Inhaltswarnung: Dieser Beitrag enthält Schilderungen von Missbrauch, Gewalt, Demütigung und Tod.
Bereits vor dem 7. Oktober zählten Israels Gefängnisse 5’000 inhaftierte Palästinenser*innen, erzählt die Koordinatorin der Abteilung für Gefangene und Häftlinge von Physicians for Human Rights Israel (PHRI), Oneg Ben Dror im Interview mit das Lamm im März. Die Organisation kämpft seit 1988 an vorderster Front für Menschenrechte, insbesondere das Recht auf Gesundheit.
Nun habe sich die Anzahl der gefangenen Palästinenser*innen verdoppelt. Rund 3’500 von ihnen würden in Administrativhaft gehalten, mehrere hundert davon sind Minderjährige. „Das bedeutet, dass Menschen ohne Gerichtsverfahren und ohne Anklage auf Grundlage sogenannter vertraulicher Informationen auf unbestimmte Zeit festgehalten werden“, erklärt Ben Dror. Die betroffenen Personen erhalten keine Einsicht in diese Informationen, da sie das israelische Militär als geheim deklariert. Daher sei es schwierig für die Festgenommenen, sich vor dem israelischen Militärgericht zu verteidigen.
Physicians for Human Rights Israel (PHRI) steht an vorderster Front im Einsatz für Menschenrechte, insbesondere das Recht auf Gesundheit, in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten. Gegründet 1988 von Dr. Ruchama Marton und einer Gruppe israelischer Ärzte, setzt sich PHRI für eine gerechte Gesellschaft ein, in der das Recht auf Gesundheit allen Menschen unter israelischer Verantwortung gleichermassen gewährt wird.
PHRI verfolgt einen umfassenden Ansatz durch humanitäre Hilfe und politisches Engagement. In offenen und mobilen Kliniken bieten freiwillige medizinische Fachkräfte Migrantinnen, Geflüchteten und palästinensischen Bewohnerinnen des Westjordanlands und des Gazastreifens kostenlose Dienste an. Gleichzeitig arbeitet PHRI daran, diskriminierende Strukturen und politische Massnahmen gegenüber Palästinenserinnen in den besetzten Gebieten, Gefangenen, Wanderarbeiterinnen, Geflüchteten, Menschen ohne Papiere und israelischen Einwohner*innen zu verändern. Die Methodik umfasst Datenerhebung, Fallarbeit, rechtliche Schritte, Interessenvertretung, Bildung und die Mobilisierung der medizinischen Gemeinschaft.
Unterstützt von mehr als 3‘500 Mitgliedern und Freiwilligen, hilft PHRI jährlich über 20‘000 Menschen durch medizinische Versorgung und Unterstützung beim Zugang zu ihrem Recht auf Gesundheit.
Früher wurden die Gefangenen nach ein paar Tagen in Armeegewahrsam oft an den israelischen Gefängnisdienst (IPS) übergeben. Seit Beginn des Krieges aber habe sich das geändert. Nun sei vor allem die Armee für die Verwahrung der Gefangenen verantwortlich, insbesondere für diejenigen aus Gaza. Von da an haben sich die Haftbedingungen zunehmend verschärft. Die Gefangenen, unter ihnen auch Kinder, erhielten kaum juristische oder ausreichende medizinische Hilfe.
Das Lamm: Wer sind die Leute, die seit dem Angriff der Hamas am 7. Oktober vom israelischen Militär gefangen gehalten werden?
Oneg Ben Dror: Wir wissen, dass es Personen im Alter zwischen sechs und zweiundachtzig Jahren sind. Es sind sowohl Frauen als auch Männer, Kinder und ältere Menschen, aber auch medizinisches Personal, die aus Schutzräumen wie Schulen und Krankenhäusern verschleppt wurden.
Die palästinensische Kommission für Gefangene und ehemalige Gefangene schätzte im Februar 2024, dass von Oktober bis Februar etwa 500 Minderjährige inhaftiert waren – das heisst, jeden Monat mindestens hundert Kinder und Jugendliche. Für sie gelten die gleichen Konsequenzen und Bedingungen wie für Erwachsene.
Aus welchem Grund wurden all diese Personen inhaftiert?
Die meisten Personen, die in letzter Zeit verhaftet wurden, stammen aus Gaza. Das israelische Militär hält sie als eine Art Kriegsgefangene fest und behauptet, sie alle seien Anhänger*innen der Hamas. Viele von ihnen wurden direkt in Gaza verhaftet, andere auf israelischem Boden.
Darunter sind Palästinenser*innen, die sich am 7. Oktober innerhalb der „grünen Linie“, der Waffenstillstandslinie von 1949, in Israel aufhielten. Dabei handelt es sich meistens um Personen, die eine israelische Arbeitsgenehmigung haben. Diese Arbeiter*innen sind ein wichtiger Pfeiler der israelischen Wirtschaft: Sie haben keine Aufenthaltsbewilligung und sehr niedrige Löhne. Viele von ihnen sind in der Landwirtschaft tätig.
