Am 26. September stimmt die Schweizer Bevölkerung über die sogenannte 99-Prozent-Initiative ab. In diesem Text erfährst du alles, was du über die Forderung der Initiative wissen musst.
Ausserdem findest du hier unseren Kommentar dazu.
Die Initiative mit dem sperrigen Namen „Löhne entlasten, Kapital gerecht besteuern“ will eine Änderung in der Steuerpolitik. Wird die Vorlage angenommen, soll das Einkommen, das aus Kapital kommt, stärker besteuert werden als Einkommen, welches durch Lohnarbeit verdient wird. Genauer: Kapitaleinkommen soll bei der Steuererklärung eineinhalbmal anstatt nur einmal gezählt werden. Eine Einschränkung macht die Initiative: Kapitaleinkommen unter 100’000 soll wie bis anhin besteuert werden. Das Ziel der Initiative ist es, soziale Ungleichheit und insbesondere die Vermögensungleichheit zu bekämpfen. Sie will Vermögen von den Reichsten an den Rest der Bevölkerung umverteilen. Die zusätzlichen Steuereinnahmen sollen genutzt werden, um die Wohlfahrt zu stärken und die Steuern der restlichen Bevölkerung zu senken.
Indem die Initiative diesen Begriff verwendet, macht sie eine Unterscheidung, die im Schweizer Steuerrecht so nicht vorgesehen ist. Nämlich zwischen Arbeitseinkommen, also Einkommen, das mit einer Lohnarbeit erwirtschaftet wird, und Kapitaleinkommen, das durch Eigentum erwirtschaftet wird.
Der Begriff ist aber weder im aktuellen Steuerrecht noch im Initiativtext definiert. Das heisst: Was damit genau gemeint ist, müsste das Parlament nach der Abstimmung in einem Gesetz festlegen. Trotzdem gibt es Anhaltspunkte aus der Steuerpolitik und der Wissenschaft, die den Begriff umreissen. Ausserdem definiert ihn ein Argumentarium des Initiativkommitees. Demzufolge ist Kapitaleinkommen:
- Einnahmen durch eine Immobilie, die vermietet wird
- Einnahmen durch Dividenden für Menschen, die Aktien besitzen
- Einnahmen durch Dividenden für Menschen, die mit ihrem Unternehmen Profit machen
- Einnahmen durch Zinsen
- Einnahmen durch den Verkauf von Aktien, die an Wert gewonnen haben
Eigentlich muss in der Schweiz jedes Einkommen versteuert werden. Dazu gehören:
- Der Lohn einer Person
- Erträge aus Dividenden und Zinsen, Lotteriegewinne und Erbschaften, die nicht an Familienangehörige gehen
- Der Gewinn, den ein Unternehmen macht
Zudem muss Kapital versteuert werden, zum Beispiel:
- Das Vermögen von Privatpersonen, dazu gehören etwa Bankguthaben, Bargeld, Autos, Immobilien, Lebens- und Rentenversicherungen
- Unternehmen müssen ihr Vermögen ebenfalls versteuern
Doch das Steuerrecht macht auf Bundesebene Ausnahmen, zum Beispiel:
- Wer mehr als 10 Prozent der Anteile an einem Unternehmen besitzt, muss den Gewinn daraus nicht komplett versteuern, sondern nur 70 Prozent davon.
- Kursgewinne von Aktienverkäufen sind ebenfalls steuerbefreit
Diese beiden Lücken will die Initiative schliessen.
Die Einkommenssteuer ist in der Schweiz im Vergleich niedrig, genauso wie die Gewinnsteuer. Eine Vermögenssteuer, wie es sie in der Schweiz gibt, ist im internationalen Vergleich ungewöhnlich, dafür ist diese ebenfalls recht niedrig. Andere Länder wie etwa Deutschland oder die USA haben anstatt einer Vermögenssteuer eine Kapitaleinkommenssteuer, wie die Initiative sie verlangt. Zudem trägt das immer noch zum Teil bestehende Bankgeheimnis dazu bei, dass die Schweiz ein sicherer Rückzugsort für Steuerhinterzieher:innen ist.
Insgesamt haben diverse Reformen in den vergangenen 20 Jahren dazu geführt, dass sehr hohe Vermögen genauso wie Unternehmen immer weniger stark besteuert wurden. Das führte zu einem Steuerdefizit. Um das Loch zu stopfen schlug im Jahr 2014 ausgerechnet die damalige bürgerliche Leiterin des Finanzdepartements Eveline Widmer-Schlumpf eine Kapitaleinkommenssteuer vor.
Was Einkommensungleichheit angeht, schneidet die Schweiz besser ab als die USA und Grossbritannien, aber schlechter als Deutschland, Ungarn, Polen und Österreich. „Das oberste Prozent der Arbeitnehmenden erhielt 2018 einen Monatslohn von 25’000 Franken oder mehr. Die obersten 0.1 Prozent erhielten sogar 68’000 Franken oder mehr. Die untersten zehn Prozent – eine halbe Million Arbeitnehmende – erhielt hingegen weniger als 4’200 Franken Monatslohn“, steht im Verteilungsbericht des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes 2020.
Bei der Vermögensungleichheit ist die Kluft noch markanter: Ein Prozent der Bevölkerung besitzt 42 Prozent des Vermögens. Dieser Trend hat in den vergangenen Jahrzehnten stetig zugenommen. Die Vermögenskonzentration ist eine der höchsten weltweit. Sie ist beispielsweise doppelt so hoch wie in Frankreich oder England.
Diese Ungleichheit wird durch die Schweizer Steuerpolitik nicht behoben, wie eine Studie der Universität Zürich herausfand: „Insbesondere fällt auf, dass das Steuersystem in der Schweiz nur einen geringen Beitrag zur Umverteilung zu leisten scheint, wie verschiedene Analysen gezeigt haben. Eine Erklärung für diesen Umstand findet sich im Steuerwettbewerb der Kantone, welcher die Steuerlast insgesamt und besonders für die Reichsten tief hält, sowie in der Tatsache, dass reiche Steuerzahler bevorzugt in den steuergünstigsten Kantonen und Gemeinden wohnhaft sind.“
Da der Initiativtext vieles offenlässt, ist kaum abzusehen, welche Konsequenzen die Vorlage hätte. Einzelne Ökonom:innen und der Bundesrat warnen davor, dass sie dazu führen könnte, dass weniger Geld investiert würde und reiche Steuerzahler:innen auswandern würden. Andere sagen: Im Gegenteil. Das Geld würde ja an Arbeiter:innen rückverteilt, würde dort die Kaufkraft stärken und die Wirtschaft sogar ankurbeln. Letztlich wären dem Parlament bei der Umsetzung aber viele Freiheiten gelassen.
Der Initiativtext könnte zum Beispiel so ausgelegt werden, dass selbst Aktionär:innen von Beteiligungsgesellschaften damit gemeint wären, die momentan von Steuervorteilen profitieren. Das wäre ein Kurswechsel in der bisherigen Bestrebung der Schweizer Politik, das Land zu einer Steueroase zu machen. Gleichzeitig könnte die Initiative so ausgelegt werden, dass nur bestimmte Kapitaleinkommen als solche zählen. Auch könnte der Freibetrag erhöht werden. Bei der aktuellen Zusammensetzung des Parlaments ist es wahrscheinlich, dass die Initiative im Interesse von Grossaktionär:innen und Vermögenden ausgelegt würde.
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