als es noch keine Indu­strie, künst­liche Stoffe und inter­na­tio­nale Handels­ketten gab, die die Welt der Menschen bis in das kleinste Tal verän­derten. Eigent­lich sollte in Valle Hermoso das blühende Zentrum der chile­ni­schen Stoff­pro­duk­tion entstehen.

Doch um die indu­stri­elle Produk­tion in Valle Hermoso steht es kaum besser: Im Zentrum des kleinen Ortes mit seinen rund 2’000 Einwohner*innen reihen sich Laden­lo­kale anein­ander. Alle bieten gestrickte Kleider an. Bunte Pull­over, Röcke und Mützen schmücken die Schau­fen­ster­puppen, die wie Publikum auf dem Gehsteig stehen. Doch abge­sehen von den Puppen und Verkäufer*innen sind die Strassen verwaist. Manche Lokale sind geschlossen. Staub sammelt sich zenti­me­ter­dick auf den Wellen der Roll­läden. Nur einzelne Tourist*innen verirren sich in der Einkaufs­strasse auf der Suche nach längst vergan­genen Zeiten.

Die Lage von Valle Hermoso im Norden Chiles.

Während­dessen rattern in einem Hinterhof des Dorfes die Maschinen. Schmucklos steht das Gebäude direkt hinter dem Verkaufs­laden. Die Farbe blät­tert von der Wand und den Eingangs­toren ab. In der riesigen Lager­halle steht ein Mann. Der 68-jährige Raúl Carú bedient die letzten drei Maschinen der Fabrik.

Kurz stoppen die Maschinen. Er geht zu einem Röhren­bild­schirm gleich neben der Maschine und gibt ein paar Befehle auf der Tastatur ein. Es erleuchten Muster und Carú gibt erneut den Befehl zum Stricken. Mit synthe­ti­schem Stoff wird Reihe für Reihe ein Pull­over gestrickt. Einst arbei­teten hier 45 Personen 24 Stunden am Tag; heute ist Carú der einzige Ange­stellte. Drei von ehemals 25 Maschinen laufen noch, und längst nur noch am Tag.

Er führt durch die Fabrik. Auf den alten Maschinen hat sich Staub ange­sam­melt. Bei manchen hängt noch ein unfer­tiges Stück Stoff, die Fäden führen noch durch die Maschine. „Die wurden mitten im Betrieb abge­stellt und nie wieder ange­stellt“, erzählt Carú.

Carú zeigt auf die letzten funk­tio­nie­renden Maschinen. „Die repa­riere ich mit den Ersatz­teilen der still­ge­legten Strick­ma­schinen“. „UNIVERSAL“ steht in grossen Lettern auf den Maschinen geschrieben. „Die kommen aus Deutsch­land“, sagt Carú stolz. Im Jahr 1994 wurde die letzte Maschine über den Atlantik impor­tiert. Heute wäre das viel zu teuer, meint Carú, gegen­über der Billig­ware aus China würde sich das nicht mehr lohnen. Ausserdem existiere das Unter­nehmen schon längst nicht mehr.

Carú war selbst am Produk­ti­onsort in Deutsch­land. Im Jahr 1996 reiste er für drei Monate nach West­hausen, um in der Wartung der Strick­ma­schinen ausge­bildet zu werden. Das ist lange her und wenn Carú bald in Rente geht, werden auch die Maschinen nicht mehr laufen. Sein letzter Arbeits­kol­lege verstarb vor drei Jahren, seitdem sucht er nach einem Nach­folger – bislang ohne Erfolg.

Geschlos­sene Laden­lo­kale und fehlende Kund­schaft. Die Blüte­zeit ist in Valle Hermoso vorbei. (Foto: Rodrigo Salinas)
Carú lässt Maschinen stricken. Sein ganzes Leben arbei­tete er in der Indu­strie, dessen Über­bleibsel seine Maschinen sind. (Foto: Rodrigo Salinas)
Die Fabrik, in der Carú arbeitet, ist gröss­ten­teils ein Maschi­nen­friedhof, der als Ersatz­teil­lager dient. (Foto: Rodrigo Salinas)

Nieder­gang einer Industrie

Einst war die Indu­strie der Stolz von Valle Hermoso. Scharen von Händler*innen reisten aus dem ganzen Land an, um hier ihre Stoffe und Kleider zu kaufen. Doch davon ist nicht mehr viel zu sehen. Aus einem tradi­tio­nellen Hand­werk entwickelte sich in den 1950er-Jahren eine Indu­strie, die mitt­ler­weile durch Frei­han­dels­ab­kommen und billige Importe aus Asien massiv in Bedrängnis geraten ist.

