„Mit der 13. AHV-Rente könnte es poli­tisch schwie­riger werden, eine Erhö­hung des Lebens­be­darfs zu fordern”

In der Debatte um die 13. AHV-Rente rückten die Ergän­zungs­lei­stungen (EL) ins Rampen­licht. Doch trotz der Diskus­sionen bleiben die Heraus­for­de­rungen für EL-Bezie­hende bestehen. Ein Gespräch über existenz­si­chernde Renten, die letzte EL-Reform und Lösungsansätze. 
Auch mit einer 13. Rente ist für viele Rentner*innen in der Schweiz die AHV nicht existenzsichernd. (Bild: Midjourney / Kira Kynd )

Seit die Schweiz über die 13. AHV-Rente disku­tiert, stehen auch die Ergän­zungs­lei­stungen (EL) im Fokus. Die Gegner*innen der Initia­tive argu­men­tieren, dass eine 13. AHV-Rente nicht nötig sei, weil die EL bereits die Existenz­si­che­rung aller Rentner*innen garan­tiere. Alters­armut lasse sich mit dieser gezielten Mass­nahme effi­zi­enter bekämpfen, anstatt dass alle eine höhere Rente erhalten. 

Die Befürworter*innen sehen in den EL hingegen keine Lösung für das Renten­pro­blem: Wer sein Leben lang gear­beitet habe, verdiene eine anstän­dige Rente und solle nicht um EL betteln müssen. Und sie verweisen auf die Studie der ZHAW, die zeigt: Wegen Unwissen oder aus Scham beziehen über 15 Prozent der Rentner*innen keine EL, obwohl sie Anspruch darauf hätten.

Was sowohl Befürworter*innen und Gegner*innen der Initia­tive ausklam­mern: Wer heute EL bezieht, weil die AHV-Rente nicht zum Leben reicht, wird auch mit den zusätz­li­chen 100 bis 200 Franken pro Monat einer 13. AHV-Rente nicht über die Runden kommen. Mit anderen Worten: Auch ein posi­tives Abstim­mungs­re­sultat wird die meisten Armuts­be­trof­fenen nicht vor der EL bewahren. 

Was müsste aber getan werden, solange keine existenz­si­chernden Renten in Sicht sind? Wir haben mit Marie Baumann gespro­chen, die seit Jahren zu den Themen Behin­de­rung und Inva­li­den­ver­si­che­rung bloggt.

Laut Bundes­ver­fas­sung muss die staat­liche Alters­vor­sorge existenz­si­chernd sein. Wer also im Alter nicht zusätz­lich Geld aus der beruf­li­chen oder privaten Vorsorge erhält, muss mit der Rente aus der 1. Säule leben können. Weil das aber schon in den 1960er-Jahren nicht der Fall war, hat das Parla­ment 1966 die EL einge­führt – eigent­lich als Über­gangs­lö­sung, bis die AHV existenz­si­chernd ist. Knapp 60 Jahre später beziehen 12 Prozent aller Rentner*innen EL, weil sie ihre mini­malen Lebens­ko­sten nicht decken können. Auch die Inva­li­den­ver­si­che­rung (IV) ist Teil der 1. Säule und müsste existenz­si­chernd sein. Heute bezieht jede*r zweite IV-Bezüger*in EL.

Die EL bezahlen die Diffe­renz zwischen dem Einkommen (AHV- und Pensi­ons­kas­sen­rente, Teile des Vermö­gens) und den aner­kannten Ausgaben. Diese unter­scheiden sich, je nachdem, ob man zu Hause oder in einem Heim, allein­ste­hend oder in einer Ehe lebt. Für daheim wohnende, unver­hei­ra­tete EL-Bezüger*innen gelten: 

  • Lebens­be­darf: 1’675 Franken 
  • Miete: maximal 783 bis 1’465 Franken – je nach Wohnort und Wohnsituation
  • Kran­ken­kasse: maximal 410 bis 670 Franken – je nach Wohnort höch­stens die kanto­nale Durchschnittsprämie 

Die EL geht für diese Personen von einem maxi­malen Lebens­be­darf zwischen 2’868 und 3’810 Franken pro Monat aus. Durch­schnitt­lich bezieht ein*e daheim lebende*r EL-Bezüger*in 1ʼ150 Franken EL pro Monat.

