„Wenn die Ehe für alle angenommen wird, habe ich die Chance, Mutter von einem Kind zu werden, das von Geburt an zwei rechtlich anerkannte Elternteile hat“, sagt Alessandra Widmer, Co-Geschäftsleiterin der Lesbenorganisation Schweiz (LOS). Ihr ist es wichtig, dass bei der Abstimmung am 26. September auch mitbedacht wird, wie die Gegner:innen die Themen Samenspende und Familie für ihre Zwecke instrumentalisieren. Zu leicht könnte es sonst passieren, dass trotz Ehe für alle vielen Betroffenen die Familie verwehrt bleibt.
Denn was nach einfacher Gleichstellung klingt – die Aufhebung des Eheprivilegs für heterosexuelle Paare – birgt einige Fallstricke, die sich erst zeigen, wenn man die unterschiedlichen Bedürfnisse gleichgeschlechtlicher und heterosexueller Paare bei der Familienplanung mitberücksichtigt.
An der Realität vorbei
Das „Ehe für alle“-Gesetz sieht auch beim Kinderwunsch durchaus eine Gleichstellung vor: Durch die Umwandlung der eingetragenen Partnerschaft in eine Ehe bekommen gleichgeschlechtliche Paare das volle Adoptionsrecht und den Zugang zur professionellen Samenspende. Beides wurde ihnen bislang verwehrt. Adoptiert werden durften nur Stiefkinder, also Kinder, die eine:r der Partner:innen mit in die Beziehung gebracht hatte; eine Samenspende für lesbische Paare war verboten.
Bei der Adoption scheint die zukünftige Gleichberechtigung nun zu funktionieren. Homosexuelle Ehepaare können bei Umsetzung der Ehe für alle auf die gleiche Art adoptieren, wie es heterosexuellen schon immer erlaubt war.
Was leibliche Kinder angeht, bleiben jedoch einige wichtige Unterschiede. Zum Beispiel heisst es bei der Samenspende ausdrücklich, dass sie „professionell“, also von einer staatlich anerkannten Samenbank, vorgenommen werden muss. Eine Vorschrift, die an der Lebensrealität vieler Regenbogenfamilien vorbeizielt. Denn, wie die LOS auf ihrer Webseite schreibt, würden sich viele „lesbische Paare [...] auch für Samenspenden im Ausland oder private Samenspenden“ entscheiden. „Auch sie und ihr Nachwuchs brauchen rechtlichen Schutz!“
Anders als heterosexuelle Paare, bei denen die Samenspende eine Ausnahme bleibt, sind lesbische Ehepartner:innen mit Kinderwunsch oft auf eine Spende angewiesen. Das führt schon heute zu unterschiedlichen Arten der Samenspende, die im neuen Gesetz nicht unter „professionell“ fallen würden. Viele der daraus hervorgegangenen Kinder werden rechtlich nicht abgesichert, gehören also auch zukünftig nicht wirklich zur Familie.
An der Samenspende zeigt sich, dass die Ehe als rechtliches Konstrukt ursprünglich für heterosexuelle Paare geschaffen wurde. Wo die Samenspende eine Ausnahme ist, reicht der Rückgriff auf die Samenbank aus. Wo sie jedoch quasi alltäglich dazugehört, wollen sich Menschen ihre eigenen Bedingungen schaffen: zum Beispiel mit einer Samenspende durch Freund:innen, Bekannte oder gar in einer Dreierbeziehung – Familienmodelle, die in der herkömmlichen Ehe nicht vorgesehen sind.
Väterschutz vs. Kinderrechte
Argumentiert wird dabei meist mit dem Kindeswohl. Für die seelische Gesundheit eines Kindes sei es wichtig, wissen zu können, wer der biologische Vater ist. Diese Möglichkeit sei nur durch die professionelle Samenspende garantiert, bei der jede künstliche Befruchtung dokumentiert und nachverfolgbar archiviert wird, sodass sich das Kind nach dem 18. Geburtstag selbstständig informieren kann.
Ein fadenscheiniges Argument, meint Widmer und verweist auf die sogenannte Vaterschaftsvermutung. Bei heterosexuellen Ehen wird automatisch davon ausgegangen, dass das Kind der Mutter auch das Kind ihres Ehepartners ist. Eine Annahme, die nicht unbedingt der Realität entsprechen muss, aber ein Recht des Ehemannes voraussetzt, nicht mit der Möglichkeit konfrontiert zu werden, dass ein anderer der biologische Vater seiner Kinder sein könnte.
Es werden sogar aktiv Massnahmen ergriffen, um den Familienvater vor dieser Erkenntnis zu schützen – Massnahmen, die gleichzeitig verhindern, dass Kinder von ihrem biologischen Vater erfahren. „Früher hat man im Biologieunterricht Blutgruppentests durchgeführt“, sagt Widmer. „Eine Praxis, die vielerorts eingestellt wurde, weil das Ergebnis quasi versehentlich Vaterschaften infrage stellen konnte.“
Unter gewissen Umständen schützt man in heterosexuellen Ehen also tatsächlich den Mann vor der möglichen Erkenntnis, nicht der biologische, sondern „nur“ der soziale Vater zu sein, während bei homosexuellen Paaren behauptet wird, das Recht des Kindes, seinen biologischen Vater zu kennen, stehe über allem.
