Oops, sie haben es wieder getan: Ein alter weisser Mann hat öffentliche Kritik an überholten patriarchalen und rassistischen Machtstrukturen – oder: „Cancel Culture“ – mit einem Konzentrationslager verglichen. Auf die Frage von Moderator Yves Bossart, ob heute eine gewisse Toleranz für Widersprüche fehle, antwortete Schriftsteller Adolf Muschg in der SRF-Sendung Sternstunde Philosophie, dass man heutzutage für ein falsches Wort schon einen Stempel aufgedrückt bekomme. Menschen mit „Stempel“ kämen dann als Gesprächspartner nicht mehr infrage. „Das ist eine Form von Auschwitz“, so Muschg.
Was Muschg, der seinen Landsleuten einst mit seinem Text Wenn Auschwitz in der Schweiz liegt ihre Geschichtsvergessenheit vor Augen führte, zu dieser Aussage bewegte, bleibt unklar. Es scheint aber kein Missgeschick gewesen zu sein: Einen Tag nach dem Interview doppelte er im St. Galler Tagblatt nach.
Die Episode zeigt aber auf, wie widersprüchlich und schizophren der Vorwurf der vermeintlich überbordenden Cancel Culture ist: Einer der bedeutendsten Schriftsteller des Landes beklagt sich im öffentlich-rechtlichen Fernsehen darüber, dass Leute wegen gewissen Begriffen nicht mehr öffentlich sprechen dürfen – und bleibt in seinem antisemitischen Vergleich unwidersprochen. Seine Bücher werden auch in Zukunft verkauft und in der Schule gelesen, und die Arena-Redaktion arbeitet wohl bereits an einer Sondersendung zu „Cancel Culture ist Auschwitz – wirklich?“. Muschg bekam nach der Aussage zudem nicht etwa weniger, sondern mehr Aufmerksamkeit als davor.
Die vermeintliche Cancel Culture wird oft als kulturelles Phänomen beschrieben: Menschen, die sich in der Wortwahl vergreifen, würden kurzerhand mundtot gemacht, so die Kritik.
Doch dieses Phänomen existiert nicht.
Eher trifft das Gegenteil zu: Wer hierzulande auf den Tisch klopft und unverschämte Dinge von sich gibt, wird mit einem politischen Mandat belohnt. Etwa der SVP-Politiker Andreas Glarner, der trotz ständiger rassistischer Äusserungen im Parlament sitzt. Oder Roger Köppel, der vermutlich sogar dank der andauernden Tabubrüche in der Weltwoche zum Nationalrat gewählt wurde.
Das ewige Gedöns um Cancel Culture ist der pubertäre Reflex einer Generation von Politiker:innen, Künstler:innen und Medienschaffenden, die Kritik mit Zensur verwechseln, gerade wenn sie von marginalisierten Personen geäussert wird, die sich dank sozialer Medien erst seit Kurzem aktiv in den Diskurs einbringen können.
Wenn Cancel Culture tatsächlich so weit verbreitet ist wie behauptet, warum ist Roger Federer als Gesicht von Credit Suisse und Uniqlo weiterhin der beliebteste Schweizer? Wer cancelt endlich Gölä, diesen menschgewordenen Stammtisch? In einem Land, wo eine Rechtsaussenpartei konstant am meisten Stimmen einfährt, kann man nicht gerade von überbordender political correctness sprechen.
Oder anders: Hätte es vor siebzig Jahren ein bisschen mehr Cancel Culture gegeben, wären antisemitische Vergleiche heute nicht so weit verbreitet bei Coronaleugner:innen und aus der Zeit gefallenen Autor:innen.
Abgestempelt werden andere
Das heisst allerdings nicht, dass es keine „Stempel“ gibt, die Personen als Gesprächspartner:innen ausschliessen. Anders als es die Muschgs dieser Welt behaupten, tragen diesen Stempel jedoch Personen, die sich nicht in der Sternstunde Philosophie ausheulen können.
Denn: Freie Meinungsäusserung ist ein Menschenrecht, eine Stimme in der Öffentlichkeit aber ein Privileg.
Asylsuchende etwa sind der Willkür des Schweizer Asylsystems ausgeliefert: Wer keine kohärente und stilisierte Fluchtgeschichte erzählen kann, wird ausgeschafft. Arbeiter:innen, die sich gewerkschaftlich organisieren wollen, setzen sich trotz Kündigungsschutz dem Risiko aus entlassen zu werden. Denn die Schweiz hat trotz internationaler Verpflichtungen weiterhin keinen besonderen Schutz für Vertrauensleute von Gewerkschaften. Ausserdem haben Arbeiter:innen eine Treuepflicht gegenüber ihrem Arbeitgeber, die ihr Recht auf freie Meinungsäusserung einschränkt. Und Sans-Papiers haben überhaupt keine politische Sichtbarkeit oder Stimme. Ihr fehlender Aufenthaltsstatus ist ihre Verbannung aus dem öffentlichen Raum, sie sind gecancelt.
Cancel Culture ist ein Kampfbegriff jener, die ihre Deutungshoheit bedroht sehen. Das wehleidige Gebaren dieser Männer nervt, der mediale Diskurs darüber auch. Viel wichtiger ist die Erkenntnis, dass viele Menschen in diesem Land gar keine Stimme haben, für die sie gecancelt werden könnten.
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