Die seit 2021 gültige EL-Reform hat nach einer drei­jäh­rigen Über­gangs­frist auf Anfang Januar 2024 auch bei bishe­rigen EL-Bezie­henden zu Kürzungen geführt. Für WGs und Konku­bi­nate wurden die Miet­zins­ma­xima gesenkt: Es wird nur noch die effek­tive Kran­ken­kas­sen­prämie anstatt einer Pauschale vergütet und bei Ehepaaren wird das Einkommen der Ehepartner*innen neu zu einem grös­seren Prozent­satz ange­rechnet. 

Auch wird neu das Vermögen stärker als bisher berück­sich­tigt: Der fest­ge­legte Frei­be­trag, den man abziehen kann, bevor das übrige Vermögen zu einem bestimmten Prozent­satz als Einkommen ange­rechnet wird, wurde gesenkt. Die Reform hat auch eine expli­zite Vermö­gens­grenze nach oben eingeführt. 

Zudem wird mit der Einfüh­rung der Lebens­füh­rungs­kon­trolle über­prüft, wie viel Vermögen eine Person in den letzten 10 Jahren vor AHV-Bezug bezie­hungs­weise während des EL-Bezugs verbraucht hat. Erlaubt ist, zehn Prozent des Vermö­gens pro Jahr zu verbrau­chen. Jeder Franken, der über dieser Grenze liegt, wird als Vermögen ange­rechnet und die EL entspre­chend gekürzt. 

Neu gilt auch eine Rück­zah­lungs­pflicht nach dem Tod: Erb*innen müssen aus dem Nach­lass EL zurück­zahlen, die die Verstor­benen zu Lebzeiten bezogen haben. Dies gilt für Erbschaften, die 40’000 Franken über­steigen. Die Reform wurde vom National- und Stän­derat über­par­tei­lich abge­segnet und es wurde kein Refe­rendum ergriffen. 

Das Lamm: Die aktu­ellen Umfragen zeigen, dass sich die Bevöl­ke­rung eigent­lich existenz­si­chernde Renten wünscht. Eine 13. AHV-Rente löst dieses Verspre­chen aber längst nicht ein. Welche konkreten Verbes­se­rungen würden EL-Bezie­henden unab­hängig von der 13. AHV-Rente helfen?

Marie Baumann: Das kann man nicht pauschal sagen. EL sind als Bedarfs­lei­stungen konzi­piert. Das heisst, es wird ganz genau geschaut, ob und in welchem Umfang eine Person tatsäch­lich bedürftig ist. Die Berech­nung der EL stützt sich dabei auf ausführ­liche und kompli­zierte gesetz­liche Grund­lagen. Daher gibt es kaum eine einzige Mass­nahme, die allen EL-Bezie­henden glei­cher­massen nützen würde. Es hängt stark von der indi­vi­du­ellen Situa­tion ab, welche gesetz­li­chen Ände­rungen sich für eine Einzel­person konkret als Vorteil erweisen.

Was allen EL-Bezie­henden zugu­te­käme, aber nicht direkt mit den EL selbst zu tun hat, wäre eine Steu­er­be­freiung – nicht nur der EL, wie es heute schon der Fall ist, sondern auch der AHV- bezie­hungs­weise IV-Renten von EL-Bezie­henden. Natür­lich müssten dann aus Gründen der Fair­ness auch alle anderen tieferen Einkommen, zum Beispiel von working poor, steu­er­frei sein. Ob dies reali­stisch wäre, ist fraglich.

Welche Konse­quenzen hatte denn die letzte EL-Reform für EL-Beziehende? 

Auch hier spielt die persön­liche Situa­tion der Betrof­fenen eine entschei­dende Rolle. So wurden beispiels­weise bei der letzten EL-Reform die Miet­zins­ma­xima für einige Gruppen wie Ehepaare, Fami­lien und Allein­woh­nende teils stark erhöht, für Konku­bi­nats­paare und Menschen, die in WGs wohnen, wurden hingegen die Ansätze deut­lich gekürzt.

Die Reform bedeu­tete also für die einen eine Aufstockung des Betrages, für die anderen finan­zi­elle Einbussen? 

Ja, die Ände­rungen haben je nach persön­li­cher Situa­tion unter­schied­liche Auswir­kungen. Vom tieferen Frei­be­trag bezie­hungs­weise der einge­führten Vermö­gens­grenze sind zum Beispiel nur jene EL-Bezie­henden betroffen, die über ein Vermögen von mehr als 30’000 Franken – der neu fest­ge­legte Frei­be­trag – bezie­hungs­weise von mehr als 100’000 Franken – die Vermö­gens­grenze – verfügen. 