Die Sozio­login Paula Encina erzählt, inwie­fern Stoff­ar­beiten und insbe­son­dere das Spinnen von Fäden eine indi­gene Tradi­tion in und um Valle Hermoso haben. Sie sitzt am ausge­trock­neten Fluss­ufer von La Ligua, während Last­wagen das Fluss­bett als Verbin­dungsweg nutzen. Erste Funde von Werk­zeugen zur Erzeu­gung von Fäden datieren auf 600 vor Christi. „Für die Bevöl­ke­rung ist es sehr wichtig, sich als Teil dieser indi­genen Tradi­tion zu verstehen“, sagt Encina. Die junge Forscherin beschäf­tigte sich über mehrere Jahre hinweg mit mehreren Gemein­schaften aus Frauen, die am Hand­werk fest­halten. Heute arbeitet sie für lokale Gemeindeverwaltungen.

Die Ortschaft Valle Hermoso hat ihren Ursprung in zwei indi­genen Gemeinden, die Ende des 18. Jahr­hun­derts von den spani­schen Kolo­ni­al­herren Lände­reien zurück­be­kommen haben. Dort wurde über Jahr­hun­derte Land­wirt­schaft betrieben und Stoffe wurden herge­stellt. Lange Zeit blieb dann auch die Produk­tion sehr handwerklich.

Die Regie­rungen der 1940er- und 50er-Jahre wollten die chile­ni­sche Wirt­schaft indu­stria­li­sieren. Dafür förderten sie auch in Valle Hermoso den Aufbau einer Indu­strie. In diesem Zusam­men­hang wurden die ersten Strick­ma­schinen impor­tiert. Die ganze Region erlebte einen indu­stri­ellen Aufschwung. Auch die Familie von Encina arbei­tete in der Stoff­in­du­strie. „Es gibt fast niemanden hier, der keine Fami­li­en­mit­glieder hat, die nicht in der Indu­strie gear­beitet haben“, meint sie.

Doch für die impor­tierten Maschinen ist Schaf­wolle unpas­send: Sie hält dem Druck der Maschinen nicht stand und reisst zu schnell. Als Lösung wurde der sowieso günsti­gere synthe­ti­sche Stoff verwendet. Die Schaf­zucht galt ihrem Nieder­gang geweiht.

Doch die Geschichte kam anders – zumin­dest kurz­fri­stig. Ende der 1990er-Jahre libe­ra­li­sierte Chile seinen Aussen­handel. Inner­halb von zehn Jahren, zwischen 1996 und 2006, unter­zeich­nete das Land mehr als 14 Frei­han­dels­ab­kommen mit allen bedeu­tenden Wirt­schafts­mächten der Welt, darunter mit China, der EU, den USA und auch der Schweiz.

Die inlän­di­sche Produk­tion konnte den Import­pro­dukten nicht stand­halten. Nach und nach schlossen die Fabriken oder mussten die Produk­tion herun­ter­fahren. Statt mit sicheren Indu­strie­ar­beiten müssen sich die Menschen bis heute mit Gele­gen­heits­jobs im Tourismus und der Land­wirt­schaft über Wasser halten.

Die Sozio­login Paula Encina auf der Brücke zwischen Valle Hermoso und La Ligua. Im Hinter­grund die Hügel von Valle Hermoso. (Foto: Rodrigo Salinas)

Wieder­ent­deckung einer Tradition

Für viele Frauen bedeu­tete das Ende der Indu­strie eine Rück­kehr zur Tätig­keit, die die Bäuerin Olivares nie aufge­hört hat, auszu­führen. Doch anstatt mit der eigenen Wolle zu spinnen, arbeitet Olivares mit Alpa­ka­wolle aus Boli­vien und Perú, die aus knapp zwei­tau­send Kilo­me­tern herge­fahren wird. Sie tut dies auf Kommis­sion – soge­nannte Heim­ar­beit. Eine Händ­lerin kommt regel­mässig vorbei, nimmt die fertigen Fäden mit und liefert neue Wolle. Pro hundert Gramm gespon­nener Wolle verdient Olivares umge­rechnet vier Schweizer Franken. „Dafür brauche ich einen ganzen Tag“, sagt sie mit einem Blick, der mehr sagt als tausend Worte. Das ist zu wenig. „Aber wovon sollte ich sonst leben?“, fragt sie.

Andere Frauen stricken auf glei­cher Basis Kleider. Doch wer dadurch ein paar Pesos dazu­ge­winnen will, verdient trotz langer Arbeit wenig – den grössten Anteil erhalten die Zwischenhändler*innen. Ein fertiger Pull­over aus Alpa­ka­wolle kann am rich­tigen Verkaufsort bis zu 400 Franken kosten.

