Maria war 27 Jahre alt, als sie ihr Baby verlor. Es war ihre erste Schwangerschaft. Sie befand sich in der 26. Schwangerschaftswoche, als völlig unerwartet Geburtswehen einsetzten und ihr Kind starb. Daraufhin wurde Maria der Kindstötung beschuldigt, angeklagt und zu einer einjährigen Arbeitshausstrafe verurteilt.
Das war im Jahr 1891. Wie Maria brachten auch Katharina und Louise um die Wende zum 20. Jahrhundert tote oder zu früh geborene Kinder zur Welt. Sie alle wurden wegen Kindstötung strafrechtlich verfolgt und verurteilt. Ihre Fälle sind in den Kindsmordakten des Staatsarchivs St. Gallen ausführlich dokumentiert. Die Akten berichten über die staatliche Verfolgung von Frauen in einem anderen Jahrhundert.
Doch in Zeiten, in denen beispielsweise die USA die reproduktiven Rechte von Frauen erneut angreifen, sind ihre Geschichten besonders aktuell.
Unter Verdacht
Maria hatte sich während ihrer Schwangerschaft wohlgefühlt. Sie verspürte keine Übelkeit, es ging ihr gut, ihr Körper machte ihr keine Beschwerden. Aber sie hielt ihre Schwangerschaft vor allen ausser ihrem Partner geheim. Sie befand sich nämlich in einer komplizierten Situation: Ihr Partner und sie waren nicht verheiratet. Als Ausländer fehlte ihm eine unbefristete Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz. Hinzu kamen die finanziellen Verhältnisse der beiden, die eine Heirat bislang ebenfalls nicht ermöglicht hatten. Als unverheiratete schwangere Frau galt Maria in der damaligen Zeit als moralisch verloren.
Ihre Schwangerschaft stellte sie zudem vor existenzielle Schwierigkeiten. Als zukünftige Mutter hatte sie keine Aussicht auf eine Arbeitsanstellung und damit auf ein gesichertes Einkommen. Sozialversicherungen, wie wir sie heute kennen, existierten damals noch nicht. Aus diesen Gründen erzählte sie niemandem von ihrer Schwangerschaft und gab zu Protokoll, dass sie inständig darauf gehofft habe, dass sich noch vor der Geburt des Kindes irgendeine Lösung für die Situation ergeben werde. Es ist unter diesen Umständen nicht auszuschliessen, dass sie sich vielleicht sogar eine Fehlgeburt oder Totgeburt herbeigewünscht hat.
Nach einem längeren und anstrengenden Spaziergang wurde Maria am darauffolgenden Tag von Geburtswehen überrascht. Sie brachte ein winziges Mädchen zur Welt, 38 Zentimeter lang und rund 300 Gramm schwer. In der damaligen Zeit galt ein Gewicht von gut 3’200 Gramm als durchschnittliche Grösse für ein am Termin neugeborenes Mädchen.
Anhand heutiger medizinischer Kenntnisse über die Entwicklung des Fötus im Mutterleib ist anzunehmen, dass Marias Mädchen nicht nur zu früh geboren, sondern auch mangelentwickelt war. Das Mädchen atmete, als es zur Welt kam, verstarb aber wenige Minuten später. Es war schlicht zu klein und zu unreif, als dass es eine Überlebenschance gehabt hätte. Ende des 19. Jahrhunderts gab es noch keine intensivmedizinischen Möglichkeiten für Frühgeburten.
Der medizinische Sachverständige, der Marias Frühgeburt untersuchte, stellte fest, dass sie „wahrscheinlich eine Fehlgeburt hatte“ und „es ohne Absicht geschah“. Er kam zum Schluss, dass sie sich körperlich überanstrengt und dies zur Frühgeburt geführt hatte.
