Cancel Culture ist real

Autor Adolf Muschg vergleicht in der Stern­stunde Philo­so­phie eine vermeint­liche „Cancel Culture“ mit Ausch­witz. Das ist nicht nur anti­se­mi­tisch, sondern auch inhalts­leer: Gecan­celt wird zwar, aller­dings nicht Männer wie Muschg. 
Wird Adolf Muschg wirklich aus dem öffentlichen Diskurs verdrängt wegen seiner Aussage? Nein. Eher kriegt er jetzt noch mehr Sendezeit, findet unser Autor. (Foto: Michael Dziedzic / Unsplash)

Oops, sie haben es wieder getan: Ein alter weisser Mann hat öffent­liche Kritik an über­holten patri­ar­chalen und rassi­sti­schen Macht­struk­turen – oder: „Cancel Culture“ – mit einem Konzen­tra­ti­ons­lager vergli­chen. Auf die Frage von Mode­rator Yves Bossart, ob heute eine gewisse Tole­ranz für Wider­sprüche fehle, antwor­tete Schrift­steller Adolf Muschg in der SRF-Sendung Stern­stunde Philo­so­phie, dass man heut­zu­tage für ein falsches Wort schon einen Stempel aufge­drückt bekomme. Menschen mit „Stempel“ kämen dann als Gesprächs­partner nicht mehr infrage. „Das ist eine Form von Ausch­witz“, so Muschg.

Was Muschg, der seinen Lands­leuten einst mit seinem Text Wenn Ausch­witz in der Schweiz liegt ihre Geschichts­ver­ges­sen­heit vor Augen führte, zu dieser Aussage bewegte, bleibt unklar. Es scheint aber kein Miss­ge­schick gewesen zu sein: Einen Tag nach dem Inter­view doppelte er im St. Galler Tagblatt nach.

Die Episode zeigt aber auf, wie wider­sprüch­lich und schi­zo­phren der Vorwurf der vermeint­lich über­bor­denden Cancel Culture ist: Einer der bedeu­tend­sten Schrift­steller des Landes beklagt sich im öffent­lich-recht­li­chen Fern­sehen darüber, dass Leute wegen gewissen Begriffen nicht mehr öffent­lich spre­chen dürfen – und bleibt in seinem anti­se­mi­ti­schen Vergleich unwi­der­spro­chen. Seine Bücher werden auch in Zukunft verkauft und in der Schule gelesen, und die Arena-Redak­tion arbeitet wohl bereits an einer Sonder­sen­dung zu „Cancel Culture ist Ausch­witz – wirk­lich?“. Muschg bekam nach der Aussage zudem nicht etwa weniger, sondern mehr Aufmerk­sam­keit als davor.

Die vermeint­liche Cancel Culture wird oft als kultu­relles Phänomen beschrieben: Menschen, die sich in der Wort­wahl vergreifen, würden kurzer­hand mundtot gemacht, so die Kritik. 

Doch dieses Phänomen existiert nicht. 

Eher trifft das Gegen­teil zu: Wer hier­zu­lande auf den Tisch klopft und unver­schämte Dinge von sich gibt, wird mit einem poli­ti­schen Mandat belohnt. Etwa der SVP-Poli­tiker Andreas Glarner, der trotz stän­diger rassi­sti­scher Äusse­rungen im Parla­ment sitzt. Oder Roger Köppel, der vermut­lich sogar dank der andau­ernden Tabu­brüche in der Welt­woche zum Natio­nalrat gewählt wurde.

Das ewige Gedöns um Cancel Culture ist der puber­täre Reflex einer Gene­ra­tion von Politiker:innen, Künstler:innen und Medi­en­schaf­fenden, die Kritik mit Zensur verwech­seln, gerade wenn sie von margi­na­li­sierten Personen geäus­sert wird, die sich dank sozialer Medien erst seit Kurzem aktiv in den Diskurs einbringen können. 

Wenn Cancel Culture tatsäch­lich so weit verbreitet ist wie behauptet, warum ist Roger Federer als Gesicht von Credit Suisse und Uniqlo weiterhin der belieb­teste Schweizer? Wer cancelt endlich Gölä, diesen mensch­ge­wor­denen Stamm­tisch? In einem Land, wo eine Rechts­aus­sen­partei konstant am meisten Stimmen einfährt, kann man nicht gerade von über­bor­dender poli­tical correct­ness sprechen. 

