Bestraft für Totgeburten 

Gerichts­akten aus dem 19. und 20. Jahr­hun­dert zeigen, wie Frauen in der Schweiz für ihre Fehl- und Totge­burten immer wieder der Kinds­tö­tung bezich­tigt wurden. Heute scheinen Frauen in einigen US-Bundes­staaten von ähnli­chen Mecha­nismen bedroht. 
Das Gemälde "Die Kindsmörderin" (1877) von Gabriel Cornelius Ritter von Max zeigt eine Mutter, die die Tötung ihres neugeborenen Kindes als letzten Ausweg aus ihrer Verzweiflung gesehen hat. (Hamburger Kunsthalle / bpk, Foto: Elke Walford)

Maria war 27 Jahre alt, als sie ihr Baby verlor. Es war ihre erste Schwan­ger­schaft. Sie befand sich in der 26. Schwan­ger­schafts­woche, als völlig uner­wartet Geburts­wehen einsetzten und ihr Kind starb. Daraufhin wurde Maria der Kinds­tö­tung beschul­digt, ange­klagt und zu einer einjäh­rigen Arbeits­haus­strafe verurteilt. 

Das war im Jahr 1891. Wie Maria brachten auch Katha­rina und Louise um die Wende zum 20. Jahr­hun­dert tote oder zu früh gebo­rene Kinder zur Welt. Sie alle wurden wegen Kinds­tö­tung straf­recht­lich verfolgt und verur­teilt. Ihre Fälle sind in den Kinds­mord­akten des Staats­ar­chivs St. Gallen ausführ­lich doku­men­tiert. Die Akten berichten über die staat­liche Verfol­gung von Frauen in einem anderen Jahrhundert.

Doch in Zeiten, in denen beispiels­weise die USA die repro­duk­tiven Rechte von Frauen erneut angreifen, sind ihre Geschichten beson­ders aktuell.

Unter Verdacht

Maria hatte sich während ihrer Schwan­ger­schaft wohl­ge­fühlt. Sie verspürte keine Übel­keit, es ging ihr gut, ihr Körper machte ihr keine Beschwerden. Aber sie hielt ihre Schwan­ger­schaft vor allen ausser ihrem Partner geheim. Sie befand sich nämlich in einer kompli­zierten Situa­tion: Ihr Partner und sie waren nicht verhei­ratet. Als Ausländer fehlte ihm eine unbe­fri­stete Aufent­halts­be­wil­li­gung in der Schweiz. Hinzu kamen die finan­zi­ellen Verhält­nisse der beiden, die eine Heirat bislang eben­falls nicht ermög­licht hatten. Als unver­hei­ra­tete schwan­gere Frau galt Maria in der dama­ligen Zeit als mora­lisch verloren. 

Ihre Schwan­ger­schaft stellte sie zudem vor existen­zi­elle Schwie­rig­keiten. Als zukünf­tige Mutter hatte sie keine Aussicht auf eine Arbeits­an­stel­lung und damit auf ein gesi­chertes Einkommen. Sozi­al­ver­si­che­rungen, wie wir sie heute kennen, existierten damals noch nicht. Aus diesen Gründen erzählte sie niemandem von ihrer Schwan­ger­schaft und gab zu Proto­koll, dass sie inständig darauf gehofft habe, dass sich noch vor der Geburt des Kindes irgend­eine Lösung für die Situa­tion ergeben werde. Es ist unter diesen Umständen nicht auszu­schliessen, dass sie sich viel­leicht sogar eine Fehl­ge­burt oder Totge­burt herbei­ge­wünscht hat.

Nach einem längeren und anstren­genden Spazier­gang wurde Maria am darauf­fol­genden Tag von Geburts­wehen über­rascht. Sie brachte ein winziges Mädchen zur Welt, 38 Zenti­meter lang und rund 300 Gramm schwer. In der dama­ligen Zeit galt ein Gewicht von gut 3’200 Gramm als durch­schnitt­liche Grösse für ein am Termin neuge­bo­renes Mädchen.

Anhand heutiger medi­zi­ni­scher Kennt­nisse über die Entwick­lung des Fötus im Mutter­leib ist anzu­nehmen, dass Marias Mädchen nicht nur zu früh geboren, sondern auch mangel­ent­wickelt war. Das Mädchen atmete, als es zur Welt kam, verstarb aber wenige Minuten später. Es war schlicht zu klein und zu unreif, als dass es eine Über­le­bens­chance gehabt hätte. Ende des 19. Jahr­hun­derts gab es noch keine inten­siv­me­di­zi­ni­schen Möglich­keiten für Frühgeburten.

Die Staats­an­walt­schaft des Kantons St. Gallen machte Maria dafür verant­wort­lich, dass sie nicht recht­zeitig die Hilfe einer Hebamme in Anspruch genommen hatte.