Flau­schige Wolle — die fertig gespon­nenen Woll­knäuel von Delia Olivares. (Foto: Rodrigo Salinas)

Wer nicht für andere arbei­tetet und einen geringen Lohn akzep­tiert, schafft es kaum, die eigenen Produkte zu verkaufen. Ein Problem, das auch die Frauen der Hila­Coop, einer Genos­sin­nen­schaft aus Stricke­rinnen, erkannten.

Fünf der insge­samt drei­zehn Frauen sitzen in ihrem kleinen Laden­lokal in der Einkauf­strasse von Valle Hermoso, nur wenige Meter von Carús Strick­ma­schinen entfernt. Das Lokal verströmt den Duft von Schafs­wolle, die Regale sind voll mit selbst gestrickten Mützen, Pull­overn und Socken.

Violeta Osses, eine Frau mit kurzen Haaren, erzählt, sie arbeite tags­über an der nahen Auto­bahn und verkaufe Süss­ge­bäck. Einige davon trägt sie bei sich und bietet sie den Anwe­senden an. „Während ich auf Kund­schaft warte, stricke ich“, erzählt sie. „Ich habe eine weisse Fahne, die weht während­dessen im Wind“. Die Fahne signa­li­siere den vorbei­fah­renden Autos, dass hier jemand Süss­ge­bäck verkauft.

Nachdem im Jahr 2016 eine Laden­kette für eine Saison Stricke­rinnen dazu aufge­rufen hatte, gemeinsam Kleider zu produ­zieren, lernten sich die Frauen kennen. „Wir merkten, dass es sich lohnt, gemeinsam zu produ­zieren und zu verkaufen“, erzählt Nury Esper­guez, eine von ihnen.

Danach schlossen sich die Frauen zusammen und eröff­neten ein gemein­sames Laden­lokal. Aufgrund der Pandemie konnte es erst vor einem Jahr in Betrieb gehen. Jeweils eine Person betreut den Laden, in dem die Stricke­reien aller Frauen ange­boten werden. Bei einem Verkauf behält die Genos­sin­nen­schaft einen Anteil für die Deckung der Laden­ko­sten, der Rest geht direkt an die Strickerin.

Mitten im Gespräch kommt Kund­schaft. Drei Frauen mit schicken Klei­dern und teuren Uhren betreten den Laden. Sie würden über die Woche die Ferien am nahen Strand verbringen und einen Ausflug nach Valle Hermoso machen. Nach einem kurzen Blick auf die Preise der hand­ge­strickten Kleider gehen sie wieder. Ein Pull­over kostet um die 60 Schweizer Franken. „Wir können längst nicht das verlangen, was unsere Arbeit eigent­lich kostet. Die Menschen sind nicht bereit, so viel zu zahlen“, meint Esper­guez mit trau­riger Miene.

Trotzdem mache es sie glück­lich, gemeinsam zu arbeiten und Geld zu verdienen, erzählen die Frauen unisono. „Es ist ein schönes Gefühl, wenn sich jemand die selbst gestrickte Weste anpro­biert und sie mitnimmt“, erzählt Eugenia Baez. Der Verdienst würde für sie wirt­schaft­liche Unab­hän­gig­keit bedeuten. „Man hängt nicht von den Launen des Ehemanns ab“, ergänzt Esper­guez. Das Stricken lässt sich gut während der alltäg­li­chen Care-Arbeit erle­digen, die auch in Chile meist bei Frauen hängen bleibt.

Für sie alle sei das Stricken auch Tradi­tion und die Aufrecht­erhal­tung uralter Hand­werke, finden die Frauen. Mit der Indu­stria­li­sie­rung der Produk­tion sei vieles verloren gegangen, das Natür­liche und das Hand­werk­liche. „Es hat ein neues Zeit­alter begonnen“, meint Esper­guez. „Unsere Mission ist, alte Hand­werke zurück­zu­ge­winnen.“ Ausserdem sei die hand­werk­liche Strickerei die einzige Möglich­keit, der auslän­di­schen Billig­ware stand­zu­halten. Die Kund­schaft hätte das begriffen und würde ihre Arbeit wertschätzen.

Die Sozio­login Encina ergänzt weiter. Früher, als die Produk­tion von Wolle auf lokaler Ebene funk­tio­nierte, gab es eine Art Kreis­lauf­wirt­schaft auf Basis von Tausch­handel inner­halb einer indi­genen Gemeinde. Dieses Erbe aufrecht zu halten sei wichtig, auch um über wirt­schaft­liche Alter­na­tiven nachzudenken.

Encina arbeitet unter anderem mit einer weiteren Initia­tive aus Frauen zusammen. Die Nähe­rinnen von Pulmahue. In einer kleinen Ortschaft am Hang von Valle Hermoso, treffen sich vier Frauen einmal die Woche, um gemeinsam zu nähen und zu stricken. Dabei geht es ihnen auch um eine gemein­schaft­liche Produk­tion, die begin­nend bei der Wolle auf lokaler Ebene stattfindet.