Auch wenn die Ärzte einschätzten, dass das kleine Mädchen nicht lebensfähig gewesen wäre: Die Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen machte Maria dafür verantwortlich, dass sie nicht rechtzeitig die Hilfe einer Hebamme in Anspruch genommen hatte. In den Augen des Staates war Maria zur Verdächtigen geworden. Sie wurde angeklagt und verurteilt, ihre Schwangerschaft verheimlicht und das Kind getötet zu haben.
Bei Katharina kam das ärztliche Gutachten zum Schluss, dass das Kind „wahrscheinlich in Folge unpassender Körperanstrengung der Mutter […] zu früh geboren worden“ ist. Sie hatte ihre Schwangerschaft verheimlicht und keine Hebamme zur Geburt beigezogen – und ihr Kind starb kurz nach der Geburt. Das Gericht argumentierte mit der Verheimlichung der Schwangerschaft und der Geburt ohne Beistand: „Allein aus den Umständen lässt sich auf die Absicht, das Kind zu tödten, schliessen u. es ist daher das schwere Verbrechen, nämlich Kindsmord anzunehmen.“ Dies, obwohl die Ärzte auch bei ihr klar festgehalten hatten, dass der Tod des Kindes „durch den Umstand, dass es nicht völlig ausgetragen war“ eingetreten sei.
Diese Fallbeispiele aus dem St. Galler Staatsarchiv zeigen, was in der Schweiz des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts allgemeinhin galt: Die Verheimlichung der Schwangerschaft war ein strafbarer Beweis dafür, dass die werdende Mutter die Absicht hatte, das Kind nach der Geburt zu töten.
Vor Gericht
In den Jahren zwischen 1815 und 1930 sind in den Strafprotokollen des Kantonsgerichts St. Gallen knapp 100 Fälle von Kindstötungen verzeichnet. Rund 40 dieser Fälle sind im Staatsarchiv St. Gallen dokumentiert. Diese Kindsmordakten sind Beispiele für Fälle wie sie nicht nur in der Schweiz, sondern auch in Deutschland vorgekommen sind. Auch wenn diese strafrechtlich verfolgten Frauen ihre neugeborenen Kinder mehrheitlich auch tatsächlich getötet hatten: Marias und Katharinas Schicksale zeigen, dass es darunter auch Frauen gab, die für ihre Fehl- und Totgeburten fälschlicherweise des Kindsmords verdächtigt und verurteilt wurden.
Auch Louise wurde vom Staat vorgeworfen, ihr mehrere Wochen vor dem eigentlichen Geburtstermin geborenes Kind ohne die fachliche Unterstützung einer Hebamme zur Welt gebracht und damit deren Tod willentlich herbeigeführt zu haben. So versuchte auch Louise, dem Gericht zu erklären, dass ihr Kind bereits tot zur Welt gekommen war. Doch die zuständigen Gerichtsmediziner konnten die Aussagen von Louise anhand des toten Neugeborenen, das als Beweismittel galt, weder bestätigen noch widerlegen.
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Im Zug des Geburtenrückgangs und der ausserordentlich hohen Kindersterblichkeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ging die Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen bei jedem Fall von möglicher Abtreibung und Kindstötung streng vor. Das kantonale Strafgesetzbuch erkannte bei nicht lebensfähigen Geburten zwar mildernde Umstände an, aber für die Ärzte war es schwierig, am Körper des toten Kindes festzustellen, ob es sich um eine Abtreibung, eine Fehlgeburt, einen Kindsmord oder eine Totgeburt handelte.
Um herauszufinden, ob das Kind tot oder lebend zur Welt gekommen war, behalf man sich damals der sogenannten Lungenschwimmprobe. Diese entdeckte Arzt Johannes Schreyer Ende des 17. Jahrhunderts und wird teilweise bis heute angewandt. Sie funktioniert nach einem einfachen Prinzip: Schwimmen beide Lungenhälften im Wasser, so hat das Kind geatmet, also gelebt. Sinken sie unter, so handelt es sich um eine Totgeburt.