Doch die israelische Regierung hat diesen Arbeiter*innen in den ersten Tagen des Krieges die Genehmigungen entzogen. Sie ordnete an, alle von ihnen zu verhaften, da sie potenzielle Täter*innen sein könnten. Israel hält sie mit unklarem Status fest, bis sie in den Gazastreifen zurückgeschickt werden können – einige Hundert wurden bereits zurückgebracht.
Es gibt auch Fälle, in denen Palästinenser*innen aus gesundheitlichen Gründen ein israelisches Visum haben. Das sind beispielsweise Personen mit einer schweren Krankheit, die in Jerusalem ins Krankenhaus dürfen. Nach dem Angriff der Hamas galten auch sie als Sicherheitsrisiko für Israel und wurden verhaftet.
Wie sehen die Haftbedingungen der Palästinenser*innen in israelischer Haft aus?
Das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) hat Hunderte von den etwa tausend Gefangenen aus Gaza interviewt, die wieder frei kamen. Sie berichten von Gräueltaten.
Oneg Ben Dror ist Projektkoordinatorin in der Abteilung für Gefangene und Inhaftierte bei Physicians for Human Rights Israel. Ihr Schwerpunkt liegt auf systemischen Menschenrechtsverletzungen in israelischen Gefängnissen, insbesondere auf dem Recht auf Gesundheit, der psychischen Gesundheit im Gefängnis und der Isolationshaft, sowie auf den Auswirkungen auf Menschen in Haftanstalten und insbesondere auf unterprivilegierte Gruppen. Sie ist Mitautorin der kürzlich erschienenen Berichte „Medical Ethics and the Detention of Gazan Residents Since the Start of the 2023 War“ und „International Guiding Statement on Alternatives to Solitary Confinement“ sowie dem dazugehörigen „Background Brief“.
Die Gefangenen aus dem Gazastreifen werden in provisorischen Zentren in Gaza, in israelischen Militärstützpunkten und in Einrichtungen des israelischen Gefängnisdienstes festgehalten. Einer dieser zentralen Ad-hoc-Haftanstalten ist in einem Militärstützpunkt namens Sde Teiman im Süden Gazas. Dort werden die Gefangenen laut offizieller Anordnung des israelischen Militärs sowie laut Zeugenaussagen in Freiluftkäfigen festgehalten. Sie sind jederzeit mit Handschellen gefesselt, haben die Augen verbunden und müssen die meiste Zeit des Tages in gebückter Haltung ausharren. Berichten zufolge haben die Fesseln in einigen Fällen zu schweren Verletzungen geführt, sodass das medizinische Personal gezwungen war, Gliedmassen zu amputieren.
Den Gefangenen wird es verboten, sich zu bewegen oder zu sprechen – andernfalls drohen ihnen schwere Strafen. Allen Aussagen von Freigelassenen zufolge werden die Gefangenen regelmässig gedemütigt, indem sich beispielsweise israelische Soldaten auf sie setzen, auf sie urinieren oder sie in offene Wunden schlagen. Sie sprechen auch von sexuellem Missbrauch. Die schwere Gewalt, der sie ausgesetzt sind, führt teils zu Knochenbrüchen, inneren Blutungen und sogar zum Tod.
Wie viele Personen sind seit dem Krieg in israelischer Haft verstorben?
Seit Beginn des Krieges sind mittlerweile 25 palästinensische Gefangene in Haft gestorben (Anm. der Redaktion: Im Mai schätzt Oneg Ben Dror die Zahl auf 60). Unsere Ärzt*innen haben an fünf Autopsien teilgenommen. Zwei von ihnen wiesen schwere Anzeichen von Gewalt auf. Und vier hatten eine Vorgeschichte von chronischen Krankheiten oder medizinischen Problemen, die einer besonderen Betreuung oder Behandlung bedurft hätten, die ihnen verweigert wurde.
Der letzte Fall war der eines 21-jährigen Mannes mit einer chronischen Krankheit, der eine spezielle Diät benötigte. Er hat sie nicht bekommen, obwohl er mehr als ein Jahr im Gefängnis war und der israelische Gefängnisdienst sein medizinisches Problem sehr gut kannte. Sein Zustand verschlechterte sich wochenlang, bis er in ein Krankenhaus überführt wurde, wo sie ihn nicht mehr retten konnten und nur noch seinen Tod feststellten.
Physicians for Human Rights Israel beschäftigt sich vor allem mit der Verbesserung der medizinischen Hilfe der Gefangenen. Wie steht es generell um die medizinische Versorgung der Inhaftierten?
Für Palästinenser*innen ist die medizinische Versorgung schon in den normalen israelischen Gefängnissen unzureichend. In den Feldlazaretten der Militärbasen, in denen seit dem 7. Oktober viele festgehalten werden, gibt es aber so gut wie gar keine medizinische Hilfe. Beim Militärstützpunkt Sde Teiman deuten unsere Berichte darauf hin, dass im Feldkrankenhaus gegen die medizinische Ethik und die beruflichen Standards verstossen wird, was unmenschliche Behandlung und Folter bedeuten kann.
