In der Schweiz zu leben, heisst nicht automatisch, ein menschenwürdiges Dasein zu haben, selbst bei legalem Aufenthaltsstatus. Laut einer Studie der Fachhochschule Bern beziehen zwischen 33 und 42 Prozent aller theoretisch Berechtigten keine Sozialhilfe. Das bedeutet konkret, dass ein Drittel aller Menschen unter der Armutsgrenze keine Unterstützung bekommt, um in würdigeren Verhältnissen zu leben.
Woran liegt das?
Der Hauptgrund dafür lässt sich in der gleichen Studie aus dem Jahr 2020 nachlesen: die Angst vor gesetzlichen und sozialen Repressionen. Ausländer:innen, so die Studie, müssten bis heute damit rechnen, beim Beantragen von Sozialhilfe in ihrem Aufenthaltsstatus herabgesetzt zu werden, beispielsweise von einem C auf ein B, oder gar die Aufenthaltsbewilligung zu verlieren.
Zudem sagt die Studie aus, dass „Stigmatisierung, administrative Hürden oder Nichtwissen“ dazu führen, dass gesetzlich verankerte Grundhilfen nicht beansprucht werden. Marianne Hochuli von der Caritas Schweiz wird in diesem Sinne noch konkreter. Gegenüber das Lamm sagt sie: „Mancherorts besteht immer noch die Meinung, eine Not- und Armutslage sei selbstverschuldet.“
Sozialhilfe ist nach in der Schweiz verbreiteter Ansicht also keine Unterstützung an jene, die durch die Wege des Kapitalismus in finanzielle Not gekommen sind, sondern „Bettelgeld für Verlierer“, für Menschen, die angeblich zu faul sind, richtig zu arbeiten, oder es sonst nicht geschafft haben, auf eigenen Beinen zu stehen.
Dass dies nicht stimmt, ist eine Sache. Die andere ist, dass diese Meinung hierzulande vom rechten Rand bis in die linke Mitte auf Zustimmung trifft – wie zuletzt Mario Fehr im Zusammenhang mit der Debatte über Sozialdetektive bewiesen hat. Sozialhilfe verkommt in dieser Logik von einem sozialen und gesellschaftlichen Recht zu einer Art von staatlichem Almosen als Vorstufe zum Betteln auf der Strasse. Ein Geschenk, auf das ausserdem nur Schweizer Staatsbürger:innen wirklich hoffen können. Wie sich deutlich an der Debatte in Baselstadt gezeigt hat. Der Rest wird, gleich mittelalterlicher Praxis, der Stadt verwiesen.
Die Schweiz, ein „Galasozialstaat“?
Das ist gut so, behaupten die einen. So pries der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk die Schweizer Fiskalpolitik im Schweizer Monat und behauptete, die Schweiz sei der einzige europäische Staat, in dem Steuern nicht wie in einer „Kleptokratie“ erhoben und also den Bürger:innen gestohlen würden. In der Schweiz gebe es keine staatlich organisierte Umverteilungsmaschinerie, vielmehr seien reiche Bürger:innen „Sponsoren des Staatswesens“ und hätten ein besonders ausgebautes „Geberbewusstsein“. Steuernzahlen verwandelt sich von einer gesellschaftlichen Pflicht zu einer Spendengala als Wohlfühlevent für Reiche.
Solche Aussagen sind zudem einfach gemacht, in einem Land, das mit einem durchschnittlichen Steuersatz von nur 16,7 Prozent im europäischen Vergleich ein Paradies für Steuervermeider:innen ist. Diesem „Anreiz“ ist zum Beispiel auch die superreiche Rechtsaussen-Politikerin Alice Weidel aus Deutschland in die Schweiz gefolgt. Denn wer laut Schätzungen ein Vermögen von 1,2 Millionen Euro besitzt, zahlt hier nicht nur deutlich weniger Steuern und Sozialabgaben, sondern kann sich durch grosszügige Spenden auch noch richtig profilieren.
Dieser „Galasozialstaat“ bedeutet in der Umkehrung aber auch, dass es nicht selbstverständlich ist, vom Staat Geld zu bekommen. Man muss betteln, seine finanziellen Nöte offenlegen und die Scham überwinden, als „Zecke“ zu gelten. Die Konsequenz: Menschen leben und arbeiten in Armut, obwohl sie eigentlich ein Recht auf ein besseres Leben hätten.