Diese Rege­lungen werfen grund­le­gende Fragen auf: Wie viel Vermögen sollen EL-Bezie­hende besitzen dürfen? Welche Beträge sollen ihnen für Wohn­ko­sten und Lebens­un­ter­halt zuge­standen werden? Über diese Fragen muss im gesell­schaft­li­chen und poli­ti­schen Diskurs ein Konsens gefunden werden.

Die fand ja mit der EL-Reform zumin­dest auf poli­ti­scher Ebene statt, oder?

Die Debatte im Parla­ment war stark von Miss­brauchs­be­fürch­tungen geprägt und entspre­chend fiel die Gesetz­ge­bung dann auch aus. Eine breite öffent­liche Diskus­sion über die EL fand nicht statt. Inter­es­san­ter­weise stiess nach dem Inkraft­treten der Reform jene Ände­rung auf beson­ders grosse Empö­rung, die EL-Bezie­hende gar nicht selbst, sondern „nur“ ihre Erb*innen betrifft: die Rück­erstat­tungs­pflicht. Diese sieht vor, dass Erb*innen von Erbschaften, die 40‘000 Franken über­steigen, die bezo­genen EL der Erblasser*innen zurück­be­zahlen müssen. Im Parla­ment ist bereits ein Vorstoss hängig, der diese Rege­lung rück­gängig machen will. Dieser grund­le­gende System­wechsel vom Versi­che­rungs­sy­stem zu rück­zah­lungs­pflich­tigen Fürsor­ge­lei­stungen wird offenbar in der Bevöl­ke­rung nicht goutiert.

Marie Baumann bloggt auf ivinfo.wordpress.com seit Jahren zu Behin­de­rung und Inva­li­den­ver­si­che­rung und ist zu diesen Themen auch auf Twitter aktiv. Sie hat den Leit­faden „Arbeiten mit psychi­scher Erkran­kung“ geschrieben, der speziell auf die Bedürf­nisse von Betrof­fenen ausge­richtet ist.

Abge­sehen von der Rück­erstat­tungs­pflicht stiess die Reform aber nicht auf grossen Wider­stand. Das Miss­trauen gegen­über EL-Bezie­henden ist gross und die Eingriffe in die Selbst­be­stim­mung und persön­liche Gestal­tungs­frei­heit werden nicht als proble­ma­tisch gesehen.

Genau, ein Beispiel dafür ist eine Ände­rung bei den Kran­ken­kas­sen­prä­mien. Da EL-Bezie­hende vor der Reform für die Kran­ken­kas­sen­bei­träge die kanto­nale Durch­schnitts­prämie als Pauschal­be­trag erhielten, konnten sie mit der Wahl eines günsti­geren Versi­che­rungs­mo­dells etwas Geld einsparen und für etwas anderes verwenden. Dies wurde im Vorfeld der EL-Reform in der NZZ mit völlig aus der Luft gegrif­fenen Zahlen zum Skandal hoch­sti­li­siert: „Einzelne kassieren über 5’000 Franken extra“, hiess es in dem Artikel vor einem Korri­gendum. Daraufhin hat das Parla­ment beschlossen, dass EL-Bezie­hende keinen Pauschal­be­trag, sondern nur noch die effek­tive Kran­ken­kas­sen­prämie – höch­stens die kanto­nale Durch­schnitts­prämie – erhalten sollen. Das Argu­ment war natür­lich, bei den Kosten der EL sparen zu können.

Und spart der Bund mit dieser Mass­nahme tatsächlich?

Das ist frag­lich. Im erwähnten NZZ-Artikel wurde unter­schlagen, dass sich die wirk­lich hohen Einspar­be­träge bei den Kran­ken­kas­sen­prä­mien vor allem mit einer hohen Fran­chise erzielen lassen. Wer ein solches Modell wählt, muss dann aber im Krank­heits­fall die Kosten in der Höhe der Fran­chise aus eigener Tasche bezahlen – mit eben jenem Geld, das die Person mit der Wahl einer hohen Fran­chise einge­spart hat. Wenn die EL nur die effek­tive Prämie erstattet, gibt es keinen Anreiz, ein solches Modell zu wählen. 

Ganz gene­rell gibt es für EL-Bezie­hende keinen Anreiz mehr, ein möglichst günstiges Prämi­en­mo­dell – zum Beispiel ein Haus­arzt­mo­dell – zu wählen, da sie nicht finan­ziell davon profi­tieren. Profi­tieren dürfte dann nicht der Bund, sondern die Kran­ken­ver­si­cherer, weil EL-Bezie­hende nicht mehr tenden­ziell die günstig­sten Prämi­en­mo­delle wählen.

Gibt es noch weitere Beispiele für eine solch kurz­sich­tige Politik?