Doch bei beiden Initia­tiven hakt es, wenn es um die Beschaf­fung der Wolle geht. Seit Jahren deckt die lokale Produk­tion schon nicht mehr die Bedürf­nisse ab. Für die Schaf­hal­tung ist es schlichtweg zu trocken. Daher müssen die Frauen ihre Wolle von weit her einkaufen. Aus Peru und Boli­vien, gut zwei­tau­send Kilo­meter weiter nörd­lich oder aus dem nassen Süden Chiles. „Gerne würden wir lokale Wolle benutzen, aber davon gibt es zu wenig“, sagt Esperguez.

Stricken als Poli­tikum. Hermo­sina Hino­stroza von den Nähe­rinnen von Pulmahue beim stricken. (Foto: Rodrigo Salinas)
Stolzer Laden­be­trieb: die Frauen der Hila­coop vor ihrem Geschäft. (Foto: Rodrigo Salinas)
Stricken und Spinnen zur Aufrecht­erhal­tung von Tradi­tionen. Im Bild Nury Esper­guez beim Schau­spinnen vor der Kamera. (Foto: Rodrigo Salinas)

Hand­werk­liche Arbeit als Politikum

Lange Zeit igno­rierte die chile­ni­sche Politik die hand­werk­liche Arbeit und die damit zusam­men­hän­gende Produk­tion. Im Jahr 2017 lancierte schliess­lich das Kultur­mi­ni­ste­rium den Natio­nalen Plan für hand­werk­liche Arbeit, in dem Stricken als gesell­schaft­li­ches Denkmal aner­kannt und dessen Förde­rung als staat­li­ches Ziel fest­ge­setzt wurde.

Im glei­chen Atemzug begann das Agrar­mi­ni­ste­rium die Produk­tion von Wolle und deren Verar­bei­tung zu fördern. Ziel war es, die lokale Wert­schöp­fungs­kette in Valle Hermoso wieder­her­zu­stellen und höhere Verkaufs­preise zu erzielen. So förderte die Regie­rung im Jahr 2017 die Ansied­lung von Alpakas in Valle Hermoso. Eine Lama-Art, die beson­ders edle Wolle produziert.

Doch dabei wurde kaum in die Zukunft gedacht. Fünf Jahre nach der Ansied­lung steht die Herde immer noch. Die Besit­zerin Rosauro Mondaca beschreibt ernüch­tert ihre Lage. „Ich lasse die Männ­chen im Stall, die dürfen sich nicht mit den Weib­chen kreuzen“. Es dürfe auf keinen Fall Nach­wuchs geben. „Wie soll ich eine wach­sende Herde im Sommer füttern?“, fragt sie rheto­risch. Eine grös­sere Herde kann sie sich kaum leisten, denn aufgrund der Trocken­heit muss das Futter hinzu­ge­kauft werden.

Gerne hätte sie mehr Lamas, die Hirtin Rosauro Mondaca auf dem Hügel bei Valle Hermoso. (Foto: Rodrigo Salinas)
Woll­pro­duk­tion für die Zukunft? Die Alpacas von Rosauro Mondaca. (Foto: Rodrigo Salinas)

Zudem fehle es in Valle Hermoso an Menschen, die die Wolle nach dem Scheren waschen und aufbe­reiten wollen würden. Eine äusserst aufwen­dige und wasser­in­ten­sive Arbeit, die gerade in den Sommer­mo­naten unmög­lich zu voll­bringen ist. „Ich weiss nicht, wie die Zukunft sein wird“, sagt Mondaca. Es sei sicher­lich nicht der rich­tige Moment, an ein neues Erwa­chen der lokalen Woll­pro­duk­tion zu denken.

Die Bäuerin Olivares will sich trotzdem noch nicht ganz vom Gedanken verab­schieden. „Wenn es die näch­sten Jahre wieder so regnet, kann ich mir vorstellen, wieder eine Herde zu haben”, meint sie mit hoff­nungs­vollem Blick.

Doch wahr­schein­lich ist das ange­sichts des Klima­wan­dels nicht. Die andine Heidi­ro­mantik wird kaum zurück­kehren. Heute arbeitet die Politik an der Förde­rung von Tourismus bei der nahen Küste und für die Hügel von Valle Hermoso. Die Strickerei ist dort mitge­dacht: Als Folk­lore für reiche Besucher*innen aus Sant­iago. Für den Rest fehlt schlichtweg das Wasser.

Diese Repor­tage wurde finan­ziell durch den Medi­en­fonds „real21 — die Welt verstehen“ unter­stützt. Wir danken!


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