Oder anders: Hätte es vor siebzig Jahren ein biss­chen mehr Cancel Culture gegeben, wären anti­se­mi­ti­sche Vergleiche heute nicht so weit verbreitet bei Coronaleugner:innen und aus der Zeit gefal­lenen Autor:innen. 

Abge­stem­pelt werden andere

Das heisst aller­dings nicht, dass es keine „Stempel“ gibt, die Personen als Gesprächspartner:innen ausschliessen. Anders als es die Muschgs dieser Welt behaupten, tragen diesen Stempel jedoch Personen, die sich nicht in der Stern­stunde Philo­so­phie ausheulen können. 

Denn: Freie Meinungs­äus­se­rung ist ein Menschen­recht, eine Stimme in der Öffent­lich­keit aber ein Privileg. 

Asyl­su­chende etwa sind der Willkür des Schweizer Asyl­sy­stems ausge­lie­fert: Wer keine kohä­rente und stili­sierte Flucht­ge­schichte erzählen kann, wird ausge­schafft. Arbeiter:innen, die sich gewerk­schaft­lich orga­ni­sieren wollen, setzen sich trotz Kündi­gungs­schutz dem Risiko aus entlassen zu werden. Denn die Schweiz hat trotz inter­na­tio­naler Verpflich­tungen weiterhin keinen beson­deren Schutz für Vertrau­ens­leute von Gewerk­schaften. Ausserdem haben Arbeiter:innen eine Treue­pflicht gegen­über ihrem Arbeit­geber, die ihr Recht auf freie Meinungs­äus­se­rung einschränkt. Und Sans-Papiers haben über­haupt keine poli­ti­sche Sicht­bar­keit oder Stimme. Ihr fehlender Aufent­halts­status ist ihre Verban­nung aus dem öffent­li­chen Raum, sie sind gecancelt. 

Cancel Culture ist ein Kampf­be­griff jener, die ihre Deutungs­ho­heit bedroht sehen. Das wehlei­dige Gebaren dieser Männer nervt, der mediale Diskurs darüber auch. Viel wich­tiger ist die Erkenntnis, dass viele Menschen in diesem Land gar keine Stimme haben, für die sie gecan­celt werden könnten. 


Jour­na­lismus kostet

Die Produk­tion dieses Arti­kels nahm 6 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 572 einnehmen.

Als Leser*in von das Lamm konsu­mierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demo­kratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produk­tion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rech­nung sieht so aus:

Soli­da­ri­sches Abo

Nur durch Abos erhalten wir finan­zi­elle Sicher­heit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unter­stützt du uns nach­haltig und machst Jour­na­lismus demo­kra­tisch zugäng­lich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.

Ihr unter­stützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorg­fältig recher­chierte Infor­ma­tionen, kritisch aufbe­reitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unab­hängig von ihren finan­zi­ellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Jour­na­lismus abseits von schnellen News und Click­bait erhalten.

In der kriselnden Medi­en­welt ist es ohnehin fast unmög­lich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkom­mer­ziell ausge­richtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugäng­lich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure soli­da­ri­schen Abos ange­wiesen. Unser Lohn ist unmit­telbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kriti­schen Jour­na­lismus für alle.

Ähnliche Artikel

Sie wollen Domi­nanz und Tradition

Trumps knappen Wahlsieg auf ökonomische Faktoren zurückzuführen, greift zu kurz. Die Linke muss der Realität ins Auge sehen, dass ein grosser Teil der Bevölkerung Trump nicht trotz, sondern wegen seines ethnonationalistischen Autoritarismus gewählt hat. Eine Antwort auf Balhorns Wahlkommentar.

Fick den Genderstern!

Die SVP betreibt mit der Genderstern-Initiative rechten Kulturkampf und will dem sogenannten ‚Woke-Wahnsinn‘ den Garaus machen. Sie können das Sonderzeichen gerne haben – vorausgesetzt, genderqueere Personen können ein sicheres Leben führen.