Da die Miet­zins­ma­xima für Allein­woh­nende deut­lich erhöht und für WGs deut­lich gesenkt wurden, können sich nun viele WG-Bewohner*innen ihr WG-Zimmer nicht mehr leisten und müssen ausziehen. Unter dem Strich kommt das teurer, weil die Ansätze für Allein­woh­nende bis zu 600 Franken höher sind als die WG-Ansätze. 

Was wären wich­tige Ansätze, um das EL-System zu verbessern?

Der oft gefor­derte Abbau der Büro­kratie klingt zwar verlockend, ist aber leider schlicht nicht möglich, da die EL explizit als „Bedarfs­lei­stungen“ konzi­piert sind und der „Bedarf“ halt genau über­prüft werden muss.

Auf System­ebene wäre aber zu über­legen, ob man die Heim- und Pfle­ge­lei­stungen nicht aus dem EL-System heraus­nehmen und in eine obli­ga­to­ri­sche Pfle­ge­ver­si­che­rung über­führen sollte – damit die EL wirk­lich noch für den Lebens­be­darf zuständig wären. 

Was würde dies bewirken?

Eine Pfle­ge­ver­si­che­rung würde die EL finan­ziell stark entla­sten, denn die Heim­ko­sten machen aktuell 40 Prozent der EL-Ausgaben aus. Ein Heim­auf­ent­halt ist sehr teuer und auch von Personen aus dem Mittel­stand kaum länger aus eigenen Mitteln zu bestreiten. Es besteht also kaum ein Anreiz, fürs Alter Geld zu sparen, wenn die Pflege – die doch ein beträcht­li­cher Anteil der alten Menschen irgend­wann benö­tigt – dann sowieso alles in Kürze auffrisst.

Inwie­fern ist das Abstim­mungs­re­sultat über die 13. AHV-Rente für EL-Bezie­hende relevant? 

Wird die Initia­tive ange­nommen, erhalten auch EL-Bezie­hende eine 13. AHV-Rente. Das klingt erst einmal gut. Doch weil die Initiant*innen fest­ge­legt haben, dass die 13. AHV-Rente bei der Berech­nung der EL nicht berück­sich­tigt werden darf, ergäbe sich die unschöne Situa­tion, dass EL-Bezie­hende unter­schied­lich hohe Beträge für ihren Lebens­un­ter­halt zur Verfü­gung haben würden. 

Können Sie dies genauer erläutern?

Aktuell erhält eine EL-bezie­hende Person – egal wie hoch ihre AHV oder IV-Rente ist – 1’675 Franken pro Monat für den Lebens­be­darf in Form von EL. Bei Annahme der Initia­tive hätte eine AHV-bezie­hende Person zwischen 100 und 200 Franken mehr zu Verfü­gung: eine Person mit der Höchst­rente 1’879 Franken pro Monat, eine Person mit der Mindest­rente 1’777 Franken pro Monat. IV-Bezüger*innen hätten hingegen wie bisher 1’675 Franken für den Lebens­be­darf zur Verfü­gung. Dies wider­spricht der Defi­ni­tion der EL als Bedarfs­lei­stung, bei der eigent­lich allen EL-Bezie­henden gleich viel für den Lebens­be­darf ange­rechnet werden sollte.

Zudem: Es könnte poli­tisch schwie­riger werden, eine Erhö­hung des Lebens­be­darfs zu fordern, weil die Gegner*innen argu­men­tieren könnten, das sei nicht nötig, da es schliess­lich eine 13. AHV-Rente gebe. Diese führt aber eben nicht zu einer gleich­mäs­sigen Erhö­hung für alle EL-Beziehenden.

EL braucht es nur, weil die AHV und IV ihren verfas­sungs­mäs­sigen Auftrag zur Existenz­si­che­rung nicht erfüllen. Ist eine 13. AHV-Rente nicht trotz dieser Ungleich­be­hand­lung von Rentner*innen ein Schritt in die rich­tige Richtung?

Das kann man mit sehr viel Wohl­wollen so inter­pre­tieren. Aller­dings muss man sagen: Der Fokus der Initia­tive lag nie darauf, die Situa­tion für EL-Bezie­hende gezielt zu verbes­sern. Da der aktu­elle durch­schnitt­liche EL-Bedarf bei daheim lebenden EL-Bezie­henden bei 1’150 Franken liegt, könnten die wenig­sten EL-Bezie­henden dank der 13. AHV-Rente auf EL verzichten. Sie müssen in einem System mit sehr vielen Restrik­tionen und Kontroll­me­cha­nismen verbleiben.


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