„Ich finde die Frage nach dem biologischen Vater darum nicht so relevant“, sagt Widmer. „Es gibt genug Studien, die zeigen, dass Kinder liebende Bezugspersonen brauchen, egal, ob biologisch verwandt oder nicht. Und das können Regenbogenfamilien genauso gut oder schlecht leisten wie andere.“
Noch deutlicher wird das heterosexuelle Privileg, wenn man auf schwule Paare mit Kinderwunsch schaut. Zwei verheiratete cis Männer sind für die Zeugung eigener Kinder auf einen dritten gebärfähigen Menschen angewiesen. Die professionelle Leihmutterschaft aber bleibt in der Schweiz auch mit der Ehe für alle grundsätzlich verboten.
Widmer steht der Leihmutterschaft selbst kritisch gegenüber. Sie sieht die Gefahr einer Kommerzialisierung und der einhergehenden Ausbeutung verarmter Frauen: Leihmutterschaft als Geschäft.
Gerade daran zeigt sich aber, dass das Problem wieder in einer Definition liegt, die an der Praxis in Regenbogenfamilien vorbeigeht. Auch ohne „professionelle“ und damit potenziell kommerzialisierbare Leihmutterschaft können schwule Paare schon heute auf viele verschiedene Arten mit einer dritten Person ein Kind zeugen, das dann gemeinsam oder zu zweit aufgezogen wird. Aber auch diese Kinder sind in der Ehe für alle nicht vorgesehen. Ihre Familienkonstellationen bleiben rechtlich prekär.
Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass in aktuell laufenden Kampagnen gegen die Ehe für alle oft so getan wird, als würde Leihmutterschaft in erster Linie von schwulen Paaren in Anspruch genommen. Tatsächlich ist es so, dass in der Schweiz Leihmutterschaft eher ein Thema für heterosexuelle Paare mit unerfülltem Kinderwunsch ist. Die bekannten Plakate sind also nicht nur offensichtlich rassistisch, sondern reproduzieren auch homophobe Klischees.
Heiraten für Revolutionär:innen
Wenn die Ehe für homosexuelle Paare aber so viele Hürden mit sich bringt, stellt sich die Frage, warum man sie überhaupt haben will. Ist die Ehe nicht ein grundsätzlich patriarchales Gebilde, das besser überwunden als noch zusätzlich ausgeweitet werden sollte?
Für Widmer greift dieser Gedanke zu kurz: „Natürlich war das auch in der Lesben- und Schwulenbewegung immer wieder ein Thema. Insbesondere unter Lesben hiess es lange: ‚Heiraten? Sicher nicht! Das ist eine überkommene, patriarchale Tradition.‘ Heute ist das aber anders: Es ist nun mal so, dass die Ehe eine Institution von gesellschaftlicher und rechtlicher Relevanz ist, und darum wollen wir gleichberechtigten Zugriff darauf haben. Nur dann können wir an dieser Institution arbeiten und sie langfristig auch revolutionieren.“
Oder anders ausgedrückt: „Wir eignen uns hier Strukturen an, die eigentlich nicht für uns gemacht wurden. Aber nur, wenn wir sie zu unseren Strukturen machen, können wir sie verändern.“
Die Ehe, ein binäres Konstrukt
Wie viel Änderungsbedarf es gibt, wird zum Beispiel auch an der Witwen- und Witwerrente deutlich. Hinter dieser gegenseitigen Absicherung im Todesfall steht das Konzept einer strengen Frau/Mann-Binarität, die auch berücksichtigt, dass Frauen oft weniger verdienen und nach dem Tod des Partners stärker armutsgefährdet sind. Die Witwenrente wird darum anders berechnet als die Witwerrente, womit eine Witwe bei gleichem Gehalt der Partner:in auf einen ganz anderen Betrag kommt als ein Witwer.
Wird die Frau/Mann-Binarität in der Ehe aufgehoben, was nicht nur durch die Ehe für alle, sondern auch durch moderne gleichberechtigte Arbeitsmodelle geschieht, macht das ganze Konzept natürlich keinen Sinn mehr. Hier Änderungen einzufordern und umzusetzen, ist eine Aufgabe, die nur angehen kann, wer sich die Ehe zu eigen macht und sie nicht den konservativen und patriarchal eingestellten Gegner:innen der Ehe für alle überlässt.
Obwohl es also noch ein paar Probleme mit dem Konstrukt Ehe gibt, ist Alessandra optimistisch: „In der Realität sind wir ja schon viel weiter. Zum Beispiel wenn, wie kürzlich geschehen, eine lesbische Mutter im Schweizer Fernsehen sagt: ‚Ich habe eine private Samenspende angenommen und der biologische Vater des Kindes ist der Götti.‘ Es gibt das alles. Jetzt wäre es schön, wenn solche Familienmodelle nicht nur im Privaten gelebt, sondern auch rechtlich und politisch abgesichert werden würden.“
Die Ehe für alle ist ein Schritt in diese Richtung – ein kleiner, aber im Vergleich zu den Trippelschrittchen der vergangenen Jahrzehnte wohl ganz ordentlicher.
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