Die Konsequenz aus der Freiwilligkeit
Diese Fehlwirkung zeigt sich besonders hart in der Hochschullandschaft. Für Bachelor- und Masterstudierende gibt es kaum staatlich organisierte Finanzierungsmöglichkeiten. Während etwa in Deutschland rund ein Sechstel aller Studierenden über das staatliche BAföG unterstützt wird, hat die Schweiz keine zentral organisierte Förderstruktur und erhebt zudem auch noch Studiengebühren. Neben vergünstigten Wohnungen oder der allgemeinen Prämienverbilligung existieren vor allem Darlehen und Stipendien. Die Hälfte der Studierenden finanziert sich über die Familie (52 Prozent) und/oder durch eine gleichzeitige Erwerbstätigkeit (39 Prozent).
Im Konkreten heisst das: Die Stipendien von privaten Stiftungen entwickeln bei Weitem nicht die gleiche Reichweite wie staatliche Programme in den Nachbarländern.
Doch was passiert, wenn die Familie nicht die finanzielle Möglichkeit hat, ihre Studierenden zu finanzieren? Wenn die Studierenden eigene Kinder versorgen oder andere nötige Care-Arbeit leisten müssen und es ihnen schwerfällt, neben dem Studium noch zu arbeiten?
Genau hier sollte eigentlich eine zusätzliche finanzielle Hilfe einspringen, um mehr Chancengleichheit zu gewährleisten und das Studium nicht zu einem Privileg der Reichgeborenen verkommen zu lassen. Schliesslich wird hier auch die Zukunft der Gesellschaft ausgebildet. Doch wer einmal in die Situation gekommen ist, zu wenig Geld zu haben, weiss wie mühsam das ist: Stipendien und die wenigen finanziellen Hilfen vonseiten der Uni sind ein Dschungel aus Zuständigkeiten, den zu lichten Tage in Anspruch nimmt. Tage und Stunden, die eine Person mit Zeit- und Geldmangel eben gerade nicht hat.
Die Stiftungen, auch wenn sie eine wichtige Arbeit übernehmen, verwandeln sich in diesen „grosszügigen“ sloterdijkschen Geber. Anstatt für Chancengleichheit zu sorgen, gibt es Eliteförderung für jene, die es aus dem einen oder anderen Grund „wert sind“, gefördert zu werden. Einem Recht auf soziale Hilfe während der Studienzeit kommen sie trotz allem gutem Willen nicht nahe.
Wer in der Schweiz Fördergelder braucht, muss sich darum bemühen, darum bitten und betteln. Eine wichtige Grundvoraussetzung für ein menschenwürdiges Dasein wird dadurch zur Farce. Denn Leute in finanziell schwierigen Situationen haben häufig keine Zeit und nicht die psychische Durchhaltekraft, um sich durch die Berge und Täler der angeblichen sozialen Grundsicherung zu kämpfen. Was bleibt, ist der neunmalkluge Spruch: „Du musst dich halt nur umschauen und ein bisschen anstrengen.“
Für ein Grundrecht auf Unterstützung
Am 1. Juli stellte die Caritas Schweiz ein Positionspapier zu Existenzsicherung und Aufenthaltsstatus vor. Denn, wie schon beschrieben: die meisten Ausschlussmechanismen zielen auf Menschen ohne roten Pass – auch wenn sie hier geboren sind. Darum fordert die Caritas die Entkoppelung der Existenzsicherung von einer Bewertung des Aufenthaltsstatus.
Das wäre ein nötiger Anfang, um eine faire Existenzsicherung zu gewährleisten. Doch es braucht mehr: Soziale Absicherung und Unterstützung in finanziell schwierigen Situation müssen zu einem Grundrecht werden, auf das einfach und ohne Probleme zugegriffen werden kann. Nur so werden den Menschen jene Existenzängste genommen, die bislang oft verhindern, dass sie sich auf das Wesentliche konzentrieren können: Studium, Care-Arbeit, Lohnarbeit und vieles mehr.
Und wie wird das bezahlt? Nun ja, das ist schliesslich eine Prioritätenfrage: Man kann entweder die Steuern erhöhen oder dem Beispiel aus Costa Rica folgen, das sein Militär abgeschafft und das frei werdende Geld in Bildung gesteckt hat. Statt einem Sturmgewehr für jeden Mann ein Stift und Papier für alle.
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