Betrof­fen­heit ist kein Argument

In vielen linken Kreisen ist man sich einig: Nur wer selbst von etwas betroffen ist, kann fundiert darüber spre­chen. Als würden persön­liche Erfah­rungen allein auto­ma­tisch eine korrekte poli­ti­sche Analyse ermög­li­chen. Dabei gerät der Inhalt der Diskus­sion häufig in den Hintergrund. 
Nicht wer spricht, sondern das bessere Argument sollte entscheidend sein. (Foto: Priscilla du Preez / Unsplash)

„Hört Betrof­fenen zu!“ ist in vielen links-iden­ti­tären Debatten rund um Ungleich­heit und Diskri­mi­nie­rung ein gängiger Appell. Zunächst klingt diese Forde­rung völlig einleuch­tend – wie könnte man die Lebens­rea­li­täten und Perspek­tiven anderer verstehen, ohne denje­nigen zuzu­hören, die direkt davon betroffen sind?

Im Grunde ist das eine Binse: Um andere Erfah­rungen nach­voll­ziehen zu können, sind Infor­ma­tionen unver­zichtbar. Und wer könnte besser schil­dern, wie es ist, Rassismus zu erfahren oder als Sexar­bei­terin zu arbeiten, als die Menschen, die diese Erleb­nisse tatsäch­lich machen?

Gleich­zeitig gilt aber: Betrof­fen­heit allein ersetzt keine fundierte Analyse, denn ein tieferes Verständnis der Sache entsteht nicht allein durch Erfah­rung. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass Betrof­fen­heit auto­ma­tisch zu einem tieferen Verständnis der zugrunde liegenden Verhält­nisse führt, die diese Betrof­fen­heit hervorrufen.

Ebenso wenig ergibt sich ein rich­tiges Urteil allein dadurch, dass „Nicht-Betrof­fene” den Betrof­fenen aufmerksam zuhören. Betrof­fen­heit allein garan­tiert keine korrekten Einsichten – das kann nur die rich­tige Analyse leisten. Aber anstatt sich derer zu bemühen, wird oft gefor­dert, dass Erklä­rungen ausschliess­lich aus der subjek­tiven Perspek­tive derje­nigen kommen dürfen, die durch die bestehenden Verhält­nisse benach­tei­ligt sind.

Zuhören ist gut

Grund­sätz­lich sollte man anderen Menschen zuhören, wenn sie von ihren Erfah­rungen berichten – umso mehr, wenn diese von den eigenen abwei­chen. Das erwei­tert den Hori­zont und ist span­nend. Gerade in Bezug auf Diskri­mi­nie­rung kann die Perspek­tive Betrof­fener helfen, den eigenen Blick­winkel zu erweitern.

So bleiben Männern oft die subtilen, alltäg­li­chen Sexismen verborgen, denen Frauen ausge­setzt sind. Ebenso sollten weisse Menschen die Erfah­rungen von People of Color anhören, die über Rassismus berichten. Zuhören eröffnet Einblicke in Lebens­rea­li­täten, die einem sonst verborgen blieben und sind somit grund­le­gend für die weitere Analyse der Umstände.

Betrof­fen­heit ist kein Argu­ment und Erfah­rung ersetzt keine sach­liche Analyse.

Diese einfache Erkenntnis führt jedoch oft zu einem folgen­schweren Miss­ver­ständnis: der Annahme, dass Betrof­fene per se den besten Zugang zur Wahr­heit hätten und nur durch die Erfah­rung am eigenen Leib das rich­tige Urteil über die Sache möglich sei. Das geht soweit, dass den soge­nannten Privi­le­gierten „Sprech­ver­bote“ erteilt werden: Männer haben die Schnauze zu halten, wenn es um Sexismus geht und weisse Menschen Sende­pause, wenn es dem Rassismus auf den Grund gehen soll.

Dass diese Forde­rung im Wider­spruch zu dem häufig nur wenige Augen­blicke später geäus­serten Appell steht, Nicht-Betrof­fene mögen sich im Kampf gegen Diskri­mi­nie­rung doch bitte stärker enga­gieren, scheint nicht aufzufallen.

Analyse ist besser

Die Annahme lautet, dass jemand, der eine bestimmte Erfah­rung selbst gemacht hat, diese durch die eigenen Erleb­nisse korrekt analy­sieren und ihre Impli­ka­tionen aufzeigen kann. Allen anderen bleibt nur die Möglich­keit, durch Zuhören zu dieser Erkenntnis zu gelangen – eigene Einsichten sind nicht möglich. Eine essen­tia­li­sie­rende Vorstel­lung, die sich auch nicht mit der Wirk­lich­keit deckt. Ein Beispiel:

Die Wahl­er­geb­nisse der AfD und anderer rechts­na­tio­naler Parteien zeigen, dass Arbeiter*innen oft genug nicht die tatsäch­li­chen Ursa­chen ihrer Probleme als Lohn­ab­hän­gige erkennen. Statt­dessen machen sie aus ihrer natio­na­li­sti­schen Perspek­tive vermeint­liche „Schäd­linge“ verant­wort­lich dafür, dass sie in dieser Ordnung trotz aller Anstren­gungen stets zu kurz kommen – seien es Migrant*innen, Ausländer*innen, Juden und Jüdinnen, Linke, Kommunist*innen oder andere Gruppen, die als „volks­fremd“ wahr­ge­nommen werden. Ihre persön­liche Erfah­rung von Eigen­tums­lo­sig­keit im kapi­ta­li­sti­schen System führt keines­wegs zwangs­läufig zur rich­tigen Analyse dieser Erfah­rung als notwen­dige Konse­quenz des Kapitalismus.