Der medi­zi­ni­sche Sach­ver­stän­dige, der Marias Früh­ge­burt unter­suchte, stellte fest, dass sie „wahr­schein­lich eine Fehl­ge­burt hatte“ und „es ohne Absicht geschah“. Er kam zum Schluss, dass sie sich körper­lich über­an­strengt und dies zur Früh­ge­burt geführt hatte.

Auch wenn die Ärzte einschätzten, dass das kleine Mädchen nicht lebens­fähig gewesen wäre: Die Staats­an­walt­schaft des Kantons St. Gallen machte Maria dafür verant­wort­lich, dass sie nicht recht­zeitig die Hilfe einer Hebamme in Anspruch genommen hatte. In den Augen des Staates war Maria zur Verdäch­tigen geworden. Sie wurde ange­klagt und verur­teilt, ihre Schwan­ger­schaft verheim­licht und das Kind getötet zu haben. 

Bei Katha­rina kam das ärzt­liche Gutachten zum Schluss, dass das Kind „wahr­schein­lich in Folge unpas­sender Körper­an­stren­gung der Mutter […] zu früh geboren worden“ ist. Sie hatte ihre Schwan­ger­schaft verheim­licht und keine Hebamme zur Geburt beigezogen – und ihr Kind starb kurz nach der Geburt. Das Gericht argu­men­tierte mit der Verheim­li­chung der Schwan­ger­schaft und der Geburt ohne Beistand: „Allein aus den Umständen lässt sich auf die Absicht, das Kind zu tödten, schliessen u. es ist daher das schwere Verbre­chen, nämlich Kinds­mord anzu­nehmen.“ Dies, obwohl die Ärzte auch bei ihr klar fest­ge­halten hatten, dass der Tod des Kindes „durch den Umstand, dass es nicht völlig ausge­tragen war“ einge­treten sei.

Diese Fall­bei­spiele aus dem St. Galler Staats­ar­chiv zeigen, was in der Schweiz des 19. und begin­nenden 20. Jahr­hun­derts allge­meinhin galt: Die Verheim­li­chung der Schwan­ger­schaft war ein straf­barer Beweis dafür, dass die werdende Mutter die Absicht hatte, das Kind nach der Geburt zu töten. 

Vor Gericht

In den Jahren zwischen 1815 und 1930 sind in den Straf­pro­to­kollen des Kantons­ge­richts St. Gallen knapp 100 Fälle von Kinds­tö­tungen verzeichnet. Rund 40 dieser Fälle sind im Staats­ar­chiv St. Gallen doku­men­tiert. Diese Kinds­mord­akten sind Beispiele für Fälle wie sie nicht nur in der Schweiz, sondern auch in Deutsch­land vorge­kommen sind. Auch wenn diese straf­recht­lich verfolgten Frauen ihre neuge­bo­renen Kinder mehr­heit­lich auch tatsäch­lich getötet hatten: Marias und Katha­rinas Schick­sale zeigen, dass es darunter auch Frauen gab, die für ihre Fehl- und Totge­burten fälsch­li­cher­weise des Kinds­mords verdäch­tigt und verur­teilt wurden.

Auch Louise wurde vom Staat vorge­worfen, ihr mehrere Wochen vor dem eigent­li­chen Geburts­termin gebo­renes Kind ohne die fach­liche Unter­stüt­zung einer Hebamme zur Welt gebracht und damit deren Tod willent­lich herbei­ge­führt zu haben. So versuchte auch Louise, dem Gericht zu erklären, dass ihr Kind bereits tot zur Welt gekommen war. Doch die zustän­digen Gerichts­me­di­ziner konnten die Aussagen von Louise anhand des toten Neuge­bo­renen, das als Beweis­mittel galt, weder bestä­tigen noch widerlegen. 

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Im Zug des Gebur­ten­rück­gangs und der ausser­or­dent­lich hohen Kinder­sterb­lich­keit in der zweiten Hälfte des 19. Jahr­hun­derts ging die Staats­an­walt­schaft des Kantons St. Gallen bei jedem Fall von mögli­cher Abtrei­bung und Kinds­tö­tung streng vor. Das kanto­nale Straf­ge­setz­buch erkannte bei nicht lebens­fä­higen Geburten zwar mildernde Umstände an, aber für die Ärzte war es schwierig, am Körper des toten Kindes fest­zu­stellen, ob es sich um eine Abtrei­bung, eine Fehl­ge­burt, einen Kinds­mord oder eine Totge­burt handelte.

Um heraus­zu­finden, ob das Kind tot oder lebend zur Welt gekommen war, behalf man sich damals der soge­nannten Lungen­schwimm­probe. Diese entdeckte Arzt Johannes Schreyer Ende des 17. Jahr­hun­derts und wird teil­weise bis heute ange­wandt. Sie funk­tio­niert nach einem einfa­chen Prinzip: Schwimmen beide Lungen­hälften im Wasser, so hat das Kind geatmet, also gelebt. Sinken sie unter, so handelt es sich um eine Totgeburt. 