Trotz dieser vermeintlichen Eindeutigkeit waren sich die Gerichtsmediziner aber erstaunlich häufig unschlüssig über ihre Untersuchungsobjekte. Der Graubereich, in dem die Luftbläschen der beiden oder zumindest von einem Lungenflügel bereits mit Luft gefüllt waren, obwohl das Kind während oder gleich nach der Geburt starb, war insbesondere bei Frühgeburten gross.
Im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts war es also schwierig, gerichtsmedizinisch klar zwischen einer Lebend- und einer Totgeburt zu unterscheiden. Um Schuld oder Unschuld festzulegen, zog die Staatsanwaltschaft deshalb andere Kriterien heran. Ob die Angeklagte die „richtigen“ Absichten gehabt hatte, spielte in den Schuldsprüchen eine viel grössere Rolle als die Fragen, ob die Frau fehlgeboren hatte, ob dies willentlich als Abtreibung geschehen war oder ob ihr Kind während oder nach der Geburt verstorben war.
Von der Vergangenheit in die Gegenwart
Was diesen Frauen widerfahren ist, liegt nicht einfach weit in der Vergangenheit. Auch heute sehen sich US-amerikanische Frauen in denjenigen Staaten, in denen die Aufhebung des Urteils Roe v. Wade die Tür für Anti-Abtreibungsgesetze geöffnet hat, mit ähnlichen Problemen konfrontiert: Frauen mit Fehlgeburten stehen unter Generalverdacht und werden unter Druck gesetzt zu beweisen, dass der Verlust eines ungeborenen Kindes für sie ein echter und ungewollter Verlust ist.
So schilderte etwa Janneke aus Texas im vergangenen Sommer in einem Tweet, was ihr passiert ist. Mit Rückenschmerzen und vaginalen Blutungen ging sie zu ihrem Arzt. In der Arztpraxis erfuhr sie nicht nur, dass sie schwanger war, sondern auch, dass sie eine Fehlgeburt erlitten hatte. Ihr Arzt war zunächst verständnisvoll, dass sie von ihrer Schwangerschaft nichts gewusst hatte. Aber als Janneke erzählte, dass sie als Teenager eine Abtreibung gehabt hatte, vermutete der Arzt plötzlich, dass dies auch jetzt der Fall war.
Etwa 15 bis 20 Prozent aller klinisch festgestellten Schwangerschaften enden im ersten Drittel der Schwangerschaft mit einer Fehlgeburt. Und etwa die Hälfte aller Frauen mit zwei oder mehr Kindern hat mindestens eine Fehlgeburt erlitten. Wenn Abtreibung kriminalisiert wird, werden Frauen mit Fehlgeburten automatisch ebenfalls zu Verdächtigen. Wie Kelda Roys, die Senatorin des Bundesstaates Wisconsin, feststellte, werden alle Staatsanwält*innen in den Bundesstaaten, die fortan ein komplettes Abtreibungsverbot kennen, in Zukunft gegen Fehlgeburten ermitteln dürfen.
Die Gesetzgebung, die die Kantone der Schweiz zur Bekämpfung von Abtreibung und Kindstötung eingeführt hatten, führte in der Praxis des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts in der Schweiz zur Stigmatisierung und Kriminalisierung von Frauen mit Fehl- oder Totgeburten. Der im letzten Sommer in den USA vom Obersten Gerichtshof aufgehobene Entscheid zum Recht auf Abtreibung macht die Erfahrungen von Maria, Katharina und Louise relevant für das Hier und Jetzt.
In den Bundesstaaten der USA, deren Regierungen ihre Abtreibungsgesetzgebung seit der Aufhebung von Roe v. Wade radikalisieren, scheint es aktuell wieder zu ähnlichen Mechanismen zu kommen: Frauen mit einer Fehl- oder Totgeburt stehen unter dem Generalverdacht der Abtreibung.
Martina Sochin-D’Elia ist Historikerin an der Universität Zürich. In ihrem Post-Doc-Projekt beschäftigt sie sich mit den Erfahrungen von Frauen, die im 19. und 20. Jahrhundert eine Fehl- oder Totgeburt hatten.
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