Der Bundesrat hat am 20. Juni 2018 den Länderbericht der Schweiz zur Agenda 2030 veröffentlicht. Auf insgesamt 24 Seiten liefert das Aussendepartement unter Ignazio Cassis (FDP) darin eine Übersicht über den Fortschritt bei der Umsetzung der insgesamt 17 Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030 der UNO.
Diese 17 Nachhaltigkeitsziele, zu deren Umsetzung sich alle UNO-Mitgliedstaaten bereit erklärt haben, bestehen aus insgesamt 169 Unterzielen, die bis 2030 erreicht werden sollen. Die Agenda 2030 trat am 1. Januar 2016 in Kraft. Mit ihrer Unterzeichnung verpflichteten sich die teilnehmenden Länder dazu, die Nachhaltigkeitsziele sowohl im In- als auch im Ausland zu fördern und so gemeinsam „die drängenden Herausforderungen der Welt zu lösen“.
Grosse Vorarbeit – wenig Inhalt
Der Bundesrat hält in seinem Länderbericht fest, die Schweiz sei bei der Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele auf einem guten Weg. Seine Analyse ergab, dass von den ausgewählten 86 Indikatoren 40 einen positiven Trend, 12 keine signifikante Entwicklung und 14 einen negativen Trend aufwiesen, während bei 21 Indikatoren keine Beurteilung möglich sei.
Was auf den ersten Blick positiv klingen mag, wurde von Alliance Sud und anderen Organisationen fast umgehend als „klar ungenügend“, „substanzlos“ und „enttäuschend“ abgekanzelt. Was steckt dahinter?
„Aussenminister Cassis scheut sich anscheinend vor gewissen Themen. Das Vertrauen in die Zivilgesellschaft scheint ihm völlig zu fehlen“, sagt Eva Schmassmann von Alliance Sud. „Die Agenda 2030 ist ein politischer Referenzrahmen und erfordert als solcher auch griffige politische Kurswechsel.“ Eva Schmassmann steht als Präsidentin der Plattform Agenda 2030 vor, einem Zusammenschluss aus rund 40 zivilgesellschaftlichen Akteuren. Diese Akteure fehlen im Länderbericht vollständig. Das war eigentlich nicht so geplant: Für die Ausarbeitung des Berichts hat die Verwaltung eine Onlinebefragung ausgestaltet, an welcher über 170 solche zivilgesellschaftliche Organisationen teilgenommen haben.
Unter anderem auf dieser Grundlage sei ursprünglich ein längerer Bericht entstanden, der auch konkrete Herausforderungen für die Schweiz aufgezeigt habe, sagt Marianne Hochuli vom Bereich Grundlagen bei Caritas Schweiz. „Diese Herausforderungen werden in dem jetzt veröffentlichten Bericht überhaupt nicht benannt.“ Das bestätigt auch Eva Schmassmann von Alliance Sud: „Der Länderbericht kommt äusserst positiv daher. Kritische Anmerkungen unsererseits bezüglich Armut in der Schweiz und Gleichstellungsfragen nehmen praktisch keinen Platz darin ein.“ Dahinter stecke politisches Kalkül, ist die Caritas überzeugt. „Es wird spürbar, dass das Aussenministerium alles tut, um konkrete Verpflichtungen zu unterlaufen“, hält die Organisation in ihrer Medienmitteilung resigniert fest.
Die Politik des Bundesrates steht mit der Agenda 2030 im Widerspruch
Tatsächlich ist der Bundesrat in seiner Eigenevaluation äusserst grosszügig. So schreibt er, dass die Gleichstellung der Geschlechter eine seiner Prioritäten sei. Bezüglich der Gleichstellung sei die Schweiz auf einem sehr guten Weg. Erstaunlich, wenn man bedenkt, dass die verwässerte Frauenquote für Verwaltungsräte und Geschäftsleitungen vom Nationalrat nur dank der Abwesenheit von Roger Köppel (SVP) mit 95 zu 94 Stimmen bei drei Enthaltungen angenommen wurde.