Trotz dieser vermeint­li­chen Eindeu­tig­keit waren sich die Gerichts­me­di­ziner aber erstaun­lich häufig unschlüssig über ihre Unter­su­chungs­ob­jekte. Der Grau­be­reich, in dem die Luft­bläs­chen der beiden oder zumin­dest von einem Lungen­flügel bereits mit Luft gefüllt waren, obwohl das Kind während oder gleich nach der Geburt starb, war insbe­son­dere bei Früh­ge­burten gross. 

Im 19. und zu Beginn des 20. Jahr­hun­derts war es also schwierig, gerichts­me­di­zi­nisch klar zwischen einer Lebend- und einer Totge­burt zu unter­scheiden. Um Schuld oder Unschuld fest­zu­legen, zog die Staats­an­walt­schaft deshalb andere Krite­rien heran. Ob die Ange­klagte die „rich­tigen“ Absichten gehabt hatte, spielte in den Schuld­sprü­chen eine viel grös­sere Rolle als die Fragen, ob die Frau fehl­ge­boren hatte, ob dies willent­lich als Abtrei­bung geschehen war oder ob ihr Kind während oder nach der Geburt verstorben war. 

Von der Vergan­gen­heit in die Gegenwart

Was diesen Frauen wider­fahren ist, liegt nicht einfach weit in der Vergan­gen­heit. Auch heute sehen sich US-ameri­ka­ni­sche Frauen in denje­nigen Staaten, in denen die Aufhe­bung des Urteils Roe v. Wade die Tür für Anti-Abtrei­bungs­ge­setze geöffnet hat, mit ähnli­chen Problemen konfron­tiert: Frauen mit Fehl­ge­burten stehen unter Gene­ral­ver­dacht und werden unter Druck gesetzt zu beweisen, dass der Verlust eines unge­bo­renen Kindes für sie ein echter und unge­wollter Verlust ist. 

Wie Kelda Roys, die Sena­torin des Bundes­staates Wisconsin, fest­stellte, werden alle Staatsanwält*innen in den Bundes­staaten, die fortan ein komplettes Abtrei­bungs­verbot kennen, in Zukunft gegen Fehl­ge­burten ermit­teln dürfen.

So schil­derte etwa Janneke aus Texas im vergan­genen Sommer in einem Tweet, was ihr passiert ist. Mit Rücken­schmerzen und vagi­nalen Blutungen ging sie zu ihrem Arzt. In der Arzt­praxis erfuhr sie nicht nur, dass sie schwanger war, sondern auch, dass sie eine Fehl­ge­burt erlitten hatte. Ihr Arzt war zunächst verständ­nis­voll, dass sie von ihrer Schwan­ger­schaft nichts gewusst hatte. Aber als Janneke erzählte, dass sie als Teen­ager eine Abtrei­bung gehabt hatte, vermu­tete der Arzt plötz­lich, dass dies auch jetzt der Fall war.

Etwa 15 bis 20 Prozent aller klinisch fest­ge­stellten Schwan­ger­schaften enden im ersten Drittel der Schwan­ger­schaft mit einer Fehl­ge­burt. Und etwa die Hälfte aller Frauen mit zwei oder mehr Kindern hat minde­stens eine Fehl­ge­burt erlitten. Wenn Abtrei­bung krimi­na­li­siert wird, werden Frauen mit Fehl­ge­burten auto­ma­tisch eben­falls zu Verdäch­tigen. Wie Kelda Roys, die Sena­torin des Bundes­staates Wisconsin, fest­stellte, werden alle Staatsanwält*innen in den Bundes­staaten, die fortan ein komplettes Abtrei­bungs­verbot kennen, in Zukunft gegen Fehl­ge­burten ermit­teln dürfen.

Die Gesetz­ge­bung, die die Kantone der Schweiz zur Bekämp­fung von Abtrei­bung und Kinds­tö­tung einge­führt hatten, führte in der Praxis des 19. und begin­nenden 20. Jahr­hun­derts in der Schweiz zur Stig­ma­ti­sie­rung und Krimi­na­li­sie­rung von Frauen mit Fehl- oder Totge­burten. Der im letzten Sommer in den USA vom Ober­sten Gerichtshof aufge­ho­bene Entscheid zum Recht auf Abtrei­bung macht die Erfah­rungen von Maria, Katha­rina und Louise rele­vant für das Hier und Jetzt.

In den Bundes­staaten der USA, deren Regie­rungen ihre Abtrei­bungs­ge­setz­ge­bung seit der Aufhe­bung von Roe v. Wade radi­ka­li­sieren, scheint es aktuell wieder zu ähnli­chen Mecha­nismen zu kommen: Frauen mit einer Fehl- oder Totge­burt stehen unter dem Gene­ral­ver­dacht der Abtreibung.

Martina Sochin-D’Elia ist Histo­ri­kerin an der Univer­sität Zürich. In ihrem Post-Doc-Projekt beschäf­tigt sie sich mit den Erfah­rungen von Frauen, die im 19. und 20. Jahr­hun­dert eine Fehl- oder Totge­burt hatten.


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