Ähnlich verhält es sich mit allen mögli­chen Iden­ti­täten und Formen von Betrof­fen­heit, die man sich vorstellen kann. Wenn es stimmen würde, dass aus der blossen Betrof­fen­heit ein korrektes Verständnis derselben folgen würde, dann müssten alle Frauen auf der Welt die gleiche und rich­tige Analyse geschlechts­be­zo­gener Ungleich­heit haben. Alle von Rassismus betrof­fenen Personen müssten die gleiche und rich­tige Ansicht von (Anti-)Rassismus haben. Alle Juden und Jüdinnen müssten die gleiche und rich­tige Meinung zu Anti­se­mi­tismus und Israel haben.

„Sie sind dies, also denken sie das”

Das ist natür­lich Unsinn – und oben­drein selbst diskri­mi­nie­rend. Beispiel Anti­se­mi­tismus: Die Annahme, dass alle Juden und Jüdinnen die gleiche und rich­tige Meinung zu Anti­se­mi­tismus und seinen teils falschen und wider­sprüch­li­chen Defi­ni­tionen hätten, nur weil sie jüdisch sind, ist selbst anti­se­mi­tisch. Zu glauben, dass alle Jüdinnen und Juden eine iden­ti­sche poli­ti­sche Meinung vertreten, weil ihr „Jüdisch­sein“ ihre Iden­tität und Denk­weise bestimme, entper­so­na­li­siert, homo­ge­ni­siert und essen­tia­li­siert sie.

Es zählt nicht mehr, was gesagt wird, sondern nur noch, wer es sagt.

Anstatt Juden und Jüdinnen als denkende und indi­vi­du­elle Menschen wahr­zu­nehmen, werden sie auf ein einziges Merkmal redu­ziert und zu einer homo­genen Gruppe gemacht: „Er ist Jude, also denkt er das.“ Das ist Rassismus in Rein­form – und ebenso falsch auf andere will­kür­lich defi­nierte Gruppen ange­wendet, wie „Ausländer*innen“, Frauen, queere Menschen, Schwarze Menschen und so weiter.

Die iden­ti­täre Praxis, Betrof­fen­heit und Iden­tität zum Argu­ment zu machen, führt dazu, dass Debatten die Sach­ebene verlassen. Argu­mente und Posi­tionen werden nicht mehr hinter­fragt, sondern Menschen erhalten Recht oder Gehör allein auf Basis ihrer Iden­tität – oder eben nicht. Es zählt nicht mehr, was gesagt wird, sondern nur noch, wer es sagt.

Diskus­sionen werden nicht selten zu einem Wett­be­werb der Betrof­fen­heit, und wer diese am über­zeu­gend­sten darstellen kann, hat die grösste Auto­rität in der Diskus­sion. Das führt zur abso­luten Absage an einen Prozess der Wahr­heits­fin­dung, der auf Argu­menten und Logik basieren muss.

Für eine Debatte, die über Meinungen hinausgeht

Ein Problem entsteht auch dann, wenn zwei oder mehr Betrof­fene unter­schied­liche Meinungen zum Thema vertreten. Beispiel Sexar­beit: Neben vielen weiteren diffe­ren­zierten Stand­punkten stehen sich in der Debatte oft aboli­tio­ni­sti­sche (Ex-)Prostituierte und „selbst­be­stimmte Sexarbeiter*innen” gegen­über. Beide Seiten bean­spru­chen für sich, die Wahr­heit über das System der Prosti­tu­tion erkannt zu haben und die besseren Schlüsse daraus zu ziehen. Was passiert in diesem Fall, wenn „die Betrof­fenen“ immer Recht haben? Wer von ihnen hat denn nun Recht, wenn sich ihre Meinungen widersprechen?

Irgend­wann muss man sich die Frage stellen: Worüber sollen wir uns über­haupt noch unter­halten, wenn niemand die Erfah­rungen des anderen kennt und jeder nur aus seiner persön­li­chen Perspek­tive Einsicht in die Verhält­nisse gewinnen kann?

Wie sollen wir mitein­ander reden, wenn wir Begriffe nicht klären und unsere wider­sprüch­li­chen Meinungen nicht ausdis­ku­tieren? Wie können wir dann noch kommu­ni­zieren, uns verstän­digen, einigen und für die gleiche Sache kämpfen?

Wer wirk­lich an Erkenntnis inter­es­siert ist, wer in Diskus­sionen lernen und sich verstän­digen möchte, wer nicht nur zuhören, sondern selbst denken will, wer gemeinsam nach Wahr­heit suchen statt immer nur alle Meinungen akzep­tieren möchte, sollte erkennen, dass in der Sache zählt, was gesagt wird – und nicht, wer es sagt.


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