Und so ziehen sich die Widersprüche durch den ganzen Länderbericht hindurch. Etwa bei der Armutsbekämpfung in der internationalen Zusammenarbeit: Die Schweiz orientiere sich an einem mehrdimensionalen Armutsbegriff, sagt der Bundesrat. Dieser Armutsbegriff umfasse die menschlichen Grundbedürfnisse sowie wirtschaftliche, soziale, ökologische, politische und soziokulturelle Aspekte. Griffige Massnahmen, wie sie etwa die Konzerninitiative fordert, lehnt der Bundesrat aber ab. Er sprach sich ohne Gegenvorschlag gegen die Initiative aus, welche Schweizer Unternehmen zur Einhaltung von Menschenrechten und internationalen Umweltstandards verpflichten will.
Widersprüchlich ist in diesem Zusammenhang zudem der Entscheid der Landesregierung, dass der Export von Schweizer Waffen neu auch in Länder mit internen, bewaffneten Konflikten erlaubt sein soll. „Der Entscheid zu den Waffenexporten ist mit dem zivilgesellschaftlichen Bestreben nach einer friedlichen, nachhaltigen und inklusiven Welt nicht vereinbar“, sagt Eva Schmassmann von Alliance Sud dazu.
Eigentlich hätten diese Widersprüche im Länderbericht thematisiert werden sollen. Das entsprechende Kapitel, welches sich mit der Kohärenz der Schweizer Politik auseinandersetzt, wurde aber nicht publiziert. Dabei sei die Frage nach der Kohärenz eine der wichtigsten, findet Marianne Hochuli von Caritas. „Es geht darum, welche Politik wir in der Schweiz machen und welchen Einfluss diese Politik auf die Welt hat.“ Für den Bundesrat ist das Thema anscheinend vernachlässigbar: Im jetzt veröffentlichten Länderbericht wird es nur gestreift.
Menschenhandel als blinder Fleck des Bundesrates
Nicht nur auf internationalen Ebene steht die bundesrätliche Selbsteinschätzung im Konflikt mit aktuellen Entwicklungen. Zwar schreibt der Bundesrat, dass die Schweiz ihre Bevölkerung vor Menschenhandel und ‑schmuggel schütze und dabei sei, bis 2020 einen Massnahmenplan gegen Menschenhandel umzusetzen. Mit keinem Wort wird allerdings erwähnt, dass das Schweizer Asylwesen ein schwerwiegendes Problem mit Menschenhandel hat.
Im Jahr 2017 hat die Fachstelle für Frauenhandel und Frauenmigration FIZ 228 Fälle von Frauenhandel betreut. Über ein Drittel der neuen Fälle betrifft Asylsuchende, schrieb die FIZ in einer Medienmitteilung Mitte Mai. Innerhalb eines Jahres habe sich somit der Anteil von Betroffenen aus dem Asylbereich an der gesamten Anzahl Fälle von Frauenhandel verdreifacht. Die FIZ, die selber auch an der Befragung teilgenommen hat, schreibt auf Anfrage von das Lamm, dass die FIZ die Schutzbemühungen der Schweiz im Bereich Menschenhandel grundsätzlich begrüsst. Allerdings seien die internationalen Vorgaben im Asylbereich weiterhin nicht vollständig umgesetzt. Der Zugang zu Opferhilfe und Opferschutz werde durch das Fehlen von Abläufen und Kooperationsvereinbarungen stark erschwert. Fand die Tat im Ausland statt, fehlt der Zugang vollständig. Damit man Menschenhandel und Menschenschmuggel nachhaltig bekämpfen könne, müsse man legale und sichere Migrations- und Arbeitsmöglichkeiten schaffen, so die FIZ.
Der Länderbericht des Bundesrates ist also äusserst umstritten. Bei vielen Befragten herrscht der Eindruck vor, dass das Aussenministerium unter Ignazio Cassis überprüfbare Verpflichtungen und griffige Massnahmen verhindern möchte. Marianne Hochuli: „Die Schweiz erfüllt mit dieser lückenhaften Analyse ihre Aufgabe nicht – und lässt sich so eine Chance entgehen.“
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