Nur wenn die Personen beinahe an ihren Krankheiten und Verletzungen erliegen, werden sie in normale israelische Krankenhäuser gebracht.
Und dort werden sie angemessen versorgt?
Nein, denn viele der jüdisch-israelischen Ärzt*innen weigern sich, Palästinenser*innen zu behandeln. Manche werden aufgrund komplizierter Schussverletzungen in ein israelisches Krankenhaus gebracht. Doch alles, was über die Rettung des Lebens der Patientinnen hinausgeht, wird als Privileg betrachtet. Wir haben die Abneigung des Personals gegenüber palästinensischen Patient*innen mit eigenen Augen gesehen.
Der rechtsextreme Gesundheitsminister hat zudem angeordnet, dass nur diejenigen Krankheiten behandelt werden dürfen, die zu Beginn der Grund für den Krankenhausaufenthalt sind. Wenn sich die Gefangenen vor Ort eine Infektion einhandeln oder etwas Neues entdeckt wird, darf dies nicht behandelt werden.
Wieso nicht?
Der Gesundheitsminister Israels hat eine Leitlinie herausgegeben, wie diese gefangen gehaltenen Patient*innen behandelt werden müssen. In den Krankenhäusern werden sie anstatt mit dem Namen mit einer fünfstelligen Nummer angesprochen und als „anonym“ registriert.
Die behandelnden Ärzt*innen dürfen sich nicht ausweisen. Es scheint, als wolle der Gesundheitsminister die Ärztinnen davor schützen, sich der schlechten Behandlung von Patient*innen strafbar zu machen, um keine Beweise für die Beteiligung an Folter zu hinterlassen.
Diese Patient*innen, die nicht bei ihrem Namen genannt werden dürfen, tragen Handschellen und haben ihre Augen verbunden, während sie behandelt werden. Manchmal sind sie auch nur mit Unterwäsche bekleidet. Uns liegen auch Zeugenaussagen von Menschen vor, die in Räumen neben der Notaufnahme ohne richtige Ausrüstung behandelt wurden.
Haben sich die menschenunwürdigen Haftbedingungen seit dem 7. Oktober auch in den normalen Gefängnissen intensiviert?
Die Bedingungen für palästinensische Gefangene waren schon zuvor streng. Sie durften beispielsweise keine Telefone benutzen. Wir von Physicians for Human Rights Israel waren bereits vor dem 7. Oktober Zeuge von Folter in Gefangenschaft. Mit der Gründung der aktuellen israelischen Regierung Anfang 2023 wurden die Haftbedingungen schlimmer.
Die Regierung hat beispielsweise ein Gesetz lanciert, das palästinensischen Gefangenen den Zugang zu jeglicher Art von „verbessernder Versorgung“, also medizinischer Hilfe, verwehren soll. Auch das Recht auf Familienbesuche wurde eingeschränkt. Die Zahl der Administrativhäftlinge erreichte bereits im Sommer 2023 mit 1‘200 den höchsten Stand der letzten sieben Jahre.
Seit Beginn des Krieges wurden die Haftbedingungen aber noch gewaltvoller. Ich kann es nur als eine Rachepolitik beschreiben, diese systematische Verletzung der Menschenrechte.
Alle privaten Gegenstände der Gefangenen wurden beschlagnahmt. Sie wurden nur mit den Kleidern an ihren Körpern zurückgelassen, manche nur mit einem T‑Shirt, trotz des Winters. Dann wurde an manchen Orten der Strom komplett abgeschaltet – teilweise auch das Wasser.
Das israelische Militär führte in den Gefängniszellen eine Art systematische Razzien durch. Bei diesen willkürlichen Kontrollen wurden die palästinensischen Gefangenen geschlagen und sexuell missbraucht. Wir haben schreckliche Zeugnisse davon, wie Menschen Demütigungen erlitten; wie ihnen zum Beispiel Gegenstände in ihre intimen Körperöffnungen gesteckt wurden.
Was kann getan werden, um diese schreckliche Situation zu verbessern?
Menschen in der Schweiz können die Regierung auffordern, Israel unter Druck zu setzen. Sie können Parlamentarier bitten, im Parlament zu fragen, wie die Schweizer Regierung die Rechte und Gesundheit von Palästinenser*innen in israelischem Gewahrsam schützt. Sanktionen haben sich auch als wirksames Mittel erwiesen, um Veränderungen zu bewirken.
Generell ist es notwendig, öffentlich über die Situation der palästinensischen Gefangenen zu sprechen und die Information über diese Zustände zu verbreiten, um andere Regierungen dazu zu bringen, Druck auf Israel auszuüben. Unserer Erfahrung nach hilft dieser Druck aber nur, wenn die Forderungen von glaubwürdigen Drohungen und einschlägigen Konsequenzen begleitet werden.
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